15

Sie stürmten durch die Hintertür; Hunter hatte nur ein Ziel vor Augen – Corinne Bishop in Sicherheit zu bringen. Als sich die Stahltür auf die Gasse hinter dem Lokal öffnete, stürzten zwei dort postierte Stammesvampire in den Anzügen der Agentur auf sie zu.

Zu spät.

Hunter hatte mit einem Blick festgestellt, dass sie keine Gefahr für ihn waren, noch bevor der erste dazu kam, nach der Waffe in seinem Gürtelholster zu greifen. Hunter ließ Corinnes Hand los, packte den ersten Mann am Kopf und riss ihn ruckartig herum. Seine Halswirbel knackten wie gedämpfte Schüsse, und er fiel leblos zu Boden.

Den zweiten hatte er genauso schnell erledigt.

Hunter sah sich zu Corinne um, die hinter ihm stand und vor Schreck zur Salzsäule erstarrt war. »Komm«, sagte er. »Wir haben nicht viel Zeit.«

Sie rannten durch ein labyrinthartiges Gewirr schmaler Gassen, und Hunter zog sein Handy aus der Hosentasche, rief in Boston an und gab Gideon ein Update durch.

»Scheiße«, murmelte der Krieger am anderen Ende. »Wenn Dragos schon so unruhig ist, dass er seine Killer bis nach New Orleans runterschickt, ist wohl davon auszugehen, dass seine Verbindung zu Vachon immer noch aktiv ist.«

»Und seine Verbindung zu Bishop«, antwortete Hunter, als er und Corinne gerade in einer besonders seltsamen Gasse an einem Voodoo-Laden vorbeirannten, wo es Hühnerfüße und andere Teile von toten Tieren zu kaufen gab. »Bishop nehme ich mir später noch mal vor.«

Gideon stieß heftig den Atem aus. »Brauchst du nicht, mein Alter. Victor Bishop wurde diesen Nachmittag in seinem Dunklen Hafen getötet. Laut Bericht der Detroiter Agentur von heute hat er seine Stammesgefährtin angegriffen und wäre wohl auch noch weiter gegangen, wenn nicht einer seiner eigenen Sicherheitsleute ihn daran gehindert hätte.«

»Wer hat ihn getötet?«

»Ein Typ namens Mason, laut Bericht.«

Hunter quittierte es mit einem Grunzlaut und erinnerte sich daran, wie wachsam der Mann bei ihrer Ankunft am Tor gewesen war. Er sah zu Corinne hinüber, die nur mühsam mit ihm Schritt hielt, und merkte, dass sie begriffen hatte, denn sie war ganz blass geworden. Wenigstens hatte Victor Bishop sie zum allerletzten Mal verletzt. Ein unvernünftiger Teil von ihm wünschte sich, den verräterischen Bastard mit eigenen Händen getötet zu haben, für alles, was er ihr angetan hatte. »Wir brauchen ein Versteck«, sagte er zu Gideon.

»Ihr seid nicht im Hotel?«

»Nein. Und die Karten und Waffen habe ich im Zimmer gelassen.«

»Na, die kannst du jetzt vergessen. Dahin könnt ihr nicht zurück, mein Alter. Viel zu riskant.«

Eine logische Schlussfolgerung, dachte Hunter. Wenn Dragos’ Männer die Stadt nach ihnen durchkämmten, war davon auszugehen, dass sie auch die Hotels der Gegend überprüfen würden.

»Hör mal«, sagte Gideon. »Du hast bei Vachon gerade deinen Überraschungsvorteil verloren. Lucan steht hier neben mir, und er sieht das auch so. Diese Mission jetzt im Alleingang weiterzuführen ist zu riskant. Außerdem hast du noch die Frau dabei, an die du denken musst. Lucan sagt, Mission abbrechen, geht zum Flugzeug zurück. Ich bin gerade dabei, euch die Starterlaubnis zu besorgen, damit ich euch da schleunigst rausbekomme.«

Hunter spürte, dass ihm eine Widerrede auf der Zunge lag. Das fühlte sich seltsam an – er war doch erzogen, Befehle auszuführen und nie zu hinterfragen. Aber ein Teil von ihm wollte das hier zu Ende bringen – wollte, dass Henry Vachon und Dragos ihre Strafe dafür bekamen, was sie Corinne und all den anderen angetan hatten. Es war ein Jammer, diese Spur kalt werden zu lassen, nur weil er einen taktischen Vorteil verloren hatte.

Aber bevor er das seinen Brüdern in Boston sagen konnte, meldete sich Gideon wieder. »Ich habe gerade mit den Piloten gesprochen, sie tanken auf und machen sich startklar. Wie weit seid ihr vom Flughafen weg?«

Hunter rannte mit Corinne aus der Gasse und fand sich in einer Straße wieder, die er erkannte und die zu einer der Hauptstraßen des French Quarter führte. »Wir sind noch zu Fuß unterwegs, aber mit dem Wagen brauchen wir höchstens zwanzig Minuten.«

»Na, dann nix wie hin«, sagte Gideon. »Melde dich, sobald ihr in der Luft seid. Dann finden wir einen Ort, wo ihr beiden unterkommen könnt, bis der Sturm hier oben sich wieder etwas gelegt hat. Wir können jetzt weiß Gott nicht riskieren, noch einen Mann zu verlieren.«

»Noch einen?« Die Bemerkung überrumpelte ihn. Ein Gefühl der Kälte breitete sich in seinem Magen aus beim Gedanken, einen seiner Brüder verloren zu haben. »Ist etwa einer tot?«

»Scheiße, du weißt es ja noch gar nicht. Es ist Harvard. Er ist weg – abgehauen noch in der Nacht, bevor du nach Detroit geflogen bist, und seither ist er wie vom Erdboden verschluckt. Dante und Kade haben unten am Fluss in Southie sein Handy gefunden. So wie es aussieht, hat Chase uns den Laufpass gegeben und hat nicht vor zurückzukommen.« Einen Augenblick schwieg Gideon nachdenklich. »Du hast gefragt, ob einer von uns gestorben ist? Ich sag dir was, genauso fühlt es sich an. Das Einzige, was noch schlimmer wird, ist, wenn irgendwann einer von der Patrouille zurückkommt und sagt, dass er einen Rogue eingeäschert hat und sich rausstellt, dass es Harvard war.«

»Ich hoffe, das wird nie passieren«, sagte Hunter, selbst verblüfft, wie ernst es ihm war.

»Du und wir alle hier auf der Ranch«, antwortete Gideon. »Und jetzt hoffen wir mal, dass es sonst keinen Ärger mehr gibt, okay? Also ab mit euch zum Flughafen, aber pronto. Melde dich, sobald ihr in Sicherheit seid.«

»Alles klar«, antwortete Hunter grimmig.

Er ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten und rannte mit Corinne los, um sich ein Transportmittel zu besorgen, das sie aus der Stadt bringen würde.

Er bemerkte die Menschen nicht, bis sie ihn fast erreicht hatten.

Chase hatte den Kopf gesenkt und den Mund am Hals einer Blutwirtin, der er vor ein paar Minuten aus einem Drogenschuppen in der übelsten Gegend der Stadt gefolgt war. Jetzt stieß er ein irritiertes Grunzen aus, als die Scheinwerfer des näher kommenden Fahrzeuges über die Ziegelwände der schmalen Seitenstraße glitten, wo er über seiner Beute kauerte.

Der Streifenwagen schlich sich im Schritttempo zwischen den alten Mietskasernen heran, und auf halber Höhe wurde der seitlich montierte Suchscheinwerfer eingeschaltet.

Chase duckte sich und zog den schlaffen Körper seiner Blutwirtin tiefer in die Schatten des Müllcontainers, der ihn nur so lange verbergen würde, bis die Cops unmittelbar davorstanden. Die Blondine stöhnte, ob von dem Lustgefühl, als er an ihrer Halsschlagader saugte, oder dem Kokainrausch, der ihrem Blut einen widerlich süßen Nachgeschmack verlieh, konnte er nicht sagen. Sie wollte sich bewegen, aber er hielt sie nieder. Noch war er nicht völlig gesättigt, obwohl er wusste, dass er bereits mehr getrunken hatte, als gut für ihn war.

Er trank gierig, und der Streifenwagen kam langsam immer näher auf ihn zu.

Ein letzter Rest seines Verstandes riet ihm, schleunigst seine übernatürliche Gabe einzusetzen und die Schatten herbeizurufen. Er griff mit seinem Geist nach den Schatten aus und versuchte, sie mit seinem Willen zu lenken und die Dunkelheit um sich zu sammeln, um sich vor der Gefahr zu verbergen. Jetzt waren die Polizisten nur noch Sekunden davon entfernt, ihn mit ihrem widerlichen Suchscheinwerfer zu erfassen.

Chase rief die Schatten herbei, aber er schaffte es nicht mehr. Die Schatten waren schwach und flackerten – an und aus, an und aus –, und länger als ein paar Sekunden konnte er sie nicht mehr halten.

Er fauchte frustriert.

Wie lange würde es noch dauern, bis er seine Fähigkeit ganz verloren hatte? Er hatte gesehen, welche Auswirkungen die Blutgier auf andere hatte, er kannte ihre zerstörerische Macht. Die Sucht würde seine angeborene Stammesgabe, dann seinen Verstand, seine Menschlichkeit und schließlich seine Seele zersetzen.

Der Gedanke drang durch den Stumpfsinn seiner Gier, so bitter wie das drogenhaltige Blut, das ihm die Kehle hinabschoss. Mit einem Knurren riss er den Mund von der Wunde los und leckte darüber, um sie zu schließen, angewidert von sich selbst und der Frau, die er vermutlich völlig ausgesaugt hätte, wenn dieser Streifenwagen ihn nicht unterbrochen hätte.

Er schleifte ihren fast leblosen Körper tiefer hinter den großen Müllcontainer. In ein paar Minuten würde sie wieder zu sich kommen und sich an nichts erinnern. Sie würde ihre seltsame Lethargie abschütteln und aufstehen, um zu ihrer Sucht zurückzukehren, die sie überhaupt in diese verkommene Gegend geführt hatte.

Und er?

Chase grunzte, sein Kopf summte immer noch, als er in der dreckigen Gasse kauerte und sich das Blut vom Kinn wischte. So langsam, wie dieser Streifenwagen heranschlich, war er gezwungen, länger hinter dem Müllcontainer zu bleiben, als ihm lieb war. Er wartete und beobachtete wachsam, wie der Wagen mit kreischenden Bremsen genau vor der Stelle anhielt, wo er kauerte. Die Sirene heulte kurz auf, und dann wurde das Blaulicht eingeschaltet und tauchte die Gasse in ein pulsierendes Licht. Eine der Wagentüren öffnete sich und wurde mit einem leisen Rumms wieder geschlossen.

»Ist dahinten wer?« Eine selbstbewusste, amtliche Stimme mit starkem Bostoner Akzent. Harte Stiefelsohlen knirschten auf dem überfrorenen Asphalt. Ein knisterndes statisches Rauschen drang aus dem Funkgerät, als sich der Mann näherte. »Rumlungern ist hier draußen verboten, besonders für euch degenerierte Junkies.« Wieder einen Schritt näher. Noch zwei, und der Mann würde direkt vor ihm stehen. »Pack deinen verdammten Junkiearsch hier weg, aber dalli, sonst nehmen wir dich mit auf die Wa…«

Chase sprang aus seinem Versteck wie ein Wesen aus einem Albtraum.

Mit einem riesigen Satz schwang er sich in die Luft und über den Kopf des verwirrten Cops hinweg. Wie eine Katze landete er auf der Kühlerhaube des geparkten Streifenwagens, dann stieß er sich genauso geschmeidig ab und raste zu Fuß davon, bevor die beiden wackeren Gesetzeshüter auch nur registrieren konnten, was sie da eben mit angesehen hatten.

Chase rannte mit der vollen Geschwindigkeit, die seine Stammesgene ihm verliehen. Wenigstens das hatte er immer noch – die Kraft und Ausdauer seiner wilderen Natur. Und die Überdosis Blut, die er zu sich genommen hatte, verstärkte die Bestie in ihm noch. Es trieb ihn weiter, immer tiefer in die Nacht, fort von den hellen Lichtern und dem geschäftigen Vorweihnachtsverkehr auf den Hauptstraßen.

Er wusste nicht, wie lange er schon so gerannt war

Er war nicht sicher, wo er war, als er endlich langsamer wurde und bemerkte, dass er sich weit außerhalb der Stadt befand, nicht länger durch Straßen, Parkplätze oder Wohnviertel raste, sondern durch schneebedecktes offenes Land und dichte Waldstücke. Vor ihm erhob sich ein breiter, dicht mit Fichten bestandener Granithügel aus der Landschaft. Wie er sich vage erinnerte, war das eines der Naturschutzgebiete der Menschen, einer der wenigen übrig gebliebenen Flecken naturbelassener Landschaft, geschützt vor der aggressiven Ausdehnung des städtischen Großraums, der ihn von allen Seiten in seinem Würgegriff hatte.

Dieser Ort rührte an etwas, das in einer dunklen Ecke seiner Erinnerung vergraben war, einen flüchtigen Gedanken, dass er diesen Ort kennen sollte. Er war vor Jahren einmal hier gewesen. Doch Chase schüttelte diese mentale Ablenkung ab, als er den Wald betrat. Ihm war egal, wo er war, jetzt zählte nur, dass er in Bewegung blieb und die Lichter der Stadt weit hinter sich ließ.

In einem dichten Waldstück ließ er sich in die Hocke sinken und lehnte seinen Rücken gegen den Stamm einer hohen Eiche. Kahle Zweige zitterten über seinem Kopf, der Mond kämpfte sich mühsam durch die dicke nächtliche Wolkendecke. Lange war das einzige Geräusch, das er hörte, sein eigener keuchender Atem und der Rhythmus seines dröhnenden Herzschlags.

Er saß da und fragte sich, wohin sein Durst ihn als Nächstes führen würde.

Eigentlich konnte es ihm verdammt egal sein.

Er bleckte seine Zähne und Fänge und saugte die Winterluft ein, zitternd von der Kälte und den schlimmen Bauchkrämpfen. Seine Därme waren vergiftet, überlastet von dem Blut, das er zu viel und zu oft zu sich genommen hatte, und doch konnte er an nichts anderes denken als die Frage, woher er seinen nächsten Schuss bekommen sollte. Er starrte in den mitternächtlichen Himmel auf, versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit ihm noch zur Jagd blieb, bis ihn die Morgendämmerung wieder in ein Versteck trieb.

Klare Sache, dachte er und stieß ein belustigtes, halb wahnsinniges Kichern aus. Er brauchte der Bestie nur nachzugeben, die ihre spitzen Klauen in ihn geschlagen hatte.

Und doch war es die Bestie in ihm, die ihm zuflüsterte, als die Wälder um ihn gespenstisch still wurden. Er erstarrte, das Raubtier in ihm war hellwach und in Alarmbereitschaft.

Irgendwo in einiger Entfernung knackte in der Dunkelheit ein Ast. Und dann noch einer.

Chase horchte stumm und reglos. Wartete.

Aus dem dichten Unterholz kam jemand gelaufen.

Einen Augenblick später sah er ihn – es war ein kleiner Junge, der da durch die dunklen Wälder rannte, so schnell er nur konnte, und sich dabei immer wieder panisch umsah. Er trug einen Winteranorak, aber der Reißverschluss stand offen, und sein Hemd darunter war zerrissen und hatte dunkle Flecken.

Es war eine so abrupte, bizarre Erscheinung, dass sie völlig surreal wirkte. Zuerst dachte Chase, der Junge wäre nur eine Halluzination und sein von der Blutgier gebeutelter Verstand spielte ihm Streiche.

Bis ihm der scharfe Angstgeruch in die Nase stieg. Er roch Todesangst.

Und Blut.

Der Junge blutete aus einer kleinen Wunde am Hals – einer Bisswunde, wie Chase sofort bemerkte, und der Duft von frischen roten Zellen traf ihn wie ein Güterzug. Er rollte sich auf alle viere, als das Kind immer näher auf sein Versteck zurannte.

Und dann war der Junge plötzlich nicht mehr allein.

Aus der Dunkelheit einige Meter hinter ihm erschien eine Frau, und dann noch ein Kind, dieses schon älter, ein Teenager mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Einen Moment später brach in einiger Entfernung ein Mann aus dem Dickicht, gefolgt von einer anderen Frau, die humpelte und schluchzte. Auch sie war blutbespritzt und hatte eine Bisswunde am Unterarm.

Sie rannten alle in unterschiedliche Richtungen auseinander, flohen wie ein aufgescheuchtes Rudel Rehe.

Wie das Jagdwild, das sie waren, erkannte Chase, und nun erkannte er endlich, in was er da hineingestolpert war.

Blutclub.

Darum also war ihm dieser Ort so vertraut vorgekommen. Er war wirklich schon einmal hier gewesen. Vor über zehn Jahren hatte er mit Quentin und einem Stoßtrupp der Agentur Gerüchte über eine illegale nächtliche Treibjagd im Blue Hills Park am Stadtrand von Boston überprüft.

Er brauchte das tierhafte Heulen der Vampire, die diese todgeweihten Menschen hetzten, nicht zu hören, um zu wissen, dass er mitten in einem Spiel für die perversesten Angehörigen seiner Spezies stand. Von den Stammesgesetzen seit Jahrhunderten verboten, waren Clubs, die Jagdpartien auf menschliche Beute als Sportveranstaltungen organisierten – inklusive allem anderen, wonach einem Vampir der Sinn stand –, zwar verboten, konnten aber nicht völlig verhindert werden. Es gab immer Vampire, die den Gesetzen trotzten. Immer noch gab es in der besseren Gesellschaft diese geschlossenen Kreise mit handverlesenen Mitgliedern, die pervertierte Stammeselite, die solche Dienstleistungen in Anspruch nahm.

Chase suchte in sich nach der Verachtung, die er für etwas so Verwerfliches hätte empfinden sollen. Er spürte Empörung aufflackern, seine alte Agenturethik kribbelte vom Impuls einzugreifen, aber er war nicht stark genug, um seine Fänge in Schach zu halten, als der kupfrige Duft von frischem Blut durch das Dickicht drang. Hunger tobte in ihm, und sein Puls dröhnte heiß und wild durch seine Adern.

Als sich die Menschen ihm in dem unbeabsichtigten Jagdstand näherten, in dem er kauerte, stand er auf.

Mit bernsteinfarben glühenden Augen trat er aus seinem Versteck und verstellte ihnen den Weg.