11

Chase kam langsam zu sich, ein widerlich süßer, rauchiger Gestank stieg ihm in die Nase und riss ihn aus einem tiefen, traumlosen Schlaf.

Seine Augen wollten sich nicht öffnen. Sein Körper war träge, er lag bäuchlings auf einer kalten, harten Oberfläche ausgestreckt, und seine Glieder fühlten sich wie Blei an. Er stöhnte, seine Kehle war völlig ausgedörrt und sein Mund trocken und wattig. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, ein Augenlid zu heben und in seine stinkende Umgebung zu spähen.

Er lag in einem alten Güterwaggon, der hier und da durchgerostet war, und durch die kleinen Löcher, die sich ins Metall gefressen hatten, drang von draußen gleißend helles Licht herein.

Tageslicht.

Lichtstrahlen fielen über seinem Kopf durch das durchgerostete Dach, das nur hier und da willkürlich mit Holzresten und Plastikplanen geflickt war. Nicht genug Schutz für ihn. Ein heller Sonnenfleck schien genau auf seinen nackten Handrücken und sengte ihm eine hässliche Brandwunde in die Haut – daher der Geruch, der ihn geweckt hatte.

»Scheiße.« Chase zog sich hoch und kroch hektisch auf allen vieren in eine schattige Ecke.

Da sah er, wo der andere üble Geruch im Güterwaggon herkam. Nahe der Stelle, wo er geschlafen hatte, lag ein toter Mensch. Sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt und gespenstisch weiß. Jemand hatte ihm den grünen Armeeparka von den Schultern gerissen, und seine Kehle war von Bisswunden übersät und an mehreren Stellen aufgerissen. In seiner Gier nach Nahrung hatte Chase den Mann praktisch zerfleischt.

Er erinnerte sich an seinen schrecklichen Durst. Er wusste noch, wie er in den von obdachlosen Junkies belegten Waggon geschlüpft war und wie sie beim Anblick seiner glühenden Augen und gebleckten Fänge schreiend davongerannt waren. Da hatte er sich den langsamsten der Gruppe geschnappt, das schwächste Tier der Herde gerissen.

Der große Mann hatte sich nach besten Kräften gewehrt, hatte aber keine Chance gehabt. Nichts hätte die tierhafte Gier stoppen können, die in Chase tobte, als er den Menschen auf den verdreckten Boden des Waggons geworfen und getrunken hatte.

Er hatte ihn ausgesaugt.

Ihn umgebracht.

Eine Welle der Scham überrollte Chase, als er sah, was er getan hatte. Er hatte eine Grenze überschritten, einen unabänderlichen Grundsatz der Stammesgesetze gebrochen. Er hatte gegen seinen eigenen Ehrenkodex verstoßen, an den er sich sein ganzes Leben lang so unerschütterlich geklammert hatte.

Und dann war da die Sache mit dem Orden. Er hatte sein Vertrauen verspielt. Als Dante und Kade ihn letzte Nacht entdeckt hatten und ihm in ihrer Besorgnis gefolgt waren, hatte er sich in den Schatten des alten Betriebsbahnhofs verkrochen wie Ungeziefer. Sie hatten gewusst, dass er da war, dass er seine Gabe einsetzte, um sich zu verstecken, und ihre Rufe absichtlich ignorierte. Wenn sie bisher noch an ihn geglaubt hatten, dann hatte er ihr Vertrauen in ihn endgültig zerstört, indem er sich geweigert hatte, ihnen entgegenzutreten.

Es tat ihm weh, sie auszuschließen, besonders Dante, aber es wäre noch schlimmer gewesen, sich vor einem seiner Brüder in diesem Zustand zu zeigen. Er hatte die ganze Nacht gejagt und schon einmal Nahrung zu sich genommen, aber sie hatte ihn nicht gesättigt. Sein Durst hatte ihn zum alten Industriegebiet am Flussufer getrieben, mitten in all das menschliche Elend, wo sich die Nutten und Junkies – Versager wie er selbst – herumtrieben. Sein Durst hatte keine Scham gekannt, nur noch Verlangen und Gier.

Und Chase spürte sie immer noch, obwohl er doch erst vor wenigen Stunden definitiv mehr getrunken hatte, als gut für ihn war.

Wütend starrte er den toten Menschen an, abgestoßen von seinem Anblick und Gestank. Er musste schleunigst hier raus. Während ihm schon wieder vor Hunger der Magen knurrte, zog Chase der Leiche den Mantel und dann das verblichene graue Sweatshirt und die ausgebeulten Jeans aus. Seine eigene Kleidung, die schwarzen Drillichhosen, die er trug, als er letzte Nacht das Hauptquartier des Ordens verlassen hatte, waren nach seinen ungezügelten Nahrungsaufnahmen blutgetränkt und ekelhaft. Er zog sie aus und zog die Sachen des Menschen an. Die Jeans und das Sweatshirt waren einem Angehörigen seiner Spezies eigentlich zu klein, und vermutlich waren sie nicht mehr gewaschen worden, seit ihr Vorbesitzer sie von der Heilsarmee bekommen hatte.

Aber das war Chase egal, solange er nur keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zog, indem er herumlief, als ob er jemanden ermordet hätte. Mit seinen ruinierten Sachen in einer Hand ging er zur Tür des Waggons hinüber, die einen Spalt geöffnet war. Er stieß sie weiter auf und starrte hinaus auf eine Szene, wie sie sich nur wenige Angehörige seiner Spezies freiwillig ansahen.

Gleißendes Sonnenlicht strahlte von einem hellblauen Morgenhimmel und glitzerte im dreckigen Schnee und gefrorenen Matsch des Betriebsbahnhofs. Trotz der Hässlichkeit seiner Umgebung war es ein Augenblick magischer Schönheit – zum ersten Mal die Sonne an einem kalten Morgen zu sehen, die dem Elend um ihn herum trotzte.

Sie trotzte sogar seinem brennenden Durst, sodass er innehielt und einfach nur diese wunderbare Welt betrachtete, in der er lebte und die ihm mit jedem heftigen Pulsschlag mehr entglitt.

Chase hob den Arm, um seine hochempfindlichen Augen von dem unglaublich grellen Licht abzuschirmen. Er sah zum Himmel auf und ließ sich von der ungewohnten wunderbaren Morgensonne das Gesicht wärmen.

Es begann zu brennen.

Schon bald begann die Sonne, ihn zu versengen.

Wie lange würde es dauern, bis sie ihn verzehrt hätte? Wohl etwa eine halbe Stunde, schätzte er und genoss das säureartige Brennen auf Wangen und Stirn. Dreißig Minuten, und es würde für ihn keinen Hunger mehr geben. Keine Scham mehr, keinen mühsamen Kampf mehr gegen den Abgrund, der so einladend, so gnädig dunkel und endlos schien.

Einen langen, qualvollen Augenblick dachte er ernsthaft darüber nach und fragte sich, ob seine Willenskraft stark genug dafür war.

Aber sogar hier versagte er.

Als sein Durst die Klauen tiefer in ihn schlug, sprang Chase von dem Güterwaggon auf den Boden. Er überquerte die Gleise und warf seine ruinierte Kriegermontur in den schwelenden Bauch einer rauchenden Mülltonne.

Dann schlich er sich schnell davon, um sich einen sicheren Ort zu suchen. Dort würde er auf den Abend warten, bis er endlich wieder auf die Jagd gehen konnte.

Sie waren in den frühen Morgenstunden in New Orleans angekommen und hatten sich ein Taxi vom Flughafen zu einem Hotel genommen, von dem Hunter annahm, dass es im Herzen des Touristenviertels lag. Der Straßenlärm und die Musik, die bis lange nach Sonnenaufgang zu ihrem Fenster im dritten Stock hinaufgedrungen waren, hatten ihn in ständiger Alarmbereitschaft gehalten, er lauschte wachsam auf das leiseste Anzeichen von Gefahr.

Nicht dass er die Absicht gehabt hatte, zu schlafen. Er brauchte so gut wie keinen Schlaf, höchstens eine oder zwei Stunden am Tag. So war er ausgebildet worden – sein Körper war rund um die Uhr einsatzbereit, sein Verstand ständig wachsam, um sofort reagieren zu können.

Corinne dagegen hatte nach ihrer Ankunft geschlafen wie eine Tote.

Er wusste, dass sie körperlich völlig erschöpft gewesen war. Auch ihre Psyche war völlig überstrapaziert. Aber auch wenn sie am liebsten in Tränen ausgebrochen und sich in unproduktivem Selbstmitleid gesuhlt hätte, hatte sie sich doch mit bemerkenswerter Kraft gehalten. Sie wirkte entschlossen, seit sie den Dunklen Hafen der Bishops verlassen hatten, sogar trotzig.

Sie hatte keine Einwände gehabt, als er ihr gesagt hatte, dass sie jetzt unter seinem Schutz stand, und auch kein unvernünftiges Getue veranstaltet, als er sie darüber informiert hatte, dass seine Mission für den Orden sie beide direkt auf feindliches Gebiet zu Henry Vachon führen würde, einem bekannten Verbündeten ihres Entführers und Folterers. Corinne schien fast begeistert von dem Gedanken, was wachsame Neugier in ihm weckte.

Jetzt lauschte er auf das Plätschern aus dem Badezimmer nebenan. Kurz nach Mittag war Corinne hineingegangen, um sich frisch zu machen, nachdem sie den ganzen Morgen geschlafen hatte, während er im dunklen Hotelzimmer hinter zugezogenen Vorhängen über Karten der Stadt und der Gemeinden im Umland grübelte.

Er hatte registriert, dass sie vergessen hatte, die Badezimmertür ganz zuzuziehen, und die letzten siebenunddreißig Minuten – so lange lag sie nun schon splitternackt in der Wanne – hatte er bewusst vermieden, den schmalen goldenen Lichtkeil anzusehen, der durch die Dunkelheit auf ihn fiel.

Stattdessen zwang er sich, sich auf die ausgebreiteten Karten zu konzentrieren, die er bei der Ankunft aus der Hotellobby mitgenommen hatte. Es waren vereinfachte Stadtpläne für Touristen, die offenbar nur die nächstgelegenen Restaurants, Bars und Jazzclubs finden wollten. In Kürze würde Hunter von Gideon weitere Informationen über Henry Vachon bekommen; so lange wollte er die Zeit sinnvoll nutzen und sich mit den diversen Straßen und Stadtbezirken vertraut machen, bis er nach Sonnenuntergang hinausgehen und sich Vachons Stadt selbst ansehen konnte.

Alles, nur um nicht ständig zu diesem Türspalt am anderen Ende des Raumes hinüberzusehen.

Sein Entschluss wurde auf die Probe gestellt, als er hörte, wie sie den Stöpsel herauszog und das Wasser in den Abfluss gurgelte. Ihre Haut quietschte am Porzellan, und ein Plätschern zeigte an, dass sie aus der Wanne gestiegen war. Er sah, wie ihr schlanker Arm sich nach einem dicken weißen Handtuch auf einer polierten Metallstange an der Wand ausstreckte, hörte das Knistern von Frottee, als sie sich abzutrocknen begann.

Hunter zwang sich, wieder auf seine Arbeit zu sehen, die vor ihm auf dem Couchtisch lag. Mit absoluter Konzentration studierte er den Ausschnitt des Stadtplans, wo sie gerade waren, entschlossen, sich das bunte Raster und die Straßennamen einzuprägen: Ihr Hotel lag in der historischen Altstadt, dem oberen French Quarter. Dieses Viertel umfasste die Blocks zwischen der Iberville Street und der St. Anne Street, war auf einer Seite von einer Straße namens North Rampart begrenzt und auf der anderen vom Mississippi …

Durch den offenen Türspalt erhaschte er im schwach erleuchteten Badezimmer einen Blick auf Corinnes nackten Oberschenkel. Das Handtuch wanderte tiefer, dann stellte sie den Fuß auf den geschlossenen Toilettendeckel und trocknete sich ihre schlanke Wade ab.

Die Hitze, die die in seinem Bauch aufgeflackert war, wanderte nun tiefer.

Hunter wollte wegsehen.

Das hatte er wirklich vor.

Aber dann bewegte sie sich wieder, und sein Blick fiel auf ihre kleine runde Brust. Die Brustwarze war dunkelrosa, ein verlockender Kontrast zu ihrer hellen, samtigen Haut. Er starrte sie fasziniert an, denn er hatte noch nie eine nackte Frauenbrust gesehen. In Film und Fernsehen, das schon, ab und an im Hauptquartier, aber keines dieser unnatürlich prallen, überdimensional aufgeblasenen Exemplare konnte es mit der zarten Perfektion von Corinnes nacktem Körper aufnehmen.

Er wollte mehr von ihr sehen; es schockierte ihn, wie sehr er sich das wünschte. Als er ihr zusah, wie sie sich durch sein schmales Blickfeld bewegte, stieg heftige Erregung in ihm auf. Seine Haut fühlte sich heiß und irgendwie zu eng an, spannte sich zu fest über seiner Brust und seinem Hals. Und weiter unten wurde die Anspannung jede Sekunde größer, sein Schwanz regte sich und wurde steif.

Er stieß ein leises Knurren aus, ob vor Schock oder Scham, wusste er selbst nicht. Er wollte diese Neugier, diese unwillkommene sexuelle Erregung nicht. Man hatte ihn ausgebildet – von Kindheit an gnadenlos gedrillt –, über solchen Grundbedürfnissen zu stehen.

Und doch konnte er seine Augen nicht von Corinne Bishop losreißen.

Selbst als er sich anders hinsetzen musste, weil seine Hose allmählich unerträglich eng wurde, starrte er hin und hoffte, einen längeren Blick zu erhaschen. Wünschte sich, dass sie kurz das große weiße Badetuch fallen ließ, sodass er seine Augen ganz an ihr weiden und die Neugier befriedigen konnte, die ihn mittlerweile dazu gebracht hatte, sich auf den Ellbogen zu stützen, um einen besseren Blickwinkel zu haben.

Seine Schläfen dröhnten fast so beharrlich wie das Pulsieren zwischen seinen Beinen. Wäre er nicht so gnadenlos erzogen worden, wäre er wohl versucht gewesen, mit der Hand über seinen fordernd pulsierenden Schwanz zu streichen und sich Erleichterung zu verschaffen. Stattdessen kämpfte er mehr schlecht als recht dagegen an.

In diesem Augenblick war er als Mann völlig auf sie konzentriert, und Corinne hätte bewusstlos sein müssen, um den Blick seiner hungrigen Augen nicht auf ihrem Körper zu spüren.

Vielleicht hatte sie wirklich etwas gespürt.

Plötzlich drehte sie sich um und ging vom Türspalt weg. Dabei glitt ihr das Badetuch aus der Hand, es fiel auf einer Seite zu Boden und entblößte ihren Rücken und die obere Rundung ihres herzförmigen Pos.

Er keuchte auf, ihm stockte der Atem. Nicht von der femininen Schönheit ihres Körpers, sondern von der Brutalität dessen, was man ihr angetan hatte.

Über ihren glatten Rücken zog sich ein Netz von feuerroten Narben, von den Schultern bis zum Po. Sie mussten von einer Peitsche stammen, und so schrecklich, wie ihre Haut an einigen Stellen zugerichtet war, wohl auch von einem Kettenstück. Hunter betrachtete sie mit dumpfer Faszination.

Was hatte man ihr alles angetan?

Wie tief hatte Dragos’ Grausamkeit sie verletzt?

All die Erregung, die er noch vor einem Augenblick gespürt hatte, verpuffte schlagartig beim Anblick dieser Narben. In diesem Augenblick spürte er, wie ihn ein schwer fassbares und unvertrautes Gefühl überkam, das tief aus seinem Inneren aufzusteigen schien, aus einem unbekannten Winkel seiner Seele, zu dem er schon lange keinen Zugang mehr hatte. Kummer darüber, was man ihr angetan hatte, überflutete ihn, zusammen mit heftiger Wut auf das Monster, das dafür verantwortlich war.

Er stieß einen Fluch aus, unfähig, seine Verachtung zu verbergen.

Corinnes Kopf fuhr herum, ihr nasses schwarzes Haar klatschte ihr gegen die nackten Schultern, als sie sich hastig mit dem Badetuch verhüllte. Durch den schmalen Türspalt trafen sich ihre Augen. Ihr Blick war unverwandt, herausfordernd und unendlich verletzt. Dass er ihre Narben gesehen hatte, musste sie mindestens so sehr verletzen wie die brutale Züchtigung selbst.

Hunter wandte den Blick ab und nahm sich wieder seine Karten vor.

Er wandte aus Respekt den Blick ab, aus einem Mitgefühl, von dem er bisher gar nicht gewusst hatte, dass er überhaupt dazu fähig war, und lauschte dem Geräusch von Corinnes nackten Füßen auf dem gefliesten Badezimmerboden, als sie jetzt ein paar Schritte ging.

Die Tür knarrte, als sie sie langsam schloss und verriegelte. Sie hatte ihn ausgesperrt.