28

Es hatte an diesem Abend in Boston gleich nach Einbruch der Dämmerung zu schneien begonnen. Der kalte Dezemberwind brachte riesige Flocken mit, die auf Chases Kopf und Wangen schmolzen. Er starrte durch die tropfnassen Haarsträhnen, die ihm in die Augen hingen, und beobachtete den Rummel von ankommenden und abfahrenden Lieferwagen an Senator Robert Clarence’ teurem Anwesen in North Shore, einem exklusiven Vorort von Boston.

Er wusste nicht ganz genau, was ihn dazu gebracht hatte, vor dem Haus des jungen Politikers im Dunkeln zu lauern. Wie die Blutgier, die ihn umtrieb, ließ Chases angeborene Neugier ihm keine Ruhe, auch wenn die schicke Party, die hier offenbar nachher stattfinden sollte, ihm eigentlich scheißegal sein konnte.

Bei der Parade von Cateringfirmen und Mietwäscheservices, die sich die Klinke in die Hand gaben, musste es das gesellschaftliche Highlight der Saison werden. Ein zwölfköpfiges Salonorchester mit Streichern und Bläsern hatte seine Instrumente durch den Hintereingang hereingetragen, als Chase angekommen war. Und die über zwanzig uniformierten Cops und die grimmig blickende Einheit des Geheimdienstes, die an strategischen Punkten auf dem ganzen Anwesen postiert waren, machten ihn stutzig.

Chase beäugte die Männer mit dem militärischen Bürstenhaarschnitt und den schwarzen Anzügen. Bobby Clarence war ein aufgehender Stern am Polithimmel, aber diese ganze Security war nicht seinetwegen hier. Bei diesem Großaufgebot wurde mindestens ein hochrangiger Regierungsbeamter aus Washington D.C. erwartet. Jetzt erinnerte sich Chase an einige Einzelheiten aus dem Wahlkampf, die er zwangsläufig mitbekommen hatte. Clarence’ Kandidatur war von keinem Geringeren als dem Vizepräsidenten unterstützt worden – er hatte seinen brillanten Studenten in den höchsten Tönen gelobt, der ihn, seinen strengsten Professor, mit seiner Integrität und seinen guten Yankeemanieren beeindruckt hatte.

Und jetzt, wo Chase darüber nachdachte, stieg ein Verdacht in ihm auf.

Dragos hatte seinen Leuten nicht verheimlicht, dass er an Senator Clarence interessiert war – aber was, wenn er eigentlich jemand anderen im Visier hatte, der eine noch höhere Machtposition bekleidete?

»Himmel, Arsch und Zwirn«, murmelte Chase. Was, wenn einige dieser Cops, die auf dem Grundstück des Senators herumlatschten, Dragos’ Lakaien waren? Was konnte Dragos dann davon abhalten, eine Versammlung wie diese für seine eigenen Pläne zu nutzen?

Chases alte Instinkte riefen ihm eine Warnung zu, die er nicht ignorieren konnte. Auf dieser Party heute Nacht würde etwas Schlimmes passieren, das spürte er in seinen Knochen. Der Senator oder sein VIP-Gast waren in Gefahr – guter Gott, womöglich sogar alle beide. Darauf würde Chase sein Leben verwetten – nicht dass es heutzutage viel wert war.

Und jetzt war seine Besorgnis stärker als sein Blutdurst. Mit der übernatürlichen Geschwindigkeit der Stammesvampire sprang Chase über die Straße auf das Grundstück hinüber, vorbei an den Cops und der Einheit des Geheimdienstes, die davor postiert waren. Als er durch die Hintertür in die Küche des Anwesens schlüpfte, war er nur ein kalter Luftzug, der einige Schneeflocken aufwirbelte.

Kaum war er drin, kamen zwei weitere Männer in schwarzen Anzügen um die Ecke.

Chase duckte sich in die Speisekammer und wurde ganz reglos und still, während die beiden Geheimdienstleute direkt an der Stelle vorbeikamen, wo er eben noch gestanden hatte. Einer der beiden meldete über sein kabelloses Headset, dass der erste Stock überprüft und frei gegeben war, und begann dann mit seinem Begleiter eine Unterhaltung über das Spiel des College-Footballteams am vorigen Abend. Dann gingen die bewaffneten Männer aus dem Haus, um sich ihrer Einheit im Hof anzuschließen, und Chase atmete auf.

Eben wollte er aus der Speisekammer treten, als die Tür nach innen aufschwang und fast gegen ihn geprallt wäre. Er blieb abrupt stehen.

»Haben Sie wegen des Rotweins da drin nachgesehen, Joe?« Eine junge Frau betrat die geräumige Speisekammer und redete über die Schulter mit jemandem draußen in der Küche. Sie trug ein langärmliges, hochgeschlossenes Abendkleid aus burgunderrotem Samt in Knitteroptik, das sich wie ein Geliebter an ihren großen, athletischen Körper schmiegte, und ihre wellige dunkelbraune Mähne schwang ihr um die Schultern, als sie sich umdrehte und tiefer in den Raum trat. »Ach! Hier ist er ja – noch zwei Kisten Pinot Noir, genau wie ich dachte.«

Chase hatte sich in seine Schatten gehüllt und kämpfte damit, sie aufrechtzuerhalten, als die atemberaubende junge Frau direkt an ihm vorbeiging und einem kräftigen Mann in Kellnerfrack und Fliege winkte, seinen Handhubwagen in den Raum zu schieben.

Der Mann schien eine Ewigkeit dafür zu brauchen, ihn hineinzumanövrieren und die Kisten mit dem teuren französischen Rotwein aufzuladen. Nicht dass Chase allzu viel dagegen gehabt hätte. So anstrengend es auch war, die Illusion seiner Gabe aufrechtzuerhalten, er würde nicht so schnell genug davon bekommen, diese selbstbewusste Frau mit dem professionellen Auftreten und dem höllenscharfen Kleid anzusehen.

Endlich wurde die letzte Weinkiste mit klirrenden Flaschen auf dem Handhubwagen abgestellt. »Sonst noch etwas, Ms Fairchild?«

Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich lasse es Sie wissen, Joe, danke«, antwortete sie kühl. Sie folgte ihm, als er seine Ladung zur Tür hinauskarrte, ihr wohlgeformter Po viel zu sexy für jemanden, der eine so eisige Kälte verströmte. »Falls sonst jemand vom Servicepersonal mich braucht, ich bin beim Orchester und spreche ein letztes Mal die Musikauswahl durch. Sagen Sie allen, dass sie sich fertig machen sollen, die Gäste des Senators werden in exakt einer Stunde erwartet.«

»Ist gut, Ms Fairchild«, murmelte Joe mit dem Handhubwagen, als die Speisekammertür hinter ihren hohen Absätzen ins Schloss fiel.

Chase ließ die Schatten fallen, sobald er alleine war. Sein Atem ging heftig und keuchend, und sein Körper fühlte sich an, als hätte er eben einen Marathon quer durchs ganze Land gemacht. Seine Hände zitterten, und er bekam Magenkrämpfe vor Gier nach neuem Sprit. Verdammt. Er hatte hier praktisch das große Flattern, und die Party hatte noch nicht einmal begonnen.

Er öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Als er sicher war, dass es keine weiteren Überraschungen geben würde, schlüpfte er hinaus und sprintete mit allerletzten Kräften die Treppe hinauf. Im von der Security frei gegebenen ersten Stock fand er ein leeres Schlafzimmer, wo er warten wollte, bis die Weihnachtsgäste des Senators eintreffen würden.

Als sie wenig später ins Haus zurückgegangen waren, hatte Gideons E-Mail schon auf sie gewartet. Hunter hatte ihn im Bostoner Hauptquartier zurückgerufen – Corinne saß neben ihm am Computer – und mit einer Mischung aus Angst und grimmiger Akzeptanz zugehört, was Gideon ihm gesagt hatte: Seine Überprüfung der unvollständigen Zahlenfolge, die in Corinnes Blut gespeichert war, hatte Ergebnisse erbracht.

In den verschlüsselten Daten auf den USB-Sticks, die Hunter ins Hauptquartier überspielt hatte, hatte es zwei Volltreffer gegeben. Die schlechte Nachricht war, dass der eine zu einer Datei gehörte, die seit über fünf Jahren nicht mehr aktualisiert worden war. Die gute Nachricht? Der zweite Treffer bezog sich auf eine aktive Datei.

Gideon hatte sich schnell hineingehackt und in dem Datensatz eine Koordinate gefunden. Diese hatte er testweise über den Satelliten laufen lassen und ein GPS-Signal aus einer Kleinstadt im ländlichen Westen von Georgia aufgefangen, etwa hundert Kilometer von Atlanta entfernt. Gideon hatte mit Lichtgeschwindigkeit geredet, als er Hunter vor etwa einer Stunde diese Informationen gegeben hatte. Er war davon ausgegangen, dass es sich nur noch um ein paar Stunden Recherchearbeit handeln konnte, bis die Daten aus Henry Vachons Lagerabteil ihnen sogar etwas noch Größeres liefern würden.

So aufregend die Aussicht auf einen zukünftigen Angriffsschlag gegen Dragos’ Operation auch war, war Hunter in Gedanken mit näher liegenden Angelegenheiten beschäftigt.

Corinne war ruhig und nachdenklich gewesen, seit sie sich überstürzt von Amelie Dupree verabschiedet hatten und gemeinsam mit dem Kastenwagen zu ihrer großen Überlandfahrt aufgebrochen waren. Mittlerweile waren sie schon mehrere Stunden unterwegs und fuhren durch Alabama auf die Interstate 85 zu. Hunter schätzte, dass sie es bis zum Sonnenaufgang zur Staatsgrenze von North Carolina schaffen konnten.

Plus etwa sechzehn Stunden Fahrt, und er hätte Corinne sicher im Dunklen Hafen der Reichens auf Rhode Island abgeliefert.

Was sie natürlich nicht wusste.

Dieses spezielle Detail seines Plans hatte er ihr erst erzählen wollen, sobald sie auf der Straße und miteinander allein waren. Aber jetzt fiel es ihm schwer, damit herauszurücken.

Er wusste, dass er sie enttäuschen und mit der Wahrheit verletzen würde, und das fiel ihm noch schwerer, nachdem sie vorhin solches Mitgefühl für ihn gezeigt hatte. Angesichts der Entdeckung des Laborbestandsbuches und seines schrecklichen Inhalts drehte sich ihm immer noch der Kopf. Das alles hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, als hätte er auf einen Schlag den Boden unter den Füßen verloren.

Zumindest bis Corinne ihn in die Arme genommen und getröstet hatte.

Als ob sie seinen inneren Konflikt spürte, hob sie jetzt den Kopf von den Google-Maps-Ausdrucken in ihrem Schoß und sah zu ihm hinüber. »Alles okay?«

Er nickte, doch er merkte selbst, dass es nicht überzeugend wirkte. »Du hast kaum etwas gesagt, seit wir New Orleans verlassen haben. Wenn du irgendetwas brauchst …«

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Wenn ich nicht viel rede, dann nur, weil ich nervös bin. Ich hab einfach Angst, schätze ich. Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir tatsächlich auf dem Weg zu ihm sind. Endlich bin ich auf dem Weg zu Nathan.«

Sie sagte den Namen ihres Sohnes so andächtig und hoffnungsvoll, dass es ihm das Herz zerriss. Hunter lernte durch Corinne so viele neue Gefühle kennen, aber das brennende Schuldgefühl, sie zu hintergehen, war fast mehr, als er ertragen konnte. Er räusperte sich und zwang sich, endlich auszupacken. »Wir können nicht wissen, ob dein Sohn wirklich in der Zelle ist, die Gideon in der Nähe von Atlanta geortet hat. Aber du und ich fahren jetzt weiter in den Norden, Corinne. Ich bringe dich nach Rhode Island zurück, in den Dunklen Hafen von Andreas und Claire.«

»Was soll das heißen?« Im Augenwinkel sah er, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte. »Fahren wir nicht nach Atlanta?«

»Es wäre dort nicht sicher für dich. Sobald du sicher bei Andreas und Claire untergebracht bist, fahre ich alleine runter und suche nach ihm. Es ist besser so, für alle Beteiligten.«

Durch seine Blutsverbindung zu ihr spürte er, wie ihr Zorn in seinen eigenen Adern aufflammte. »Und wann hattest du vor, mir das zu sagen – bevor oder nachdem du mich im Dunklen Hafen abgeliefert hast?«

»Es tut mir leid«, sagte er, und es war sein voller Ernst. »Mir ist klar, dass du damit nicht einverstanden bist, aber ich bin nicht nur für deine Sicherheit verantwortlich, sondern ich will dir auch potenziellen Kummer und Enttäuschungen ersparen.«

»Er ist dort in der Zelle, Hunter«, flehte sie. »Ich spüre es in meinen Knochen, Nathan ist dort.«

Hunter sah von der Autobahn, die sich schier endlos vor ihm ausstreckte, zu der wunderschönen Löwenmutter hinüber. Corinne würde sich vermutlich vor eine Maschinengewehrsalve werfen, wenn sie dächte, dass sie ihren Sohn damit retten könnte. Der Gedanke erschreckte ihn. »Wir haben nur sehr wenige Fakten zur Verfügung, Corinne. Logisch gesehen kann diese Information genauso gut zu einem anderen von Dragos’ Killern führen statt zu deinem Sohn.«

Sie drehte sich auf der langen Sitzbank zu ihm, jetzt war sie fuchsteufelswild. »Logisch gesehen kann es, soviel wir wissen, auch wirklich mein Sohn sein.«

»Umso mehr Grund für mich, dass ich dich nicht dort haben will, Corinne.« Er sah wieder zur Windschutzscheibe hinaus und stieß einen leisen Seufzer aus. »Wenn er es ist, kann es nicht gut enden.«

»Woher willst du das wissen?«, rief sie wütend. »Das kannst du doch gar nicht wissen …«

Wieder sah er zu ihr hinüber und erkannte, dass das, was er ihr jetzt sagen würde, wahrscheinlich alles zerstören würde, was in ihrer kurzen gemeinsamen Zeit zwischen ihnen entstanden war. »Ich weiß es, Corinne. Ich habe gesehen, wie dein Wiedersehen mit deinem Sohn verlaufen wird. Das kleine Mädchen im Hauptquartier des Ordens …«

»Mira?« Sie wirkte überrascht und verwirrt. Zwischen ihren schmalen schwarzen Brauen erschien eine steile Falte. »Was hat das jetzt mit ihr zu tun?«

»Sie hat mir eine Vision gezeigt«, antwortete er. »Eine Vision von dir und dem Jungen … und mir.«

»Was?« Corinne starrte ihn an, als hätte er sie in den Magen geschlagen.

Obwohl sie sichtlich erstaunt war, lag eine grimmige Ahnung in ihrer leisen Stimme. »Sag mir, worum es hier geht, Hunter. Hat Mira etwas gesehen, seit wir das Hauptquartier verlassen haben?«

»Nein. Es ist schon Monate her«, gab er zu. »Das war lange, bevor ich dich getroffen habe.«

Als er jetzt zu ihr hinübersah, sah sie elend aus, und ihr Gesicht wirkte blass in der schwachen Beleuchtung des Armaturenbretts. Der anklagende Ausdruck in ihren Augen schnitt ihm wie eine Klinge ins Herz. »Was soll das heißen? Was weißt du über Nathan? Weißt du, ob wir ihn finden oder nicht? Hat Mira vorhergesehen, wie das heute Nacht enden wird?«

Hunters Schweigen schien mehr, als sie ertragen konnte. »Halte den Wagen an«, verlangte sie. »Sofort anhalten.«

Er ging vom Gas und fuhr von der dreispurigen Autobahn auf den Standstreifen, Kies knirschte unter den Reifen, er stellte die Automatikschaltung auf Parken und wandte sich Corinne zu. Sie sah ihn nicht an. Er brauchte ihre Augen nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie voller Schmerz waren – voller Ungläubigkeit und Verwirrung.

»Du hast die ganze Zeit von meinem Sohn gewusst, noch bevor du mich nach Hause nach Detroit gebracht hast?«

»Ich wusste nicht, dass es in der Vision um dein Kind ging, Corinne. Als ich sie in Miras Augen gesehen habe, wusste ich noch nicht einmal, wer du bist. Damals ergab das alles überhaupt keinen Sinn für mich.«

Corinne starrte ihn jetzt düster an. »Was genau hast du gesehen, Hunter?«

»Dich«, sagte er. »Ich habe dich weinen sehen. Du hast mich angefleht, jemanden zu verschonen, der dir alles bedeutete. Du hast mich angefleht, ihn nicht zu töten, und bist mir in den Arm gefallen.«

Sie schluckte hörbar. Auf der Straße neben ihnen raste der Verkehr vorbei. »Und was hast du getan … in dieser Vision?«

Die bitteren Worte wollten ihm kaum über die Lippen kommen. Sie fühlten sich so entsetzlich auf seiner Zunge an, wie sich die Tat für seine Hände anfühlen würde. »Ich habe getan, was getan werden musste. Du hast Unmögliches von mir verlangt.«

Sie keuchte auf und suchte hektisch nach dem Türgriff. Hunter hätte sie zurückhalten, die Türschlösser mit bloßer Willenskraft verriegeln und sie bei ihm in der Fahrerkabine einsperren können. Aber ihr Kummer tat ihm selbst weh. Er sprang hinter ihr hinaus und blieb direkt hinter ihr, während sie hinaus auf den mondhellen grasbewachsenen Standstreifen stolperte.

»Corinne, versuch, mich zu verstehen.«

Sie war fuchsteufelswild und zutiefst verletzt, zitterte heftig am ganzen Körper. »Du hast mich angelogen!« Als sie ihn anschrie, wurde das Geräusch des vorbeirasenden Verkehrs plötzlich immer lauter, ihre Gabe nahm die Schallwellen auf und ließ sie zu einem Orkan anschwellen. »Du hast das … die ganze Zeit über gewusst, die wir zusammen waren, und hast es mir verheimlicht? Wie konntest du!«

»Ich wusste nicht, wen du zu schützen versucht hast und wann diese Prophezeiung eintreffen würde. Es hätte Jahre in der Zukunft stattfinden können oder alles Mögliche bedeuten können. Bevor ich dir etwas davon erzählen konnte, musste ich erst verstehen, was ich da gesehen habe.«

Auf der Überholspur raste ein Schwerlaster vorbei, und das Geräusch brachte den Boden zum Erbeben, während Corinne ihm zuhörte, wie er versuchte, ihr etwas zu erklären, das ihm jetzt selbst unvertretbar vorkam.

»Ich habe das alles erst verstanden, als du mir von deinem Sohn erzählt hast.«

Sie schloss einen Moment die Augen und sah dann zu den Sternen auf. Als sie ihn wieder ansah, hatte sie Tränen in den Augen. »Und dann, nach allem, was zwischen uns war – nachdem wir uns geliebt haben, nachdem du von mir getrunken hast, hast du mir immer noch nichts davon gesagt!«

»Ja«, sagte er. »Denn da hast du mir schon zu viel bedeutet, und ich wollte dich nicht mit der Wahrheit verletzen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf, dann noch einmal heftiger. »Ich habe dir vertraut! Du warst der Einzige, dem ich vertrauen konnte. Wie konnte ich so dumm sein, mich in dich zu verlieben!«

Ihre Wut ließ den Lärm ohrenbetäubend anschwellen. Über ihren Köpfen zersplitterte eine hohe Straßenlampe, ein Funkenregen ging auf sie nieder. Hunter riss sie zur Seite und drückte sie an sich, obwohl sie weinte und sich wehrte, und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Zwang sie, ihn anzusehen und in seinen Augen etwas anderes zu lesen, etwas, das er ihr bislang verschwiegen hatte. »Ich liebe dich auch, Corinne.«

»Nein«, flüsterte sie. »Das glaube ich dir nicht.«

Er fing ihr Kinn und hob ihr Gesicht an und küsste sie dann trotz ihres Protestes auf ihre geöffneten Lippen. »Ich liebe dich. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du die einzige Frau bist, die ich lieben will. Ich will, dass du glücklich bist. Das bedeutet mir alles.«

»Dann kannst du mich nicht einfach ausschließen, wenn es eine Chance gibt, dass mein Kind nur ein paar Stunden von hier entfernt ist.«

Hunter runzelte die Stirn, er wusste, dass er diese Schlacht verlor. Vielleicht war es die erste, bei der er jemals kapituliert hatte.

So sanft er konnte, erinnerte er sie: »Miras Visionen treffen immer ein. Wenn du mitkommst und wir deinen Sohn wirklich finden, wirst du mir vergeben können?«

»Wenn du mich wirklich so liebst wie ich dich, dann haben wir zusammen die Kraft, die Vision zu ändern.« Sie beruhigte sich allmählich, und damit legte sich auch ihre Gabe wieder, und der Verkehrslärm der viel befahrenen Autobahn wurde wieder zu bloßem Hintergrundgeräusch. Hinter ihnen auf dem Standstreifen wartete der Kastenwagen, der Motor im Leerlauf. Zögerlich streckte sie die Hand nach ihm aus und legte ihm die Hand auf die Brust, mitten auf sein hämmerndes Herz. »Vielleicht kann unsere Liebe verhindern, dass sich die Vision erfüllt.«

»Vielleicht«, sagte er und wünschte sich, es glauben zu können.

Was er allerdings glaubte, war die Tatsache, dass sie ihn auf jeden Fall hassen würde, wenn er sie jetzt wegschickte, egal, was er am anderen Ende des GPS-Signals in Georgia fand. Sie jetzt wegzuschicken würde bedeuten, ihr die Hoffnung zu rauben und ihr Vertrauen ein weiteres Mal zu verraten.

Hunter nahm ihre Hand in seine. Zusammen gingen sie zum Kastenwagen zurück, um sich gemeinsam dem zu stellen, was sie schon bald, am Ende ihrer Fahrt, erwartete.