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»Bist du sicher, dass du nichts anderes zu essen oder zu trinken möchtest?«

Gabrielle kam wieder in die Bibliothek zurück. Ihre Wangen waren erhitzt, und ihre braunen Augen schienen irgendwie strahlender, seit sie vor wenigen Minuten mit dem Teetablett den Raum verlassen hatte. Mit etwas abwesendem Blick hob Lucan Thornes Stammesgefährtin ihre Fingerspitzen an die Lippen und lächelte leise in sich hinein. Doch einen Augenblick später blinzelte sie den Ausdruck fort, kam herüber und setzte sich wieder auf ihren Platz auf dem Sofa.

»Tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Lucan und ich mussten noch schnell etwas besprechen«, sagte sie so liebenswürdig und gastfreundlich wie eine alte Freundin, obwohl sie sich erst vor wenigen Stunden kennengelernt hatten. »Ist es dir zu kalt hier? Ach du Arme, du zitterst ja.«

»Ist nicht schlimm.« Corinne Bishop vergrub sich tiefer in ihren blassgrauen Wickelcardigan und schüttelte den Kopf, während ein weiteres Beben sie bis tief in ihre Knochen erschauern ließ. »Mir geht’s gut, wirklich.«

Ihr Unbehagen hatte mit der Temperatur im Hauptquartier des Ordens nichts zu tun. Hier war sie von einem Luxus und einer Wärme umgeben, die sie kaum fassen konnte. Sie hatte das verblüffend weitläufige unterirdische Hauptquartier schon seit ihrer Ankunft bestaunt, und die elegante Bibliothek, wo sie jetzt mit Gabrielle saß, war mit Sicherheit der vornehmste Raum, in dem sie sich seit sehr langer Zeit aufgehalten hatte.

Jahrzehntelang war ihr Zuhause nur wenig besser als eine Gruft gewesen. Mit achtzehn Jahren war Corinne zusammen mit etlichen anderen jungen Frauen von einem Wahnsinnigen namens Dragos entführt und gefangen worden, einfach nur, weil jede einzelne von ihnen eine Stammesgefährtin gewesen war.

Corinne sah auf ihre im Schoß gefalteten Hände hinunter und fuhr müßig mit dem Daumen über das winzige purpurrote Muttermal auf ihrem rechten Handrücken, das jede Stammesgefährtin irgendwo auf ihrem Körper trug. Dieses Mal in Form einer Träne, die in die Wiege einer Mondsichel fiel, machte sie zum Teil einer außergewöhnlichen Welt – der geheimen, ewigen Welt des Stammes. Es hatte sie vor einem Leben in Armut und Vernachlässigung gerettet, nachdem sie nur Stunden nach ihrer Geburt an der Hintertür eines Detroiter Krankenhauses ausgesetzt worden war.

Dieses kleine blutrote Muttermal hatte ihr Zugang zum Leben ihrer Adoptiveltern Victor und Regina Bishop verschafft. Das blutsverbundene Paar, das bereits einen eigenen Sohn hatte, hatte Corinne und ihre jüngere Adoptivschwester Charlotte bei sich in ihrem luxuriösen Dunklen Hafen aufgenommen. Sie hatten den beiden elternlosen Mädchen ein liebevolles Zuhause gegeben und nur das Beste von allem, was das Leben zu bieten hatte.

Wenn sie damals nur erwachsen genug gewesen wäre, um das alles schätzen zu können.

Wenn sie nur die Chance gehabt hätte, ihrer Familie noch einmal zu sagen, dass sie sie liebte … bevor ein Schurke namens Dragos sie aus ihrem Leben herausgerissen und in eine scheinbar unendliche Hölle geworfen hatte, aus der es keinen Ausweg gab.

Und das alles nur wegen dieses kleinen roten Muttermals auf ihrem Handrücken. Wegen ihm hatte sie unendlichen Schmerz und Kummer erlitten. Man hatte sie gefoltert und vergewaltigt, sie gegen ihren Willen am Leben erhalten und gezwungen, unaussprechliche Dinge zu erleiden, an die sie jetzt nach ihrer Befreiung kaum zu denken wagte, geschweige denn jemandem davon zu erzählen. Ihr und etwa zwanzig anderen Gefangenen von Dragos war es gelungen, seine Folterungen und Experimente zu überleben, bis die Ordenskrieger und ihre unglaublich beherzten, einfallsreichen Stammesgefährtinnen ihnen letzte Woche zu Hilfe gekommen waren.

Die letzten paar Tage seit ihrer Rettung waren Corinne und die anderen befreiten Gefangenen im Dunklen Hafen eines weiteren Paares in Rhode Island untergebracht worden, dessen Großzügigkeit und liebevolle Fürsorge ein Geschenk des Himmels für sie gewesen waren. Andreas Reichen und seine Gefährtin Claire, alte Freunde des Ordens, hatten alle Evakuierten bei sich aufgenommen und sie mit Kleidern und allem anderen versorgt, was sie brauchten, um wieder ein Gefühl von Normalität zu bekommen und ihr Leben jenseits von Dragos’ Zugriff neu zu beginnen.

Das Einzige, was Corinne brauchte, war ihre Familie. Sie war verblüfft gewesen, als man ihr gesagt hatte, dass sie die einzige eingekerkerte Stammesgefährtin war, die Dragos aus einer Familie in einem Dunklen Hafen entführt hatte. All die anderen Frauen waren aus Jugendeinrichtungen eingesammelt worden oder hatten allein gelebt, und alle waren völlig ahnungslos gewesen, dass sie etwas Besonderes waren – bis Dragos’ Wahnsinn ihnen die Scheuklappen von den Augen gerissen hatte.

Aber Corinne hatte gewusst, was sie war. Sie hatte eine Familie gehabt, die sie liebte, die sie vermisst und um sie getrauert hatte, als Jahrzehnte ins Land gingen und sie nicht zurückkehrte. Sie war anders als Dragos’ andere Opfer. Und doch hatte sie dieselben Qualen erlitten wie sie – eher noch größere, da der Gedanke an ihre leidenden Eltern und Geschwister ihr die Kraft gegeben hatte, ihrem Entführer zu trotzen.

Das Bedürfnis, so schnell wie möglich wieder dort zu sein, wo sie hingehörte, bei ihrer Familie, die ihr helfen konnte zu heilen – vielleicht die Einzigen, die ihr wirklich dabei helfen konnten, sich alles zurückzuholen, was sie in ihrer Gefangenschaft verloren hatte –, verzehrte sie und wurde immer stärker, als die Tage und Stunden vergingen und wertvolle Zeit verstrich.

Sie konnte nur hoffen, dass man sie wieder aufnehmen würde, und nur beten, dass man sie in all den langen Jahren nicht vergessen hatte. Sie konnte sich nur aus ganzem Herzen wünschen, dass ihre Eltern sie immer noch liebten.

Sie sah auf und merkte, dass Gabrielle sie besorgt ansah. »Wann wollte Brock zurück in Boston sein?«

Gabrielle stieß einen leisen Seufzer aus und schüttelte langsam den Kopf. »Wahrscheinlich schafft er es frühestens in einem Tag. Könnte auch länger dauern, wenn sich der Schneesturm in Fairbanks nicht bald legt.«

Corinne konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Nach ihrer Befreiung zu entdecken, dass der Bodyguard ihrer Kindheit aus Detroit einer ihrer Retter war, hatte ihr den ersten wirklichen Hoffnungsschimmer gegeben. Brock war dem Orden lange nach ihrem Verschwinden beigetreten, und er hatte sich kürzlich verliebt. Es war diese Liebe, die ihn vor einigen Tagen nach Alaska geführt hatte, aber er hatte Corinne sein Wort gegeben, sie persönlich heil nach Detroit zurückzubringen, sobald er und seine Gefährtin Jenna wieder zurück wären.

Corinne brauchte Brocks Unterstützung. Er war immer ihr Vertrauter gewesen, ein wahrer Freund. Als kleines Mädchen hatte sie darauf vertraut, dass er sie beschützte. Sie brauchte jetzt mehr als alles andere das Gefühl, dass sie in Sicherheit war und dass ihr auf ihrer Heimreise keine Gefahr drohte.

Ein verängstigter kleiner Teil ihrer selbst machte sich Sorgen, dass sie ohne jemanden wie Brock an ihrer Seite, dem sie blind vertrauen konnte, vielleicht gar nicht die Kraft haben würde, bei ihrer Familie anzuklopfen.

»Wie ich von Claire und Andreas gehört habe, hast du noch keinen Kontakt mit deiner Familie aufgenommen«, unterbrach Gabrielle sanft ihren Gedankengang. »Sie wissen noch gar nicht, dass du am Leben bist?«

»Nein«, antwortete Corinne.

»Möchtest du sie nicht anrufen? Sie wollen doch sicher wissen, dass du hier in Sicherheit bist und bald zu ihnen nach Hause kommst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist so lange her. Ich erinnere mich an unsere Telefonnummer von damals, aber ich weiß gar nicht, wie ich sie heute erreichen soll …«

»Das ist doch gar kein Problem.« Gabrielle zeigte auf ein flaches weißes Gerät auf dem Schreibtisch der Bibliothek. »Es dauert nur eine Minute, sie im Computer zu finden. Du könntest sie sofort anrufen. Wenn du möchtest, kannst du sogar über Video mit ihnen reden.«

»Danke, aber lieber nicht.« Diese technischen Begriffe waren Corinne neu, fast so überwältigend wie der Gedanke, mit ihren Eltern zu reden, ohne selbst bei ihnen zu sein, sie zu berühren und ihre Arme wieder um sich zu spüren. »Es ist nur, dass ich … gar nicht weiß, was ich ihnen nach dieser langen Zeit sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich ihnen sagen erzählen soll, dass …«

Gabrielle nickte verständnisvoll. »Dafür musst du dort bei ihnen sein.«

»Ja. Ich will einfach nur nach Hause.«

»Natürlich«, sagte Gabrielle. »Mach dir keine Sorgen. Wir sorgen schon dafür, dass du so schnell wie möglich nach Hause kommst.«

Sie sahen beide auf, als jemand draußen im Korridor leise an den Türrahmen klopfte. Eine hübsche Blondine mit blassvioletten Augen öffnete die Tür und spähte in den Raum.

»Störe ich?«

»Nein, Elise, komm nur.« Gabrielle stand auf und winkte die andere Frau herein. »Corinne und ich haben uns nur eine Weile unterhalten, solange wir darauf gewartet haben, von Brock und Jenna zu hören.«

Elise trat in den Raum und lächelte Corinne herzlich zu. »Ich dachte, ich komme herunter und leiste euch ein Weilchen Gesellschaft, bis die anderen von der Patrouille zurück sind.«

Einige der Frauen des Ordens hatte Corinne bei ihrer Ankunft vorhin bereits kennengelernt. Soweit sie sich erinnerte, war Elises Gefährte ein Krieger namens Tegan. Man hatte ihr gesagt, dass er und die meisten anderen Mitglieder des Ordens auf ihren Missionen in der Stadt unterwegs waren, alle auf das einzige Ziel konzentriert, Dragos und seine Anhänger zur Strecke zu bringen.

Der Gedanke gab ihr große Zuversicht. Wenn eine so außergewöhnliche Gruppe wie diese dermaßen entschlossen war, ihn zu fangen, hatte Dragos keine Chance zu entkommen.

Und doch war es ihm gelungen.

Wieder und wieder, soweit Corinne es verstanden hatte, war es ihm gelungen, dem Orden einen Schritt voraus zu sein. Sie waren eine mächtige Kraft, aber Corinne wusste aus erster Hand, dass Dragos ebenfalls mächtig war. Er hatte seine eigenen Soldaten und seine eigene, schreckliche Strategie.

Und er war wahnsinnig – das machte ihn so gefährlich. Auch das hatte Corinne am eigenen Leib erfahren müssen, und nun überfluteten ihre entsetzlichen Erinnerungen sie wie eine dunkle Welle. Sie taumelte unter ihrem Ansturm, als sie jetzt vom Sofa aufstand, um sich neben Gabrielle und Elise zu stellen. Die Panikattacke kam dieses Mal schnell, viel schneller als noch vor einer Weile. Als Gabrielle sie vorhin in der Bibliothek allein gelassen hatte, war es Corinne irgendwie gelungen, ihre Panik niederzukämpfen.

Aber dieses Mal nicht.

Die deckenhohen Bücherregale waberten ihr vor den Augen, und die Wände der Bibliothek schienen von allen Seiten zusammenzurücken, um sie zu erdrücken. Der stolze dunkle Ritter auf seinem schwarzen Schlachtross auf dem riesigen Gobelin an der gegenüberliegenden Wand verzerrte sich, und das gut aussehende Gesicht des Mannes und sein prächtiges Pferd mutierten zu einer dämonischen, höhnischen Gestalt.

Sie schloss die Augen, aber die Dunkelheit half nicht. Denn nun war sie plötzlich wieder in Dragos’ stockdunkler, nasskalter Gefängniszelle, nackt, zitternd und allein, und wartete auf den Tod. Betete um ihn, da er ihr als der einzige Ausweg aus diesem Horror erschien.

Corinne holte hastig Atem, aber es war, als käme gar kein Sauerstoff in ihre Lungen. Der Raum um sie herum verdichtete sich zum Nichts.

»Corinne?« Gabrielle und Elise sagten beide gleichzeitig ihren Namen. Beide Frauen streckten die Arme nach ihr aus, hielten sie aufrecht, stützten sie.

Corinne hörte sich selbst nach Atem keuchen. »Muss raus … muss aus dieser Zelle raus …«

»Kannst du gehen?«, fragte Elise besorgt. »Halt dich an uns fest, Corinne. Das wird schon wieder.«

Ihr gelang ein Nicken. Die beiden halfen ihr in den Korridor hinaus, kühler weißer Marmor erstreckte sich in beide Richtungen. Der Korridor war breit und endlos und beruhigte sie sofort. Sie ließ das Schimmern der strahlend hellen Wände auf sich wirken, atmete tief ein und spürte, wie die Blockade in ihren Lungen sich wieder ein wenig zu lösen begann.

Ja, Gott sei Dank. Sie fühlte sich schon besser.

Gabrielle streckte die Hand aus und strich Corinne eine dunkle Haarsträhne aus den Augen. »Geht’s wieder?«

Corinne nickte, sie atmete immer noch heftig, spürte aber, wie ihr Panikanfall sich wieder legte. »Manchmal … manchmal habe ich das Gefühl, ich bin immer noch dort drin. Immer noch in diesem schrecklichen Kerker eingesperrt«, flüsterte sie. »Tut mir leid. Das ist mir so peinlich.«

»Ach was.« Gabrielle lächelte sie mitfühlend an. »Dir muss nichts leid tun, und dir muss auch nichts peinlich sein. Nicht unter Freunden.«

»Komm«, sagte Elise. »Wir bringen dich hoch ins Anwesen und machen einen kleinen Spaziergang im Garten, bis du dich besser fühlst.«

Als der Aufzug von der Garage unten im Hauptquartier ankam, warf Hunter seinem verletzten Patrouillenpartner einen stummen, abschätzenden Blick zu.

Sterling Chase lehnte an der gegenüberliegenden Wand der Liftkabine. Er ließ den Kopf tief auf die Brust hängen, das goldbraune Haar hing ihm verfilzt in die Stirn, und er atmete hastig und keuchend durch die Zähne. Seine schwarzen Drillichhosen waren zerrissen und blutgetränkt, sein Gesicht voller Schnittwunden und anschwellender Prellungen. Seine Nase musste gebrochen sein, und seine Oberlippe war aufgeplatzt, Blut lief ihm bis aufs Kinn hinunter. Höchstwahrscheinlich war auch sein Kiefer gebrochen.

Der Krieger hatte sich bei der Schlägerei in der Stadt jede Menge Verletzungen geholt, aber nichts, was die Zeit und eine anständige Nahrungsaufnahme nicht kurieren würden.

Nicht dass Chase sich etwas aus seinem Zustand zu machen schien.

Die Lifttüren glitten mit einem leisen Zischen auf, und er stolzierte arrogant vor Hunter auf den Korridor hinaus.

Nach wenigen Schritten verstellte Lucan ihm den Weg. Und als Chase keine Anstalten machte, stehen zu bleiben, legte er ihm flach die Hand auf die Brust und hinderte ihn handgreiflich am Weitergehen. »Habt euch heute Nacht in Chinatown gut amüsiert, ja?«

Chase stieß einen Grunzlaut aus, und seine aufgeplatzte Lippe riss noch weiter auf, als er Lucan zynisch angrinste. »Mathias Rowan hat also schon gepetzt, was?«

»Er hat sich bei mir gemeldet. Und das ist mehr, als ich von euch beiden sagen kann«, antwortete Lucan knapp, und sein wütender Blick wanderte kurz von Chases lädierter Erscheinung zu Hunter, dessen Drillichhosen ebenfalls jede Menge Agentenblut abbekommen hatten. »Rowan hat mir alles über eure beschissene Aktion erzählt. Er sagt, es gab mehrere Tote und Verletzte, und jeder Agent, mit dem er geredet hat, macht für diese grundlose Attacke allein dich verantwortlich, Chase.«

Der schnaubte höhnisch. »Grundlos, dass ich nicht lache. Jeder einzelne Agent in diesem Schuppen hat nur einen Grund gesucht, sich mit mir anzulegen.«

»Und du hattest nichts Besseres zu tun, als ihnen einen zu liefern, ja?« Als Chase ihn zur Antwort nur wütend ansah, schüttelte Lucan den Kopf. »Was du bist, ist waghalsig, mein Alter. Du hast heute Nacht schon wieder Scheiße gebaut, die andere für dich wegräumen dürfen. In letzter Zeit wird das zur Gewohnheit bei dir, und das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Du hast mich rausgeschickt, um einen Job zu erledigen«, schoss Chase finster zurück. »Manchmal werden die Dinge eben unangenehm.«

Lucan machte die Augen schmal, jetzt strahlte sein ganzer Körper Wut aus, eine so intensive Hitze, dass sogar Hunter sie spürte, der einige Schritte entfernt neben Gideon stand. »Ich frage mich, ob du überhaupt noch weißt, was dein Job ist, Chase. Denn wenn du das wüsstest, würdest du nicht mit leeren Händen hierher zurückkommen und nach Blut und Arroganz stinken. Was mich angeht, hast du heute Nacht da draußen versagt. Was hast du über Freyne herausgefunden? Sind wir Dragos oder seinen anderen potenziellen Verbündeten auch nur einen verdammten Zentimeter näher gekommen?«

»Das sind wir vielleicht«, warf Hunter ein.

Lucan warf den Kopf herum und funkelte ihn an. »Ich höre.«

»Da war ein Agent namens Murdock«, antwortete Hunter. »Er hat Chase und mich angesprochen, als wir im Club ankamen. Es gab einen Wortwechsel, aber er hatte keine nützlichen Informationen für uns. Sobald der Kampf begann, wurde er sichtlich nervös. Ich habe ihn telefonieren sehen, bevor er im Chaos entwischt ist.«

»Das soll eine Spur sein?«, murmelte Chase verächtlich. »Sieht ihm ähnlich abzuhauen, ich kenne den Kerl. Murdock ist ein Feigling, der dir lieber ein Messer in den Rücken jagt, als sich einem offenen Kampf zu stellen.«

Hunter ignorierte den Kommentar seines Patrouillenpartners und hielt dem durchdringenden Blick seines Anführers stand. »Murdock ist durch den Hintereingang auf die Gasse geflohen. Es kam schon ein Wagen, um ihn abzuholen. Der Fahrer war ein Gen-Eins-Killer.«

»Ach du Scheiße«, bemerkte Gideon neben Hunter und fuhr sich mit der Hand durch seinen stacheligen blonden Haarschopf.

Lucans Gesicht verhärtete sich, während Chase ganz still und reglos geworden war und genauso aufmerksam zuhörte wie die anderen.

»Ich habe den Wagen zu Fuß verfolgt«, fuhr Hunter fort. »Den Killer habe ich neutralisiert.«

Er griff nach hinten in den Bund seiner Drillichhose und zog das detonierte Halsband heraus, das er seinem toten Gegner abgenommen hatte.

Gideon nahm ihm den Ring aus verkohltem schwarzen Polymer aus der Hand. «Noch einer für deine Sammlung, was? Du hast ganz schöne Abschussquoten in letzter Zeit. Gute Arbeit.«

Hunter verzog keine Miene über das unnötige Lob.

»Was ist mit Murdock?«, fragte Lucan.

»Entkommen«, antwortete Hunter. »Er ist geflohen, als ich mit dem Fahrer beschäftigt war. Ich musste mich entscheiden, ihn entweder zu verfolgen oder in den Club zurückzugehen und meinen Partner herauszuhauen.«

Eine Entscheidung, die ihm alles andere als leichtgefallen war. Sein Verstand und seine Ausbildung als einer von Dragos’ Soldaten verlangten von ihm, dass er seine Missionen allein ausführte: effizient, unpersönlich und absolut unabhängig. Murdock war eine wichtige Zielperson; ihn zu verhören würde ihnen sicher wertvolle Informationen bringen. Um diese Mission erfolgreich abschließen zu können, war für Hunter demnach die logische Vorgehensweise, den entkommenen Agenten wieder einzufangen.

Aber der Orden operierte gemäß einem anderen Grundsatz, und er hatte geschworen, ihn einzuhalten, als er dem Orden beigetreten war, auch wenn er allem zuwiderlief, was er gelernt hatte. Die Krieger hatten einen Kodex für jede Mission: Wenn ein Team zusammen rausging, kam es auch zusammen wieder, keiner wurde je zurückgelassen.

Nicht einmal, wenn einem deshalb ein wichtiger Gegner durch die Lappen ging.

»Ich kenne Murdock«, sagte Chase und wischte sich mit dem Handrücken etwas Blut vom Kinn. »Ich weiß, wo er wohnt, ich weiß, wo er sich in seiner Freizeit rumtreibt. Den werde ich schnell finden …«

»Einen Dreck wirst du«, unterbrach ihn Lucan. »Hiermit suspendiere ich dich von dieser Mission. Bis auf Weiteres läuft jeder Kontakt zur Agentur ausschließlich über mich. Gideon kann über Murdocks Immobilienbesitz und seine persönlichen Gewohnheiten alles ausgraben, was wir brauchen. Wenn du denkst, du hättest noch irgendwas Nützliches hinzuzufügen, sag es Gideon. Wie und wann wir uns dieses Arschloch Murdock vornehmen, entscheide ich – und auch, wer für diesen Job der geeignete Mann ist.«

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Chases blaue Augen glitzerten wütend unter seinen gesenkten Brauen, und er machte Anstalten zu gehen.

Lucan drehte kaum merklich den Kopf, seine Stimme war so tief wie fernes Donnergrollen. »Ich habe nicht gesagt, dass wir fertig sind.«

Chase stieß ein höhnisches Knurren aus. »Klingt doch, als hättest du alles unter Kontrolle, also wozu brauchst du mich noch?«

»Das frage ich mich schon die ganze Nacht«, antwortete Lucan ruhig. »Wozu zum Teufel brauche ich dich eigentlich noch?«

Zur Antwort murmelte Chase eine Obszönität und tat einen weiteren Schritt, aber plötzlich war Lucan direkt vor ihm. Er hatte sich so schnell bewegt, dass es selbst Hunter schwergefallen war, ihn wahrzunehmen, und nun sprang er Chase mit einer geballten Dosis Gen-Eins-Kraft an und rammte ihn so hart mit der Schulter, dass der andere Krieger durch die Luft flog und gegen die gegenüberliegende Korridorwand krachte.

Mit einem gezischten Fluch richtete Chase sich wieder auf und ging mit Augen wie glühenden Kohlen und voll ausgefahrenen Fängen fauchend zum Frontalangriff über.

Dieses Mal war es Hunter, der sich am schnellsten bewegte.

Um den Angriff auf den Anführer des Ordens – auf seinen Anführer – abzuwehren, stellte er sich zwischen die beiden Vampire und packte Chase mit einer Hand hart an der Kehle.

»Wegtreten, Krieger«, wies er seinen Waffenbruder an.

Es war die einzige Warnung, die Hunter ihm geben würde. Wenn Chase auch nur zuckte, hatte Hunter keine Wahl, als so lange zuzudrücken, bis ihm die Angriffslust vergangen war.

Die Lippen vom Zahnfleisch zurückgezogen, starrte Chase ihn mit wild gefletschten Fängen und fest zusammengebissenen Zähnen in einem schweren, beredten Schweigen an. Da spürte Hunter hinter sich im Korridor eine Bewegung und hörte das leise Aufkeuchen einer Frau – nur ein leises Atemholen durch geöffnete Lippen.

Chases Blick wanderte in die Richtung, und etwas von seiner wütenden Anspannung wich nun von ihm. Hunter ließ ihn los und trat von ihm zurück.

»Was ist hier los, Lucan?«

Hunter drehte sich ebenso wie die anderen Männern im Korridor um und fand sich Lucans Gefährtin Gabrielle und zwei anderen Frauen gegenüber. Hunter kannte die zierliche Blonde mit den hellen veilchenfarbenen Augen, Tegans Gefährtin Elise. Sie war es gewesen, die eben aufgekeucht hatte und sich immer noch die Hand vor den Mund hielt.

»Ich bin hier raus«, murmelte Chase sichtlich kleinlaut, drängte sich an Hunter und den anderen vorbei und stapfte den Korridor hinunter zu seinem Quartier.

Hunter registrierte kaum, dass der Krieger gegangen war.

Seine ganze Aufmerksamkeit war gebannt auf die dritte Frau gerichtet, die im Korridor stand. Sie war klein und zierlich, mit heller Haut hinter dichtem, langem rabenschwarzem Haar, das ihr Gesicht zum Teil vor ihm verbarg, und in diesem Augenblick war er völlig fasziniert von ihr, konnte den Blick nicht von ihren riesigen, leicht schräg geschnittenen blaugrünen Augen abwenden. Unfähig, ihre genaue Farbe zu bestimmen, versuchte er es gar nicht erst und bemühte sich stattdessen festzustellen, was er so interessant an ihr fand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Gabrielle und ging sichtlich besorgt zu Lucan hinüber.

»Klar«, antwortete er. »Jetzt schon.«

Langsam ging Hunter auf die unbekannte Frau zu, er war sich kaum bewusst, dass sich seine Füße bewegten, bis er direkt vor ihr stand. Da sah sie zu ihm auf, hob ihr perfekt oval geschnittenes Gesicht, bis ihr Blick über seinen ganzen riesigen, blutbespritzten Körper gewandert war und sie einander in die Augen sahen.

Sie war eine Fremde für ihn, und doch kam sie ihm seltsam vertraut vor.

Er musterte sie mit schief gelegtem Kopf, hatte das eigenartige Gefühl, sie irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Schließlich platzte er mit dem erstbesten Gedanken heraus, der ihm durch den Kopf ging. »Kenne ich dich …?«

Gabrielle räusperte sich und kam herüber, als wollte sie die Frau vor ihm schützen. »Corinne, das ist Hunter. Er ist ein Mitglied des Ordens. Sag guten Tag, Hunter.«

Er knurrte ein Hallo und starrte sie immer noch an.

»Ich habe dich bei unserer Rettungsaktion gesehen«, sagte sie leise. »Du warst einer der Krieger, die mich und die anderen zu Claires und Andreas’ Dunklem Hafen gefahren haben.«

Da war sie also eine von Dragos’ Gefangenen gewesen. Das war es vermutlich, dachte er. Er nickte vage, seine Neugier etwas befriedigt. Aber er hatte sie nicht in Rhode Island gesehen, da war er sich fast sicher. An dieses Gesicht, an diese strahlenden Augen hätte er sich erinnert.

»Ich fürchte, wir wissen immer noch nicht genau, wann Brock und Jenna zurückkommen«, sagte Gideon zu der dunkelhaarigen Schönheit. «Der Wetterbericht aus Alaska sieht nicht gut aus. Für mindestens die nächsten drei Tage ist da kein Durchkommen.«

»Noch drei Tage?« Corinne runzelte leicht ihre glatte Stirn. »Aber ich muss wirklich nach Hause. Ich muss bei meiner Familie sein.«

Lucan stieß einen Seufzer aus. »Natürlich. Da Brock momentan ein paar tausend Meilen und ein paar Schneestürme von Boston entfernt ist, wird wohl jemand anders dich …«

»Ich bringe sie hin.« Hunter spürte, dass Lucan ihn anstarrte, sobald er die Worte ausgesprochen hatte. Er sah dem anderen Gen Eins in die Augen und nickte entschlossen. »Ich sorge dafür, dass sie sicher nach Hause zu ihrer Familie kommt.«

Keine schwere Aufgabe, sollte man meinen, und doch senkte sich schlagartig eine lange Stille über die Anwesenden. Am erschrockensten schien Corinne selbst. Sie starrte stumm zu ihm auf, und einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie sein Angebot zurückweisen würde.

»Das sind etwa vierzehn Stunden Fahrt«, sagte Gideon. »Da seid ihr ein paar Tage unterwegs, weil ihr ja nur nachts fahren könnt. Wenn ihr sofort aufbrecht, könnt ihr vor Sonnenaufgang etwa hundert Meilen schaffen. Oder ich könnte bis Sonnenuntergang einen unserer Privatjets auftanken und startklar machen lassen. Ein paar Flugstunden, und ihr seid da.«

Lucan starrte ihn scharf an, dann nickte er. »Je schneller, desto besser. Ich brauche dich morgen Nacht wieder hier auf Patrouille.«

»Wird erledigt«, antwortete Hunter.