33

Der Tag schleppte sich mit quälender Langsamkeit dahin. Corinne spürte jede Minute vergehen, als schnitte sie ihr ein Stückchen aus ihrem Herzen.

Nathan war fort.

Nachdem sie jahrelang auf eine Chance gehofft hatte, ihn wiederzusehen, nachdem sie so lange um ein Wunder gebetet hatte, irgendwie aus ihrer Gefangenschaft zu entkommen, ihr Kind wiederzusehen und mit ihm die Familie zu sein, die sie sich für ihn erträumte – war er fort.

War ihr einfach durch die Finger geschlüpft, nicht durch irgendeine Prophezeiung, sondern aus eigener Entscheidung.

Die Tatsache, dass er lebte und verschwunden war, war fast genauso schlimm wie die Vorstellung, ihn an die Vision verloren zu haben, die Hunter ihr beschrieben hatte. Nathan war fort, und Corinne trauerte um ihn.

Sie saß mit Hunter hinten im Laster, wo sie auf den Sonnenuntergang warteten. Hunter war Nathan sofort gefolgt, nachdem er geflohen war, aber seine Suche in der Gegend war ergebnislos geblieben, und die Morgendämmerung hatte ihn mit leeren Händen zum Kastenwagen zurückgetrieben. Nach Einbruch der Dunkelheit würde er sich noch einmal auf die Suche machen.

Seither waren sie einige Kilometer von der Blockhütte weggefahren, in der Nathan eingesperrt gewesen war. Hunter hatte das Risiko, von Dragos’ Handlangern entdeckt zu werden, für zu groß gehalten, um noch länger dort zu bleiben. Corinne hatte ihm widerwillig zugestimmt.

Nun gab es vorerst nichts, was sie tun konnten, außer sich zu fragen, wohin ihr Sohn geflohen war, und zu beten, dass seine Konditionierung als einer von Dragos’ bedingungslos gehorsamen Soldaten ihn nicht dazu brachte, zu dem schrecklichen Leben zurückzukehren, vor dem Corinne ihn hatte retten wollen. Wenn das gleißende Sonnenlicht ihn nicht zuerst erledigte.

»Wenn du er wärst«, sagte sie zu Hunter, »wohin würdest du gehen?«

Hunter nahm sanft ihre Hand und fuhr mit dem Daumenballen über ihr Muttermal, das sie als Stammesgefährtin auswies. »Er ist eine Kämpfernatur, Corinne. Dazu hat man ihn jahrelang abgerichtet. Er ist hochintelligent, und ich bin mir sicher, dass er seine Umgebung hier ganz genau kennt. Bei meiner Suche vorhin habe ich hier in der Gegend mehrere Höhlen gefunden. Inzwischen dürfte er in einer davon untergekrochen sein.« Er dachte einen Augenblick nach und fügte dann hinzu: »Ohne das Halsband, das seinen Bewegungsradius auf die unmittelbare Umgebung der Hütte beschränkt, könnte er inzwischen auch über alle Berge sein.«

Sie nickte, wusste zu schätzen, dass Hunter so ehrlich zu ihr war und es nicht für nötig hielt, sie vor der Wahrheit zu beschützen. Es würde keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen geben, egal wie unbedeutend sie auch waren. Das hatten sie einander versprochen, nachdem Hunter ihr letzte Nacht auf der Fahrt zu der abgelegenen Blockhütte in den Wäldern von Georgia von Miras Vision erzählt und sie damit fast auseinandergebracht hatte.

Corinne stieß einen zittrigen Seufzer aus. »Wenigstens haben wir es geschafft, das Ende der Vision zu verändern. Immerhin wissen wir jetzt, dass nicht alles, was Mira sieht, unbedingt eintreffen muss.«

Hunter schüttelte den Kopf. »Wir haben sie nicht verändert. Es hat sich alles genauso abgespielt, wie ich es in Miras Augen gesehen habe. Nur meine Interpretation war falsch.«

»Was meinst du?«

»Alles, was du im kritischen Moment gesagt hast, war Teil davon, Corinne. Du hast mich gebeten, ihn zu verschonen. Du hast mich angefleht, ihn gehen zu lassen. Alles, was du gesagt hast, ist genauso gewesen wie in Miras Vision.« Er hob ihre Hand an den Mund und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Finger. »Als ich die Hand zum Schlag gehoben habe, bist du mir in den Arm gefallen und hast versucht, es zu verhindern. Und ich habe trotzdem zugeschlagen. Das musste ich, denn es war unsere einzige Chance.«

»Das verstehe ich nicht«, murmelte sie. »Du hast Nathan nicht getötet. Die Vision war falsch.«

»Nein«, sagte er. »Mein Schlag wäre tödlich gewesen, wenn sein Halsband nicht deaktiviert gewesen wäre. Das war es, was ich nicht wusste – diese Einzelheit hat mir die Vision nicht gezeigt. Erst in dem Augenblick, als es geschah, wurde mir klar, dass der Schlag, den ich deinem Sohn versetzt habe, ihm das Leben retten sollte, statt ihn zu töten.«

»Gott sei Dank«, flüsterte Corinne und kuschelte sich tiefer in seine Arme. »Aber Nathan ist fort. Ich habe ihn trotzdem verloren.«

»Wir finden ihn schon«, sagte Hunter mit einem Knurren, seine tiefe Stimme war leise und tröstlich, so stark wie seine Arme, in denen sie sich so beschützt fühlte. »Das schwöre ich dir, Corinne. Egal wie lange es dauert oder wie weit ich gehen muss. Ich finde ihn schon … und ich tue es für dich. Für dich tue ich alles.«

Sie drehte den Kopf und sah zu ihm auf, bewegt von seinem Versprechen.

»Ich liebe dich«, sagte er zu ihr. »Für den Rest meines Lebens ist meine wichtigste Mission, dich glücklich zu machen.«

»Ach Hunter«, seufzte sie, vor Emotionen war ihr Hals wie zugeschnürt. »Ich liebe dich so sehr. Du hast mich schon glücklicher gemacht, als ich es überhaupt für möglich gehalten habe.«

Er senkte den Kopf und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Und ich habe nie solche Gefühle gekannt wie in unserer kurzen Zeit zusammen. Ich will alles erleben, was das Leben zu bieten hat, und zwar mit dir an meiner Seite … als meine Gefährtin, wenn du mich haben willst.«

»Ich will auch keinen Tag mehr ohne dich leben«, gestand sie. »Du bist jetzt ein Teil von mir.«

»Das will ich gerne sein«, sagte er und küsste sie leidenschaftlich. Als er sich einen Augenblick später zurückzog, glühten seine Augen bernsteingelb. Seine Fänge glänzten, und als er sie jetzt ansah, fuhren ihre scharfen Spitzen sich noch weiter aus. »Ich kann nicht anders als dich zu begehren. Ich will dich wieder schmecken. Meine Gefühle für dich sind so intensiv«, sagte er heiser. »So besitzergreifend und gierig. Ich schaue dich an, Corinne Bishop, und kann an nichts anderes mehr denken, als dass du mir gehörst.«

»Das tue ich auch«, bestätigte sie und streichelte das stolze Kinn und die muskulöse Wange des Mannes, den sie für alle Ewigkeit an ihrer Seite haben wollte. »Ich gehöre nur dir allein, Hunter. Für immer.«

Mit einem Knurren zog er sie an sich und küsste sie wieder, dieses Mal heftiger. »Ich will, dass du zu mir gehörst«, murmelte er an ihrem Mund. »Ich will wissen, dass mein Blut in dir lebt, ein Teil von dir ist.«

»Ja«, keuchte sie und erbebte beim Gedanken, sich jetzt und für immer mit ihm zu verbinden.

Ihre Blicke ineinander versunken, hob er sein Handgelenk an den Mund und schlug seine langen Fänge hinein. Dann hielt er es ihr hin, das Kostbarste, was er ihr zu geben hatte. Corinne schloss die Lippen um seine geöffnete Vene und sog den ersten Schluck seines Blutes in ihren Mund.

Sein Blut loderte auf ihrer Zunge auf wie ein Steppenbrand.

Dickflüssig, berauschend und voller Kraft, war es die Essenz von allem, was Hunter war. Und jetzt nährte sie diese Vitalität, reicherte ihre Zellen an, erfüllte ihre Sinne … verwob sich mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele. Sie spürte, wie die Blutsverbindung aktiviert wurde, strahlend und herrlich, hielt sich an ihr fest und ließ sich von ihr umhüllen, schwelgte in der unendlichen Freude, die sie überströmte, als sie weiter von Hunter trank.

Sein Blut löschte all das Schreckliche aus, das sie durchgemacht hatte. Die Folter wurde weggespült, die Entwürdigung von ihr genommen, alles zerstreute sich wie Staub in alle Winde durch die Kraft ihrer Verbindung, die jetzt immer intensiver wurde.

Als sie aus Hunters Vene trank, sah sie, wie die Augen ihres prachtvollen Gefährten leidenschaftlich und besitzergreifend glühten … von einer so leidenschaftlichen Liebe, dass es ihr den Atem nahm. Jetzt brannte sie für ihn, ihr eigenes Verlangen verstärkt von der berauschenden Macht seines Blutes.

Sie konnte das Warten kaum ertragen, als er vorsichtig sein Handgelenk zurückzog und die Bisswunden mit der Zunge versiegelte. Sie zitterte heftig, als er sie auszog, und seine eigenen Kleider folgten im nächsten Augenblick.

Er legte sich auf sie und liebte sie, zärtlich und gründlich … eine Ekstase, die so hell brannte wie ihre Liebe,

Und auch in diesem Augenblick der unendlichen Hingabe und Erfüllung gab es immer noch einen Winkel in ihrem Herzen, der so lange wehtun würde, wie ihr Sohn fort war. Aber Hunters Versprechen, ihr zu helfen, bis sie ihn gefunden hatten, gab ihr Zuversicht. Vielleicht war er für sie noch nicht endgültig verloren. Noch nicht.

Mit Hunters Liebe und der Blutsverbindung, die sie stärker als jeder Sturm durchströmte, schien ihr alles möglich.

Ein heftiger Regen brauste über die Gegend, als es endlich Abend geworden war.

Hunter fuhr in seinen ledernen Trenchcoat, er wollte wieder nach draußen aufbrechen und ein letztes Mal nach Nathan suchen, bevor sie nach Neuengland aufbrechen mussten. Vor einer kurzen Weile hatte er sich beim Orden zurückgemeldet, und die Lage im Hauptquartier war kritisch. Es war Hunter überhaupt nicht recht, ohne Corinnes Sohn loszufahren, aber er konnte auch seine Pflichten gegenüber seinen Brüdern vom Orden nicht ignorieren.

Und was das Allerwichtigste war – er musste dafür sorgen, dass Corinne irgendwo an einem sicheren Ort untergebracht war, während er seine Pflicht tat, statt allein im Laderaum eines ungesicherten Lasters auf ihn zu warten.

»Mach dir keine Sorgen, mir passiert schon nichts«, sagte sie zu ihm. Wie mühelos sie ihn inzwischen durchschaute, hätte ihn beunruhigen sollen.

Aber das tat es nicht. Ihn beruhigte vielmehr, wie gut sie ihn inzwischen kannte. Unglaublich, wie instinktiv und gefestigt ihre Verbindung jetzt war, nachdem ihr Blut sich vermischt hatte.

Er streichelte ihr schönes, tapferes Gesicht. »Ich werde nur ein paar Stunden fort sein. Das wird ausreichen, um das Flussufer und das Naturschutzgebiet außenrum abzusuchen.«

»Danke«, sagte sie und küsste ihn auf die Handfläche. »Was immer passiert, ob du ihn heute Nacht da draußen findest oder nicht – ich will, dass du weißt, wie dankbar ich dir dafür bin, es wenigstens versucht zu haben.«

»Nathan ist dein Sohn. Das macht ihn jetzt auch zu meinem.«

Sie nickte zittrig, und er zog sie an sich. Als Hunter in ihre Augen sah, die ihn so voller Vertrauen anblickten, spürte er den tiefen Wunsch, eine größere Familie mit ihr zu haben – ihr noch mehr Söhne zu geben, die sie lieben konnte, sobald Nathan in Sicherheit war.

Zusammen gingen sie zu den Türen des Lasters, und Hunter öffnete sie.

Draußen im strömenden Regen stand Nathan.

Er war klatschnass, barfuß und halb nackt, trug nur noch die graue Trainingshose, die er bei seiner Flucht getragen hatte. Wasser rann von seinem rasierten Kopf über die muskulöse dermaglyphenbedeckte Brust hinunter. Seine Hände hingen offen herab, von seinen Fingern tropfte Wasser in den Schlamm unter seinen Füßen.

Corinne wurde sehr still neben Hunter, als traute sie ihren Augen nicht, als könnte der Junge nur eine Illusion sein und würde sich sofort in Luft auflösen, sobald sie auch nur zu atmen wagte.

Nathan starrte sie an. »Ich weiß nicht, wo ich hin soll.«

»Doch, zu uns«, antwortete Hunter und streckte die Hand aus.

Es dauerte lange, bis sich der Junge bewegte. Dann nickte er schwach, ergriff Hunters Hand und ließ sich von ihm in den Kastenwagen hinaufziehen.

Neben Hunter stieß Corinne einen leisen, zittrigen Seufzer aus. Ihr Puls dröhnte wie eine Trommel, ihr Herz schlug so heftig, dass er ihre Aufregung und Hoffnung in seinen eigenen Adern spüren konnte. Aber sie hielt sich zurück, widerstand mit allen Kräften dem Impuls, in ihrer bodenlosen Erleichterung und Freude auf ihren geliebten Sohn zuzulaufen und ihn in die Arme zu schließen. Stattdessen stand sie reglos da und beobachtete ihn, wartete ab, dass er von selbst auf sie zukam.

»Ist das alles wahr, was du gesagt hast?«, fragte er sie.

Sie nickte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Alles.«

Hunter zog seinen Mantel aus und legte ihn dem völlig durchnässten Jungen um die Schultern. Nathan sah zu ihm hinüber, offenbar immer noch nicht ganz von ihren guten Absichten überzeugt. »Wenn ich mit euch gehe, wohin bringt ihr mich dann?«

»Nach Hause«, antwortete Hunter.

Dabei sah er Corinne an und verstand erst in diesem Augenblick, wie mächtig dieses Wort wirklich war.

Nach Hause.

Es traf ihn mit der ganzen Kraft einer Waffe aus gehämmertem Stahl, so unzerstörbar wie ein Diamant, so felsenfest wie ein Berg.

Ein Zuhause.

Das war etwas, das weder er noch dieser tödliche Nachwuchskiller je gekannt hatten. Und nun hatten sie es beide in dieser schönen Frau gefunden, die ihnen beiden irgendwie auf wundersame Weise ihr sanftes, tapferes Herz geöffnet hatte.

Hunter legte ihr den Arm um die zarten Schultern und sah sie mit all der Liebe an, die sein Herz zum Überlaufen brachte. Er beugte sich nahe zu ihr und flüsterte ihr so leise zu, dass nur sie es hören konnte: »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«