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Der Privatclub lag sehr weit abseits der üblichen Amüsiermeile, und das aus verdammt gutem Grund. In Bostons Chinatown ganz am Ende einer schmalen, vereisten Sackgasse gelegen, war er einer exklusiven, äußerst anspruchsvollen Klientel vorbehalten. Die einzigen Menschen, die Zutritt zu dem alten Backsteinbau erhielten, war die Truppe attraktiver junger Frauen – und einige wenige schöne Männer –, die immer bereitgehalten wurden, um den späten Gästen für all ihre Gelüste zur Verfügung zu stehen.

Die mächtige unbeschriftete Stahltür im Erdgeschoss, im Schatten eines gewölbten Vorraums verborgen, gab keinerlei Hinweis darauf, was hinter ihr lag – aber ohnehin wäre kein Anwohner oder Tourist so dumm, dort stehen zu bleiben und sich darüber Gedanken zu machen. Denn sie wurde von einem hohen Eisengitter geschützt, und davor war ein hünenhafter Wächter in schwarzer Ledermontur mit schwarzer Strickmütze postiert.

Er war ein Stammesvampir, wie auch die beiden Krieger, die jetzt in der düsteren Gasse auftauchten. Beim Knirschen ihrer Kampfstiefel auf dem Schnee und dem festgefrorenen Straßendreck hob der Wächter den Kopf und starrte die uneingeladenen Neuankömmlinge mit schmalen Augen an. Er bleckte die Lippen und enthüllte schiefe Zähne und die scharfen Spitzen seiner Fänge. Dann stieß er ein tiefes Knurren aus, und aus seiner fleischigen Nase stieg eine warme Atemwolke in die kalte Dezembernacht auf.

Hunter registrierte die Anspannung seines Partners, als sie sich dem am Clubeingang postierten Vampir näherten. Sterling Chase war schon gereizt gewesen, als sie im Hauptquartier des Ordens zu ihrer Mission der heutigen Nacht aufgebrochen waren. Jetzt ging er mit aggressivem Schritt voran, die unruhigen Finger demonstrativ am Holster der großkalibrigen halbautomatischen Pistole in seinem Waffengürtel.

Auch der Wächter tat einen Schritt nach vorn und stellte sich ihnen direkt in den Weg. Er ging in Angriffsstellung, die mächtigen Schenkel gespreizt, die Stiefel warnend auf den rissigen Asphalt gerammt, und senkte den riesigen Kopf. Er hatte sie fragend angesehen, aber jetzt erkannte er Chase, und seine Augen wurden noch schmaler. »Ich glaub’s nicht. Was zur Hölle hast du hier im Revier der Agentur verloren, Krieger

»Taggart«, knurrte Chase statt einer Begrüßung. »Wie ich sehe, geht’s mit deiner Karriere steil bergab, seit ich die Agentur verlassen habe. Machst hier nur noch den Türsteher für euren Stripschuppen, was? Was kommt als Nächstes – Wachmann im Einkaufszentrum?«

Der Agent stieß einen deftigen Fluch aus. »Du hast vielleicht Nerven, dich hier blicken zu lassen.«

Das Kichern, mit dem Chase ihm antwortete, klang weder eingeschüchtert noch amüsiert. »Schau ab und zu in den Spiegel, dann reden wir darüber, wer hier Nerven hat, seine Fresse in der Öffentlichkeit zu zeigen.«

»Hier kommen nur Agenturmitglieder rein«, sagte der Wächter und verschränkte die muskulösen Arme über seinem mächtigen Brustkorb. Ein Brustkorb, auf dem der breite Lederriemen eines Holsters zu sehen war, und er trug noch jede Menge Hardware um die Hüften. »Der Orden hat hier nichts zu suchen.«

»Ach ja?«, knurrte Chase. »Erzähl das mal Lucan Thorne. Der ist es nämlich, der dir die Hölle heißmacht, wenn du uns nicht reinlässt. Vorausgesetzt, wir beide, die wir uns hier ohne guten Grund den Arsch abfrieren, räumen dich nicht selber aus dem Weg.«

Als Lucans Name fiel – er war der Anführer des Ordens und einer der gefürchtetsten Ältesten des Vampirvolkes –, presste Agent Taggart grimmig die Lippen zusammen. Nun wanderte sein Blick argwöhnisch von Chase zu Hunter, der in abwartendem Schweigen hinter seinem Partner stand. Hunter hatte keinen persönlichen Konflikt mit Taggart, aber in Gedanken hatte er bereits fünf unterschiedliche Arten durchgespielt, ihn außer Gefecht zu setzen – ihn schnell und effizient zu eliminieren, falls es nötig würde.

Dafür war Hunter ausgebildet. Als einer, den man eigens dafür gezüchtet und abgerichtet hatte, eine Waffe in der gnadenlosen Hand des großen Gegenspielers des Ordens zu sein, war er seit Langem daran gewöhnt, die Welt logisch und emotionslos zu betrachten.

Heute diente er dem Schurken Dragos nicht mehr, aber seine tödlichen Fähigkeiten bestimmten nach wie vor, wer und was er war. Hunter war unfehlbar und tödlich, und als er und Taggart sich in die Augen sahen, ging dem Mann endlich auf, dass er keine Chance hatte.

Agent Taggart blinzelte, dann wich er einen Schritt zurück und gab ihnen den Weg zur Tür des Clubs frei.

»Dachte ich mir doch, dass du’s dir anders überlegst«, sagte Chase, schlenderte mit Hunter zu dem Eisengitter und betrat das Stammlokal der Agentur.

Die Tür musste schalldicht sein. Im Innern des dunklen Clubs wummerte laute Musik. Bunte Scheinwerfer, die auf eine verspiegelte Bühne in der Raummitte gerichtet waren, rotierten im Takt. Die einzigen Tanzenden dort waren drei halb nackte Menschen, die sich zusammen vor einem Publikum lüstern glotzender Vampire räkelten, die in Nischen und an den Tischen vor der Bühne saßen.

Hunter beobachtete, wie die langhaarige Blonde in der Mitte sich um eine Stange aus Plexiglas schlang, die vom Boden der Bühne zur Decke reichte. Mit kreisenden Hüften hob sie eine ihrer riesigen, unnatürlich prallen Brüste an und züngelte an der gepiercten Brustwarze herum. Jetzt gingen die anderen Tänzer, eine tätowierte Frau mit kurzem violettem Haarschopf und ein dunkeläugiger junger Mann, der fast seinen Tanga aus glänzendem roten Lackleder sprengte, zu entgegengesetzten Ecken der verspiegelten Bühne und begannen dort ebenfalls mit ihrem Soloprogramm.

Es stank nach altem Parfüm und Schweiß, aber die muffige Luft konnte den charakteristischen Duft von frischem Menschenblut nicht überdecken. Hunter folgte der Duftspur mit den Augen zu einer Sitznische in der hinteren Ecke, wo ein Vampir in dem dunklen Standardanzug und weißen Hemd der Agentur bedächtig vom blassen Hals einer stöhnenden, nackten Frau trank, die auf seinem Schoß ausgestreckt lag. Auch etliche andere Stammesvampire tranken von diversen menschlichen Blutwirten, während einige Gäste dieses Vampiretablissements offenbar entschlossen waren, Gelüste sexueller Natur zu befriedigen.

Neben ihm an der Tür war Chase zur Salzsäule erstarrt, und aus seiner Kehle drang ein tiefes, grollendes Knurren. Hunter hatte für die Nahrungsaufnahme und das Spektakel auf der Bühne lediglich einen kurzen Seitenblick übrig, aber Chase starrte hungrig hin, so offensichtlich gebannt wie die anderen Stammesvampire im Raum. Vielleicht sogar noch gebannter.

Hunter hingegen interessierte sich für das Publikum. In der Menge drehten sich einige Köpfe zu ihnen um – ihre Ankunft war von den Agenten bemerkt worden, und die wütenden Blicke, die sie jetzt ernteten, besagten, dass die Situation sehr schnell unangenehm werden konnte.

Kaum war Hunter das klar geworden, als einer der starrenden Vampire von einem Sofa in der Nähe aufstand. Er war riesig, wie auch seine beiden Begleiter, die ihm folgten, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte und direkt auf sie zukam. Unter ihren edlen dunklen Maßanzügen waren alle drei sichtbar bewaffnet.

»Schau einer an, wen haben wir denn da?«, meinte der erste Agent – seiner gedehnten Sprechweise und den edlen, fast zarten Gesichtszügen nach stammte er aus dem Süden. »Da hast du jahrzehntelang mit uns bei der Agentur Dienst geschoben und dich nie dazu herabgelassen, mit uns hierherzukommen.«

Chase verzog den Mund und verbarg nur knapp seine ausgefahrenen Fänge. »Du klingst enttäuscht, Murdock. Aus solchem Kram hab ich mir nie was gemacht.«

»Nein, du warst immer über jede Versuchung erhaben«, antwortete der Vampir, sein Blick war so arglistig wie sein Lächeln. »Du warst ja immer so vorsichtig, so steif und diszipliniert, sogar in deinen Gelüsten. Aber die Dinge ändern sich ja. Leute können sich ändern, was, Chase? Wenn du hier etwas siehst, das dir gefällt, brauchst du’s nur zu sagen. Um der alten Zeiten willen, hm?«

»Wir suchen Informationen über einen Agenten namens Freyne«, warf Hunter ein, als Chases Antwort zu lange auf sich warten ließ. »Sobald wir haben, was wir brauchen, gehen wir.«

»Ach ja?« Murdock betrachtete ihn mit neugierig zur Seite gelegtem Kopf. Hunter sah, wie der Blick des Vampirs subtil von seinem Gesicht zu den Dermaglyphen seitlich an seinem Hals und in seinem Nacken wanderte. Der Mann brauchte nur einen Augenblick, um festzustellen, dass Hunters kunstvolles Hautmuster ihn als Gen Eins auswies, eine Seltenheit im Stamm.

Hunter war nicht annähernd so alt wie die anderen Gen-Eins-Krieger des Ordens, Lucan und Tegan. Aber auch er war von einem Ältesten seiner Spezies gezeugt worden, sein Blut war genauso rein wie ihres, und wie auch seine Gen-Eins-Brüder konnte er es an Stärke und übernatürlichen Kräften mit etwa zehn Vampiren späterer Generationen aufnehmen. Es war aber vor allem seine Ausbildung als Soldat von Dragos’ Killerarmee – ein Geheimnis, von dem nur der Orden wusste –, die ihn tödlicher machte als Murdock und alle Agenten in diesem Club zusammen.

Endlich schien Chase seine Zerstreutheit abzuschütteln. »Was kannst du uns über Freyne sagen?«

Murdock zuckte die Schultern. »Er ist tot. Aber ich schätze, das wisst ihr schon. Freyne und seine ganze Einheit wurden letzte Woche auf einer Mission getötet. Sie hatten versucht, einen Jungen zu befreien, der aus einem Dunklen Hafen gekidnappt worden war.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Wirklich ein Jammer. Die Agentur hat mehrere gute Männer verloren, und leider ist auch die Mission alles andere als befriedigend verlaufen.«

»Alles andere als befriedigend«, knurrte Chase höhnisch. »Könnte man so sagen. Soweit wir vom Orden wissen, war die Rettungsmission von Kellan Archer von Anfang bis Ende eine einzige Katastrophe. Der Junge, sein Vater und sein Großvater – verdammt, die ganze Familie Archer – wurden ausgelöscht – in einer einzigen Nacht.«

Hunter schwieg dazu, ließ Chase den Köder auswerfen, wie er es für richtig hielt. Das meiste von dem, was er Murdock vorwarf, stimmte. In der Nacht des Rettungsversuchs hatte es ein Blutbad mit unzähligen Todesopfern gegeben, und die Angehörigen von Kellan Archer hatte es am schwersten getroffen.

Aber im Gegensatz zu Chases Behauptung hatte es Überlebende gegeben. Genau gesagt, zwei. Beide waren heimlich vom Schauplatz des Gemetzels evakuiert worden, sie standen unter dem Schutz des Ordens und waren sicher im Hauptquartier untergebracht.

»Die Sache hätte besser ausgehen können, da sind wir uns einig. Sowohl für die Agentur als auch die Zivilisten, die ums Leben kamen. Fehler passieren nun einmal, so bedauerlich das ist. Leider werden wir wohl nie mit Sicherheit wissen, wer für die Tragödie der letzten Woche verantwortlich war.«

Chase kicherte leise. »Sei dir da nicht so sicher. Ich weiß doch, dass du und Freyne alte Kumpels wart. Verdammt, ich weiß doch, dass die Hälfte von allen hier in diesem Schuppen ihm regelmäßig Gefallen getan haben. Freyne war ein Arschloch, aber er wusste, wie man sich Freunde macht. Nur konnte er sein großes Maul nicht halten, das war sein größtes Problem. Wenn er in irgendwas dringesteckt hat, das mit der Entführung von Kellan Archer zu tun hatte oder mit dem Angriff, der den Dunklen Hafen der Archers in Schutt und Asche gelegt hat – und nur dass das klar ist, ich bin verdammt sicher, dass Freyne da mit drinhing –, dann dürfte er jemandem davon erzählt haben. Jede Wette, dass er vor mindestens einem von euch Losern hier in diesem beschissenen Schuppen damit aufgeschnitten hat.«

Murdocks Miene hatte sich bei Chases Worten immer weiter verkrampft, seine Augen hatten begonnen, sich vor Wut zu transformieren, und in den dunklen Iriskreisen blitzten bernsteinfarbene Lichtfunken auf, als Chases Stimme immer lauter in die Menge schallte.

Inzwischen hatte der halbe Raum innegehalten und starrte in ihre Richtung. Mehrere Männer sprangen von ihren Stühlen auf, stießen grob menschliche Blutwirte und drogenbetäubte Stripteasetänzerinnen beiseite, und dann sammelte sich eine Horde erboster Agenten um Chase und Hunter und wurde zusehends größer.

Chase wartete den Angriff des Mobs nicht ab.

Mit einem wilden Fauchen stürzte er sich in die Menge, ein Wirbel von dreschenden Fäusten und knirschenden Zähnen und Fängen.

Hunter blieb nichts anderes übrig, als sich ebenfalls ins Kampfgetümmel zu stürzen. Er stapfte mitten ins dickste Gewühl, warf jeden Angreifer mühelos beiseite und konzentrierte sich nur darauf, seinen Partner herauszuhauen. Chase kämpfte wie ein Tier, und das beunruhigte ihn. Mit wild verzerrtem Gesicht prügelte er auf die Menge ein, die ihn von allen Seiten bedrängte, seine riesigen Fänge füllten seinen Mund aus, und seine Augen brannten wie glühende Kohlen.

»Chase!«, schrie Hunter und fluchte, als er eine Fontäne Vampirblut hochspritzen sah – ob das seines Partners oder eines anderen, konnte er nicht sagen.

Noch blieb ihm eine Chance, es herauszufinden.

Aus dem Augenwinkel nahm er auf der anderen Seite des Clubs eine schnelle Bewegung wahr. Er warf den Kopf herum und fand sich Auge in Auge mit Murdock, der zu ihm herüberstarrte, ein Handy ans Ohr gepresst.

In Murdocks Gesicht stand unverkennbare Panik, als ihre Blicke sich über der kämpfenden Menge trafen. Und es war nur zu offensichtlich, dass er Dreck am Stecken hatte – Hunter sah es an der Anspannung um seinen Mund und den Schweißperlen auf seiner Stirn, in denen sich die wirbelnden Scheinwerfer der verwaisten Bühne reflektierten. Der Agent sprach hastig und nervös in sein Telefon und eilte dabei auf den hinteren Teil des Gebäudes zu.

In dem Sekundenbruchteil, den Hunter brauchte, um einen angreifenden Agenten abzuschütteln, war Murdock schon aus seinem Blickfeld verschwunden.

»Verdammter Mistkerl.« Hunter sprang mit einem Satz an dem Tumult vorbei. Jetzt musste er Chase sich selbst überlassen und die Verfolgung aufnehmen. Denn er wusste jetzt, dass sie die Spur gefunden hatten, wegen der sie heute Nacht hierhergekommen waren.

Er rannte los, seine übernatürliche Geschwindigkeit als Gen Eins trug ihn in den hinteren Teil des Clubs und durch eine angelehnte Tür auf die schmale Gasse zwischen den Backsteingebäuden hinaus, auf die Murdock geflohen war. Von ihm war keine Spur mehr zu sehen, aber die kalte Brise brachte aus einer Seitenstraße das laute Echo rennender Füße mit.

Hunter stürzte ihm nach und kam eben um die Ecke, als eine große schwarze Limousine mit quietschenden Reifen am Bordstein hielt. Die hintere Tür wurde aufgestoßen, Murdock sprang hinein und schlug sie hinter sich zu, während der Motor des Wagens wieder aufbrüllte.

Hunter rannte bereits auf ihn zu, als die Reifen auf dem Eis und Asphalt rauchten, und dann schoss der Wagen mit aufheulendem Motor auf die Straße und raste wie ein Dämon in die Nacht hinaus.

Hunter verschwendete keine Sekunde. Er sprang an der Wand des nächstgelegenen Backsteingebäudes hoch, packte eine rostige Feuerleiter und katapultierte sich aufs Dach. Seine Kampfstiefel dröhnten über die geteerten Dachplatten, als er von einem Flachdach zum nächsten raste, immer den fliehenden Wagen im Blick, der sich unten auf der Straße durch den späten Verkehr schlängelte.

Als er um eine Ecke auf einen dunklen, leeren Straßenabschnitt zuraste, warf Hunter sich in die Luft und landete mit einem markerschütternden Krachen auf dem Dach der Limousine. Den Schmerz beim Aufprall registrierte er kaum, er klammerte sich fest und spürte nur ruhige Entschlossenheit, als der Fahrer versuchte, ihn mit hektischen Slalomkurven abzuschütteln.

Der Wagen ruckte und scherte aus, aber Hunter hielt sich fest. Auf dem Dach ausgebreitet, eine Hand um den oberen Rand der Windschutzscheibe gekrallt, griff er mit der anderen nach seiner 9mm und zog sie aus dem Holster in seinem Kreuz. Wieder fuhr der Fahrer eine Runde Zickzackkurs auf der Straße und verfehlte bei seinem Versuch, den ungewollten Passagier loszuwerden, nur knapp einen geparkten Lieferwagen.

Mit der halbautomatischen Waffe in der Faust sprang Hunter in einem katzenartigen Salto vom Dach der rasenden Limousine und landete bäuchlings auf der Kühlerhaube. Er zielte auf den Fahrer, den Finger kühl auf dem Abzug, bereit, dem Fahrer das Hirn herauszupusten und sich Murdock zu schnappen, um dem verräterischen Bastard seine Geheimnisse zu entlocken.

Der Augenblick schien sich zu verlangsamen und wie in Zeitlupe abzulaufen. Einen Sekundenbruchteil war Hunter überrascht.

Der Fahrer trug ein dickes, schwarzes Halsband, sein Kopf war kahl rasiert und fast vollständig von einem verschlungenen Netz von Dermaglyphen bedeckt.

Das war einer von Dragos’ Killern.

Einer seiner Jäger, genau wie er selbst.

Ein Gen Eins, zum Töten gezüchtet und abgerichtet, genau wie er.

Hunters Überraschung wich schnell seinem Pflichtgefühl. Er war entschlossen, den Mann auszumerzen. Das hatte er dem Orden geschworen, als er ihm beigetreten war – es war seine persönliche Mission, alle Tötungsmaschinen aus Dragos’ Züchtung auszulöschen bis hin zur letzten.

Bevor es Dragos gelang, alle Produkte seines Wahnsinns auf die Welt loszulassen.

Hunter zielte mit dem Lauf seiner Beretta wieder auf die Stirn des Killers und wollte gerade abdrücken, da trat der Fahrer abrupt das Bremspedal durch.

Gummi und Metall rauchten protestierend, als die Limousine eine Vollbremsung hinlegte.

Hunter schlidderte von der Kühlerhaube, segelte durch die Luft und landete fünfzig Meter vor dem Wagen auf dem kalten Asphalt. Er rollte sich ab und war sofort wieder auf den Beinen, riss die Pistole hoch und feuerte Salve auf Salve in den stehenden Wagen.

Er sah, wie Murdock vom Rücksitz schlüpfte und sich mit einem Sprint in eine dunkle Seitengasse rettete. Aber er hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern, denn nun war auch der andere Gen Eins aus dem Wagen gestiegen und hatte den Lauf einer großkalibrigen Pistole auf ihn gerichtet. Sie sahen einander an, die Waffe des Killers schussbereit, seine Augen kalt und von derselben emotionslosen Entschlossenheit, die auch Hunter auf dem eisigen Asphalt Halt gab.

Beide schossen gleichzeitig.

Hunter wich der Kugel mit einer Bewegung aus, die ihm wie kalkulierte Zeitlupe vorkam. Er wusste, dass sein Gegner dasselbe getan hatte, als Hunters Kugel auf ihn zugeflogen kam. Wieder schossen sie, und dieses Mal ging ein Kugelregen nieder, beide Vampire feuerten ihre Magazine aufeinander leer. Keiner von ihnen bekam mehr als einen harmlosen Streifschuss ab.

Sie waren absolut ebenbürtige Gegner, ausgebildet in denselben Methoden – beide praktisch unbesiegbar und bereit zu kämpfen bis zum letzten Atemzug.

In einem Wirbel übernatürlicher Geschwindigkeit warfen sie ihre leeren Waffen fort und gingen zum Nahkampf über.

Hunter wich den schnellen Schlägen gegen den Oberkörper aus, die der Killer ihm versetzte, als er sich brüllend auf ihn stürzte. Er hätte fast einen Tritt gegen den Kiefer bekommen, wenn er nicht abrupt den Kopf zur Seite gerissen hätte, dann einen weiteren Tritt in die Rippen, dem er aber zuvorkam, indem er den Killer am Stiefel packte, ihn herumriss und ihn in der Luft zum Rotieren brachte.

Fast mühelos fand der Killer sein Gleichgewicht wieder und stürzte sich erneut auf Hunter. Er schlug nach ihm, und Hunter packte seine Faust, drückte zu und zermalmte ihm die Knochen. Dann kam er um ihn herum, setzte seinen Körper als Hebel ein und riss gleichzeitig den ausgestreckten Arm des Killers am Ellbogen nach hinten. Das Gelenk brach mit einem scharfen Knacken, und doch stieß der Killer nur einen Grunzlaut aus, der einzige Hinweis auf die höllischen Schmerzen, die er haben musste. Sein verletzter Arm hing schlaff und nutzlos herab, als er herumwirbelte und Hunter einen weiteren Schlag ins Gesicht versetzte. Es war ein Volltreffer, der Hunter die Haut direkt über dem rechten Auge aufriss. Hunter sah Sterne, aber er schüttelte seine vorübergehende Benommenheit ab, gerade noch rechtzeitig, um eine zweite Attacke abzuwehren – jetzt kamen Faust und Fuß im selben Moment auf ihn zugeschossen.

So ging es hin und her, beide Männer keuchten heftig vor Anstrengung, beide bluteten, wo der andere einen Treffer gelandet hatte. Keiner würde um Gnade bitten, egal, wie lang ihr Zweikampf dauern oder wie blutig er noch werden würde.

Gnade war ein Konzept, das ihnen fremd war, genauso wie Mitleid. Zwei Begriffe, die man von Kindheit an aus ihrem Wortschatz herausgeprügelt hatte.

Das Einzige, was schlimmer war als Gnade oder Mitleid, war Versagen, und als Hunter den gebrochenen Arm seines Gegners in die Hand bekam, den riesigen Mann zu Boden riss und ihm das Knie in den Rücken rammte, flackerte in den kalten Augen des Gen Eins die düstere Erkenntnis auf, dass er versagt hatte.

Diese Schlacht hatte er verloren. Er wusste es, genau wie auch Hunter es wusste, der im nächsten Augenblick das dicke schwarze Halsband des Killers zu fassen bekam.

Mit der freien Hand tastete Hunter nach einer der fortgeworfenen Pistolen auf dem Asphalt und bekam sie in die Hand. Er wirbelte sie herum, holte aus und ließ den metallenen Kolben wie einen Hammer auf das Halsband des Killers hinabsausen.

Wieder schlug er zu, dieses Mal fester. Sein Schlag trieb eine Delle in das undurchdringliche Material, in dem ein diabolischer Mechanismus verborgen war – von Dragos und seinem Labor zu dem einzigen Zweck geschaffen, die Loyalität und den Gehorsam seiner tödlichen Armee zu gewährleisten.

Hunter hörte ein leises Summen. Dragos’ Killer griff mit seiner unverletzten Hand nach seinem Halsband – ob er sich der Gefahr vergewissern wollte oder vergeblich versuchte, sie aufzuhalten, würde Hunter nie erfahren.

Er rollte in Deckung … gerade, als die beschädigte Hülle die Detonation auslöste und aus dem Inneren des Halsbandes ultraviolette Strahlen hervorschossen.

Es gab einen sengenden, tödlichen Lichtblitz, der dem Killer mit einem sauberen Schnitt den Kopf abtrennte.

Als die Straße wieder in Dunkelheit fiel, starrte Hunter auf die rauchende Leiche des Mannes hinunter, der ihm in so vieler Hinsicht so ähnlich gewesen war. Sein Bruder, obwohl es bei den Killern von Dragos’ Privatarmee keine verwandtschaftlichen Gefühle gab.

Er spürte keine Gewissensbisse wegen des toten Killers, der da vor ihm lag, lediglich ein vages Gefühl der Befriedigung, dass es nun einen weniger gab, der Dragos’ wahnsinnige Pläne ausführen konnte.

Er würde nicht rasten noch ruhen, bevor er sie nicht alle ausgelöscht hatte.