24

Dante ging unruhig auf dem Korridor vor der Krankenstation des Hauptquartiers auf und ab und versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass seine schöne, tapfere Tess auf der anderen Seite der Tür gerade Höllenqualen ausstand. Sie hatte die ganze Nacht lang Wehen gehabt, bis jetzt in den Morgen hinein. Die Kontraktionen waren immer stärker geworden und kamen nun mit jeder verstreichenden Stunde in immer kürzeren Abständen.

Tess machte die ganze Sache wie ein Champion.

Dafür dachte er jedes Mal, wenn er sie unter dem Ansturm der neuesten Wehe stöhnen hörte, er würde gleich in Ohnmacht fallen.

Weshalb er es vor einer kurzen Weile schließlich für besser gehalten hatte, auf den Korridor hinauszugehen. Das Allerletzte, was Tess jetzt brauchte, war ein Gefährte, der an ihrem Bett weiß wie ein Laken wurde und umkippte.

Durch ihre Blutsverbindung spürte er Tess’ Schmerzen wie seine eigenen. Er wünschte sich so sehr, ihr das alles abnehmen zu können. Schmerzen waren kein Problem für ihn. Es war vielmehr der Gedanke, dass die Frau, die er liebte, solche Qualen ausstand, der ihn fast dazu brachte, entweder etwas kaputtzuschlagen oder in die Ecke zu kotzen. Aber er spürte auch, wie stark Tess war, und staunte über die Zähigkeit, die schlichtweg wunderbare Kraft der Frauen, die seiner Gefährtin die Ausdauer gab, sich durch ihre Erschöpfung und diese langen Qualen zu kämpfen, die nötig waren, um ihr Kind auf die Welt zu bringen.

Er spähte durch das kleine Sichtfenster ins Krankenzimmer. Gabrielle und Elise standen rechts und links an ihrem Bett, sie waren vor einigen Stunden gekommen und wechselten sich dabei ab, Tess die Hand zu halten, ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn zu wischen und ihr Eiswürfel zum Lutschen zu geben, als sich die Geburt scheinbar endlos dahinzog. Gideon überwachte ihre Vitalfunktionen – er hatte Dante feierlich geschworen, dass er es mit geschlossenen Augen machen würde, um nicht mehr von Tess zu sehen, als Dante lieb war.

Aber die Beste im Team war Savannah, die Hebamme. Dass sie aus einer Hebammendynastie stammte, gab Dante die nötige Zuversicht, dass alles auch wirklich gut gehen würde. Zumindest hoffte er das inständig.

In der Zwischenzeit kam er sich verdammt hilflos vor.

Wieder ging er einmal den Korridor auf und ab und fragte sich, wo zum Teufel Harvard steckte, wenn man ihn brauchte.

Wenn Chase jetzt hier gewesen wäre und mit ansehen würde, wie Dante im Korridor herumspukte wie ein Geist, hätte er ihm eine ordentliche Standpauke gehalten. Er hätte Dante die Leviten gelesen, dass er so ein Weichei war, und ihn womöglich mit einem Tritt zurück ins Krankenzimmer befördert.

Scheiße. Dante vermisste den großmäuligen Krieger wirklich, der seit über einem Jahr sein bester Freund im Orden gewesen war.

Ex-Krieger und ehemaliger Freund, verbesserte er sich in Gedanken, immer noch stinksauer wegen dieser ganzen beschissenen Situation. Da half auch nicht, dass Chase letzte Nacht angerufen hatte, um ihnen zu sagen, dass er Lucans ausdrücklichem Befehl zuwidergehandelt und Murdock alleine zur Strecke gebracht hatte.

Und wozu? Außer dass er vage erwähnt hatte, dass Dragos möglicherweise an einem Bostoner Politiker interessiert war, hatte Chase aus dem Bastard nur herausbekommen, dass Dragos versuchte, das Hauptquartier zu orten. Eben die News von gestern.

Nach dem, was Tegan den anderen über sein kurzes Gespräch mit Chase erzählt hatte, klang es nicht so, als ob er bald wieder von sich hören lassen würde – wenn überhaupt. Tegan war der Ansicht, dass sich Chase auf einem steilen Abwärtskurs befand. Er hatte das Wort »Rogue« erwähnt, was weder Dante noch die anderen Krieger akzeptieren wollten, dem sie aber auch nicht wirklich widersprechen konnten.

Wieder ging Dante im Korridor auf und ab, fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar und stieß einen leisen Fluch aus. Er sollte sich besser an den Gedanken gewöhnen, dass Harvard nicht mehr zum Orden gehörte. Er war kein Teil ihres Lebens mehr.

Dante hätte sich am liebsten in den Hintern getreten bei der Erinnerung an die Diskussion mit Tess neulich, als es um Chase als möglichen Paten ihres Sohnes ging. Er hatte sich den Mund fusselig reden müssen, um sie zu überzeugen, dass auf Chase in einer so wichtigen Sache wirklich Verlass war, und dann war der Bastard einfach abgehauen, und er stand wie ein Vollidiot da.

Tess hatte diesbezüglich definitiv die besseren Instinkte gehabt. Gideon war über ihre Bitte überrascht und erfreut gewesen, und sowohl er als auch Savannah hatten die Verantwortung mit Freude und Überzeugung angenommen. Wenn Dante und Tess etwas passieren sollte, konnten sie sich keine besseren Ersatzeltern für ihren Sohn wünschen.

Beruhigt von diesem Gedanken sah Dante auf.

Eben streckte Elise ihren blonden Kopf aus der Tür der Krankenstation. »Es ist so weit«, sagte sie, und ihre blassvioletten Augen strahlten. »Das Baby ist jetzt fast da, Dante.«

Sofort rannte er ins Zimmer, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er stellte sich ganz nah zu seiner Stammesgefährtin, nahm ihre Hand und drückte ihr einen hingebungsvollen Kuss in die feuchte Handfläche. »Tess«, flüsterte er mit belegter Stimme, Freude und Sorge schnürten ihm die Kehle zu. »Wie geht’s dir, mein Engel?«

Sie setzte zu einer Antwort an, aber dann verzog sie heftig ihr Gesicht, und ihre Hand packte seine so fest wie ein Schraubstock. Savannah sagte ruhig zu ihr, sie solle pressen, es sei fast geschafft. Tess zog sich am Krankenhausbett hoch und stieß ein markerschütterndes Heulen aus, und Dante wurden die Knie weich. Aber er riss sich zusammen. Schlimm genug, dass er die letzte Stunde damit verbracht hatte, die Korridorwände anzustarren; jetzt würde er Tess keine Sekunde mehr von der Seite weichen.

Die Presswehen zogen sich über quälend lange Minuten hin, dann wies Savannah Tess an, sich wieder hinzulegen und zu entspannen. Keuchend sah sie zu Dante auf, die Stirn von Schweißperlen bedeckt. Er wischte sie mit dem Tuch weg, das Gabrielle ihm gegeben hatte, und drückte seiner wunderschönen Gefährtin einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

»Hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich liebe?«, murmelte er und sah ihr in die ultramarinblauen Augen. »Du bist Wahnsinn, Tess, so wahnsinnig tapfer. Du wirst unserem Baby eine wunderbare Mutt…«

Sie bleckte die Lippen, ein weiteres Heulen explodierte aus ihrer Kehle und übertönte ihn. Dante spürte, wie eine gewaltige, sengende Schmerzwelle durch Tess’ zierlichen Körper schoss, schlimmer als alle zuvor. Das waren Höllenqualen, und er beschloss, sich jeden Gedanken an ein weiteres Baby abzuschminken, denn so etwas wollte er ihr nie wieder zumuten.

»Okay, Leute«, sagte Savannah, ihre Stimme so beruhigend wie Balsam. »Fast geschafft. Noch einmal pressen, Tess, er ist fast da.«

Dante beugte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr Dinge zu, die nur für ihre Ohren bestimmt waren. Er ermunterte und lobte sie dafür, was sie ihm heute Nacht schenkte, und schwor ihr seine Liebe, die so unendlich war, dass er sie auch nicht annähernd in Worte fassen konnte.

Er hielt ihre Hand, als sie die letzte Wehe durchstand, und schrie vor Freude auf, als endlich sein Sohn zum Vorschein kam, ein winziges, rosafarbenes, schreiendes, strampelndes Bündelchen, das Savannah mit erfahrenen Händen in die Höhe hielt.

Und er weinte ohne Scham, als er Tess im nächsten Augenblick in die schönen, euphorischen Augen sah und sie mit jeder Faser seines Herzens liebte.

Er beugte sich hinunter und küsste seine Stammesgefährtin, zog sie in seine Arme und teilte die Euphorie dieses Augenblicks mit ihr, der inmitten von so viel Umwälzungen und Kampf nur umso kostbarer war.

Nach ein paar Minuten kam Savannah mit dem unglaublich kleinen Bündel wieder, das ihr neugeborener Sohn war. »Du kannst sicher kaum erwarten, ihn zu halten«, sagte sie und legte Tess das Baby in die Arme. »Ein schönes Kind, ihr beiden. Absolut perfekt, in jeder Hinsicht.«

Tess begann wieder zu weinen, berührte zärtlich die winzigen Wangen des Babys und das rosige kleine Mündchen. Dante betrachtete staunend sein Kind und die Frau, die ihm dieses Wunder gegeben hatte, genauso kostbar für ihn wie das unglaubliche Geschenk ihrer Liebe. Er strich ihr eine feuchte blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich danke dir«, sagte er leise zu ihr. »Danke, dass du mein Leben so vollkommen machst.«

»Ich liebe dich«, antwortete sie, hob seine Hand an die Lippen und küsste ihn mitten auf die breite Handfläche. »Willst du deinem Sohn nicht Hallo sagen?«

»Unserem Sohn«, sagte er.

Tess nickte, so stolz und schön, und er nahm das kleine Bündel in die Arme. Der Säugling war winzig in seinen riesigen Händen. Dante kam sich ungeschickt vor, versuchte unbeholfen, eine angenehme Position für ihn in seinen viel zu großen Armen zu finden. Endlich hatte er heraus, wie er ihn halten musste, und gab sich die größte Mühe, alles richtig zu machen. Tess lächelte zu ihm auf, und ihre Freude strömte ihm mit seinem eigenen Glücksgefühl durch die Adern.

Gott, sein Herz war so voll, dass es fast explodierte.

Dante sah auf das rosige Gesichtchen ihres Kindes hinunter. »Willkommen auf der Welt, Xander Raphael.«

Am selben Morgen stand Corinne neben dem Bett und beobachtete den schlafenden Hunter. Er lag nackt auf dem Bauch, den riesenhaften Körper mit der wunderschönen glyphenbedeckten Haut und den mächtigen Muskeln auf dem Bett ausgestreckt, schlief wie ein Toter und schnarchte leise.

Es war eine unglaubliche Nacht mit ihm gewesen, und nie hatte sie sich zufriedener gefühlt als in seinen Armen, nachdem sie sich geliebt hatten.

Aber diese Nacht war schon seit einer geraumen Weile vorbei, und außer in den wenigen Stunden, die sie es geschafft hatte, die Augen zuzumachen und ein wenig zu schlafen, kreisten all ihre Gedanken nur um eine einzige Sache: So schnell wie möglich ihren Sohn zu finden.

Dieses Bedürfnis war es, das sie schon vor Sonnenaufgang aus dem Bett getrieben hatte. Sie war aus Hunters Armen geschlüpft und nach draußen in den Sumpf gegangen, um den Laster zu suchen, den er nach seiner Rückkehr von Henry Vachon dort abgestellt hatte. Sie hatte Glück gehabt, der weiße Kastenwagen hinter Amelies Haus am Fluss war nicht abgeschlossen. Corinne war hineingeklettert und hatte fast eine Stunde damit verbracht, die Aktenberge und Fotos aus dem aufgebrochenen Safe durchzusehen.

Dragos’ Laborberichte, das Dokumentationsmaterial von Jahrzehnten.

Sie hatte jede einzelne Akte durchgeblättert auf der Suche nach irgendetwas, das ihr Aufschluss über das Schicksal ihres Sohnes und der anderen Säuglinge geben konnte, die im Labor zur Welt gekommen waren. Sie hatte medizinische Diagramme und Testergebnisse gefunden, Tausende Seiten von Abkürzungen und Fachbegriffen, die ihr rein gar nichts sagten. Und was alles noch schwieriger machte: Keine dieser Akten enthielt irgendwelche Namen. Wie ein herzloses Inventar enthielten Dragos’ Aufzeichnungen nur Fallnummern, Kontrollgruppen und trockene Statistik.

All diejenigen, deren Leben er im höllischen Wahnsinn seines Labors ruiniert hatte, bedeuteten ihm gar nichts.

Noch weniger als nichts.

In einem hilflosen Wutanfall hatte sich Corinne durch die restlichen Aktenstapel gegraben, am liebsten hätte sie das ganze verdammte Zeug in winzige Fetzen gerissen. Und dann, fast am Boden des Safes angekommen, streiften ihre Finger das glatte Leder eines Aktenkoffers. Sie hatte ihn herausgezogen, sich den Inhalt in den Schoß geleert und durchgeblättert, auf der Suche nach selbst dem winzigsten Hoffnungsschimmer.

Die handgeschriebenen Einträge waren ebenfalls unpersönliche Inventarlisten wie die anderen Akten. Nur war etwas an ihnen anders. Etwas, das die feinen Härchen in Corinnes Nacken sich vor Argwohn aufstellen ließ … das bald zu einer schrecklichen Gewissheit wurde.

Mit dem ledernen Aktenkoffer in den Händen näherte sie sich dem Bett, wo Hunter eben wach wurde. Er musste ihre Anwesenheit im stillen Schlafzimmer gespürt haben, sein Kopf schoss vom Kissen auf, und er öffnete die durchdringenden goldenen Augen.

Er sah, dass sie angezogen war und immer noch heftig atmete, denn sie war den ganzen Weg zu Amelies Haus gerannt. »Was ist los?«, fragte er stirnrunzelnd. »Wo kommst du her?«

Sie konnte ihm die Wahrheit nicht länger verheimlichen, nicht nach ihrer gemeinsamen Nacht. Das war sie ihm schuldig – sie schuldete ihm ihr Vertrauen.

»Ich musste es wissen«, sagte sie leise. »Ich konnte nicht schlafen. Ich konnte nicht untätig in deinen Armen liegen und wissen, dass Dragos’ Akten hier in der Nähe waren.«

»Du hast das Haus verlassen, ohne mir etwas zu sagen?« Hunter setzte sich auf, rutschte zum Bettrand und schwang seine riesigen nackten Füße auf den Boden. Jetzt runzelte er nicht mehr nur die Stirn, sondern machte ein ausgesprochen finsteres Gesicht. »Du kannst nirgends hingehen, ohne dass ich dabei bin und dich beschütze, Corinne. Es ist jetzt nicht sicher für dich, nicht mal am Tag …«

»Ich musste es wissen«, wiederholte sie. »Ich musste nachsehen, ob ich da irgendetwas finde, das mir hilft, ihn zu finden …«

Ein düsterer Ausdruck flackerte über Hunters hartes, gut aussehendes Gesicht. Es wirkte wie Angst, wie grimmige Erwartung. Mit gerunzelter Stirn sah er zu dem großen Aktenkoffer in ihren Händen.

Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Als er nicht sofort etwas sagte, schluckte sie heftig und zwang sich, die Worte auszusprechen. »Ich musste wissen, ob die Akten, die du Henry Vachon abgenommen hast, Informationen enthalten, die mich zu meinem Kind führen können, das ich in Dragos’ Labor geboren habe.«

Hunter starrte sie an, dann wandte er den Blick ab. Er stieß einen deftigen Fluch aus und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Du hast einen Sohn.«

Und obwohl seine Stimme ruhig war und weder Wut noch sonst eine Emotion darin lag, klang sie anklagend.

»Ja«, sagte sie. Jetzt sah er sie nicht mehr an. Eine seltsame Kluft begann sich zwischen ihnen auszubreiten und wurde jede Minute größer. »Ich wollte es dir sagen, Hunter. Ich wollte es dir schon früher sagen, aber ich hatte Angst. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden, wem ich vertrauen konnte.«

Die emotionale Distanz zwischen ihnen genügte ihm offenbar nicht. Er stand vom Bett auf und ging nackt zur anderen Seite des Zimmers hinüber, brachte so viel räumliche Distanz zwischen sie wie nur möglich.

»Dieses Kind«, sagte er und warf ihr einen finsteren Blick zu. »Er ist Gen Eins wie ich? Gezeugt vom Ältesten, mit dem Dragos seine kranken Experimente gemacht hat?«

Corinne nickte, ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Von allem, was sie mir in der Gefangenschaft angetan haben, war das Schlimmste, dass sie mir mein Baby weggenommen haben. Ich habe den Jungen nur kurz gesehen, gleich nach seiner Geburt, und dann war er fort. Das Einzige, was mich in dieser ganzen schrecklichen Zeit am Leben gehalten hat, war der Gedanke an ihn. Ich hätte nicht einmal zu träumen gewagt, dass ich jemals befreit werden würde. Nach meiner Rettung habe ich mir geschworen, dass ich bis zum letzten Atemzug darum kämpfen werde, meinen Sohn wiederzufinden.«

»Das ist ein Versprechen, das du nicht wirklich halten kannst, Corinne. Dein Sohn ist fort. Er war fort von dem Augenblick an, als Dragos ihn dir aus den Armen nahm.«

Das wollte sie nicht hören, und sie würde sich auch nicht damit abfinden. »Wenn er tot wäre, würde ich es wissen. Das Herz einer Mutter schlägt neun Monate lang zusammen mit dem ihres Kindes, Tag und Nacht. Und tief in meinem Herzen spüre ich, dass das Herz meines Sohnes immer noch schlägt.«

Hunter stieß einen heftigen Fluch aus und sah sie jetzt nicht einmal mehr an.

Sie redete weiter, entschlossen, sich ihm zu erklären. »Ich habe versucht, die Jahre zu zählen, aber es war schwierig. Soweit ich das schätzen konnte, dürfte mein Sohn jetzt etwa dreizehn sein. Er ist noch ein kleiner Junge …«

»Inzwischen ist er ein Killer, Corinne.« Hunters tiefe Stimme zitterte und erschreckte sie mit einer Wut, die sie weder erwartet hatte noch deuten konnte. Sein Gesicht war angespannt, seine Haut straff über seinen scharfen Wangenknochen, und er biss die Zähne zusammen. »Wir waren nie kleine Jungen, keiner von uns. Verstehst du? Wenn dein Sohn noch am Leben ist, ist er ein Killer wie ich. Mit dreizehn war ich fertig ausgebildet und im Töten erfahren. Du kannst nicht erwarten, dass es für ihn anders war.«

Bei diesen barschen Worten spürte sie einen scharfen Schmerz in der Brust. »Das muss es aber. Ich muss glauben, dass ich ihn finden werde, wenn er noch lebt – und in meinem Herzen weiß ich, dass es so ist. Ich werde ihn beschützen, so, wie ich es am Tag seiner Geburt nicht konnte.«

Hunter wandte sich schweigend von ihr ab und schüttelte langsam den Kopf. Corinne stellte den ledernen Aktenkoffer ab, ging zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. Die Dermaglyphen unter ihrer Handfläche pulsierten heiß von seiner Wut, aber sie bemerkte, wie die stürmischen Farben unter ihrer Berührung blasser wurden. Sein Körper reagierte auf sie, selbst wenn er entschlossen schien, sie abzublocken.

»Ich muss mein Kind finden, Hunter. Ich muss ihn sehen und berühren, damit er weiß, dass ich ihn liebe. Jetzt, wo ich frei bin, muss ich ihn finden. Ich will ein besseres Leben für ihn und werde alles dafür tun.« Sie ging um ihn herum und stellte sich vor ihn, zwang ihn, sie anzusehen. »Hunter, ich muss mich wieder an den Tag erinnern, an dem mein Sohn geboren wurde. Vielleicht haben Dragos oder seine Lakaien irgendetwas gesagt oder getan, das mich zu meinem Kind führen könnte. Vielleicht ist da noch etwas in meinen Erinnerungen verborgen. Du musst mir helfen.«

Hunters Gesicht wurde noch angespannter, als ihm aufging, worum sie ihn bat. Er packte ihre Hand und zog sie mit einem geknurrten Fluch von seiner Schulter. »Ich soll dir helfen? Weißt du, was das bedeuten würde?«

»Ja«, gab sie zu. »Und ich weiß, dass ich zu viel von dir verlange. Aber ich bitte dich darum, weil du momentan meine einzige Hoffnung bist. Wahrscheinlich bist du die einzige Hoffnung, die ich habe.«

Er starrte sie an, ob ungläubig oder angewidert, konnte sie nicht sagen. Seine Augen glühten bernsteingelb, aber davon ließ sie sich nicht abschrecken. Das konnte sie nicht. Nicht jetzt, wo sie doch so kurz davor war, die Antworten zu finden, die sie so verzweifelt suchte.

»Hunter, bitte«, flüsterte sie. »Bitte trink von mir.«