6

Die Frau war in Sicherheit, sein Job war erledigt.

Das sagte sich Hunter, nachdem er Corinne Bishop der Security-Einheit ihres Vaters übergeben hatte. Die Wächter öffneten ihr unverzüglich das Tor und überschlugen sich fast vor Entschuldigungen für ihren ungewollt feindseligen Empfang. Der, der Mason hieß, starrte sie mit feuchten Augen an, und vor Erschütterung versagte ihm fast die Stimme, als er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr und murmelte, dass er nicht fassen könne, sie lebendig vor sich zu sehen. Mason winkte den anderen Wächtern vorzugehen, legte Corinne beschützend den Arm um die zierlichen Schultern und ging mit ihr den kopfsteingepflasterten Auffahrtsweg zum Anwesen hinauf.

Hunter blieb am Tor stehen und sah ihr nach.

Seine Aufgabe, sie sicher bei ihrer Familie abzugeben, war erfüllt. Jetzt konnte er zum Flughafen zurück, wo der Privatjet des Ordens auf ihn wartete und ihn zurück nach Boston bringen würde. Gleich würde Corinne Bishop wieder sicher im Dunklen Hafen ihrer Familie sein, und schon in wenigen Stunden konnte er sich wieder der wichtigeren Aufgabe widmen, Dragos und seine Armee von Gen-Eins-Killern zu verfolgen.

Und doch war da immer noch die Sache mit Miras Vision …

Als die Wächter ihres Vaters sie weiter den Zufahrtsweg hinaufführten, sah Corinne sich zu ihm um. Der kalte Wind erfasste ihr langes schwarzes Haar, dunkle Strähnen flatterten über ihre blassen Wangen und ihre Stirn. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, aber die Worte waren verloren, und der Wind nahm ihre Atemwolke mit sich fort. Ihr Blick verweilte auf ihm. Er spürte, wie dieser lange, gehetzte Blick ihn über die Entfernung hinweg suchte, so spürbar wie eine Berührung.

Er beobachtete, wie Corinne Bishop immer weiter von ihm fortgeführt wurde, und sah plötzlich wieder das tränenüberströmte Gesicht und die wilde Verzweiflung der Frau aus Miras Vision vor sich. Er hörte ihre Stimme voller Angst und Qual.

Bitte, ich flehe dich an …

Ich liebe ihn …

Du musst ihn am Leben lassen …

Während sein Verstand ihn daran erinnerte, dass die Sehergabe des Kindes sich noch nie geirrt hatte, meldete sich in Hunter jetzt ein hartnäckiges, unvertrautes Gefühl zu Wort. Der kluge Taktiker in ihm schlug vor, dass die Vision ein Rätsel war, das gelöst werden musste. Der Killer in ihm sagte, dass Miras Vision ihn zu einem Feind führen konnte, der entdeckt und eliminiert werden musste.

Aber es gab noch einen anderen Teil von ihm, und der sah in diesem Augenblick Corinne Bishop an, diese zarte Schönheit, die doch so stählern und unverwüstlich mit erhobenem Kopf aus Dragos’ Kerkern hervorgegangen war. Und er konnte nicht begreifen, dass offenbar er derjenige sein sollte, der sie endgültig zerbrach, wie er es in Miras Vision getan hatte.

Er spürte einen eigenartigen Respekt für sie, die in Dragos’ Klauen so Entsetzliches durchgemacht haben musste. Und was noch seltsamer war, er erkannte, dass nicht er derjenige sein wollte, der Corinne Bishop noch mehr Schmerz und Tränen verursachte.

Dieser irrationale, viel zu menschliche Teil von ihm war es, der ihn schließlich dazu brachte, den Blick von ihr abzuwenden, sich umzudrehen und wieder auf seinen Wagen zuzugehen, der am Ende des Zufahrtsweges auf ihn wartete. Wenn er jetzt ging, standen die Chancen gut, dass er dieser Frau nie wieder begegnete.

Er würde zurück nach Boston gehen, Vision hin oder her.

Als er die ersten Schritte tat, flog die Tür des Anwesens auf, und der herzzerreißende Schrei einer Frau gellte durch die Nacht. »Corinne! Ich muss sie sehen! Ich will meine Tochter sehen!«

Hunter blieb stehen und sah über die Schulter. Eine attraktive Brünette kam aus dem Haus gelaufen. Anscheinend hatte sie alles stehen und liegen lassen, war in einer weißen Satinbluse und einem engen dunklen Rock hinausgerannt, ohne sich einen Mantel überzuziehen. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem rutschigen, kopfsteingepflasterten Auffahrtsweg, als sie schluchzend auf die Wächter und Corinne zulief, die inzwischen auf halber Höhe angekommen waren.

Corinne löste sich aus der Gruppe und lief ihr entgegen. »Mama!«

Die beiden Frauen umarmten einander unter Freudentränen und flüsterten heftig miteinander.

Victor Bishop folgte seiner erleichterten Stammesgefährtin auf dem Fuß. Der Vorstand des Dunklen Hafens kam schweigend aus dem Haus, sein Gesicht blass im Mondlicht, die schwarzen Brauen tief über seine dunklen, unverwandten Augen gesenkt. Ein erstickter Ruf drang ihm aus der Kehle. »Corinne …«

Sie sah auf, als er ihren Namen sagte und sich ihr zögerlich näherte. »Ich bin’s wirklich, Papa. Oh Gott … ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen!«

Hunter beobachtete das Wiedersehen, hörte zu, als Corinnes erschütterter Vater versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was hier vorging. »Ich verstehe nicht, wie das möglich ist«, murmelte Bishop. »Du warst so lange fort, Corinne. Du warst doch tot …«

»War ich nicht«, versicherte sie ihm, löste sich aus seiner Umarmung und sah ihrem fassungslosen Vater in die Augen. »Ich bin in jener Nacht entführt worden. Man hat euch glauben gemacht, dass ich tot wäre, aber ich war’s nicht, ich wurde diese ganze Zeit über gefangen gehalten. Aber das ist jetzt alles nicht mehr wichtig. Ich bin einfach nur froh, wieder zu Hause zu sein. Ich dachte, ich würde nie wieder freikommen.«

Victor Bishop schüttelte langsam den Kopf. Seine Brauen senkten sich tiefer, und der Ausdruck der Verwirrung in seinem Gesicht verstärkte sich noch. »Ich kann es kaum glauben. Nach all den Jahren … wie ist es nur möglich, dass du jetzt vor uns stehst?«

»Der Orden«, antwortete Corinne und sah durch die Gruppe von Bishops Wächtern zu Hunter hinüber. »Ich verdanke den Kriegern und ihren Gefährtinnen mein Leben. Sie haben den Ort gefunden, an dem ich gefangen gehalten wurde. Letzte Woche haben sie mich und einige andere Gefangene gerettet und uns zu einem sicheren Haus in Rhode Island gebracht.«

»Schon letzte Woche«, murmelte Bishop und klang überrascht und beunruhigt. »Und niemand hat daran gedacht, uns Bescheid zu geben? Man hätte uns informieren müssen, dass es dir gut geht – man hätte uns sagen müssen, dass du lebst, verdammt noch mal.«

Corinne nahm sanft seine Hand. »Ich musste es euch einfach persönlich sagen. Ich wollte dabei eure Gesichter sehen und euch umarmen.« Ihre Miene wurde plötzlich unendlich traurig, was selbst Hunter aus der Ferne nicht entging. »Ach Papa … es gibt so viel, was ich dir und Mama erzählen muss.«

Während Corinnes Mutter sie wieder heftig umarmte und ein Schluchzen unterdrückte, spannte sich Victor Bishops Kiefer immer mehr an. »Und dein Entführer? Guter Gott, bitte sag mir, dass der Bastard tot ist, der dich uns gestohlen hat …«

»Das wird er bald sein«, antwortete Hunter und zog mit seinem Einwurf alle Blicke auf sich. »Der Orden ist ihm auf den Fersen und wird ihn bald haben.«

Bishop musterte Hunter mit schmalen Augen von Kopf bis Fuß. »Bald ist nicht gut genug, wenn meine Familie in Gefahr ist, Krieger.« Er gab seinen Männern ein Zeichen. »Schließt das Tor und schaltet die Sensoren am Einfassungszaun ein. Wir sollten nicht länger hier draußen bleiben. Regina, bring Corinne ins Haus. Ich komme gleich nach.«

Bishops Wachen kamen seinen Befehlen eilig nach. Als ihre Mutter sie zum Haus führen wollte, löste Corinne sich von ihr, lief noch einmal zu Hunter zurück und hielt ihm die Hand hin. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«

Er starrte sie einen Augenblick an, hin- und hergerissen zwischen ihrem festen, unverwandten Blick und der zarten, blassen Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

Dann nahm er ihre schlanken Finger in seine. »Gern geschehen«, murmelte er und achtete darauf, ihre kleine Hand nicht mit seiner riesigen Pranke zu zerdrücken.

Körperliche Berührungen war er nicht gewöhnt, hatte auch nie ein Bedürfnis nach Dankbarkeit gehabt. Und doch fiel ihm jetzt auf, wie weich Corinnes Haut sich an seiner Handfläche und seinen Fingerspitzen anfühlte. Wie warmer Samt an seiner harten, schwieligen Waffenhand.

Es hätte gar nichts bedeuten sollen, aber irgendwie weckte der Gedanke, diese junge Frau zu berühren, seltsames Interesse in ihm. Ungewolltes Interesse und ungerechtfertigt außerdem – was nur allzu deutlich von Corinnes verzweifeltem Flehen aus Miras Vision unterstrichen wurde, das plötzlich wieder in seinem Kopf widerhallte.

Lass ihn gehen, Hunter …

Bitte, ich flehe dich an … tu’s nicht!

Kannst du das nicht verstehen? Ich liebe ihn! Er bedeutet die Welt für mich …

Er ließ ihre Hand los, aber selbst nachdem der Kontakt abgebrochen war, verweilte ihre Wärme in seiner Handfläche, als er die Hand zur Faust ballte und wieder sinken ließ.

Corinne räusperte sich leise und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bitte richte allen im Orden und auch Andreas und Claire Reichen von mir aus, dass ich ihnen ewig dankbar sein werde für alles, was sie für mich getan haben.«

Hunter senkte den Kopf. »Ich wünsche dir ein schönes Leben, Corinne Bishop.«

Sie starrte ihn lange an, dann nickte sie leicht, drehte sich um und ging zu ihrer Mutter zurück. Als die beiden Frauen zusammen über den Auffahrtsweg auf das Haus zugingen, trat Victor Bishop in Hunters Blickfeld. Auch er sah den beiden Frauen nach, und sobald sie außer Hörweite waren, stieß er einen leisen Fluch aus.

»Ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass dieser Augenblick jemals kommen würde«, murmelte er und sah sich wieder zu Hunter um. »Wir haben dieses Mädchen vor Jahrzehnten begraben. Oder vielmehr die Tote, die wir für sie gehalten haben. Es hat lange gedauert, bis Regina die Hoffnung aufgegeben hat, dass ja vielleicht eine Verwechslung vorlag und die Leiche, die meine Männer Monate später aus dem Fluss gezogen haben, gar nicht ihre Tochter war.«

Hunter hörte stumm zu und beobachtete, wie Bishops Gesicht zuckte und sich vor innerer Bewegung rötete.

»Es hat Regina fast kaputt gemacht, Corinne zu verlieren. Sie hat immer auf ein Wunder gehofft. An dieser Hoffnung hat sie sich länger festgehalten, als ich es für möglich gehalten habe. Aber irgendwann hat sie sie doch aufgegeben.« Bishop fuhr sich mit der Hand über die gerunzelte Stirn und schüttelte langsam den Kopf. »Und jetzt hat sie, Gott und dem Orden sei Dank, heute Abend doch noch ihr Wunder bekommen. Wir alle.«

Hunter ignorierte das Lob und beachtete auch die Hand nicht, die der Zivilist aus dem Dunklen Hafen ihm hinstreckte. Er hielt seine Augen auf Corinne gerichtet, die sich immer weiter von ihm entfernte, als sie und ihre Mutter den Rest des langen Auffahrtsweges hinter sich brachten und dann durch die offene Tür das einladend erleuchtete Haus betraten. Er sah ihr nach, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte und er sicher sein konnte, dass sein Schützling sicher im Schoß ihrer Familie angekommen war.

In der entstandenen Stille räusperte sich Victor Bishop und ließ die Hand wieder sinken. »Wie kann ich dem Orden vergelten, was Sie heute Abend für uns getan haben?«

»Passen Sie gut auf sie auf«, sagte Hunter, dann wandte er sich von Bishop ab und ging zu seinem Wagen zurück, der unten an der Straße auf ihn wartete.

Lucan dröhnte der Schädel vor Wut, als er mit einigen Mitgliedern des Ordens im Techniklabor des Hauptquartiers saß. Die Ellbogen auf die Kante des langen Konferenztisches gestützt, lauschte er mit den anderen voller Abscheu, was Gideon über Murdock herausgefunden hatte, den Agenten, der letzte Nacht aus dem Striplokal in Chinatown geflohen und seither noch nicht wieder aufgetaucht war.

»Außer dass er Stammgast in diesen Bumslokalen ist, hat unser Freund Murdock offenbar ganz spezielle Vorlieben bei seinen Blutwirten – er mag sie blutjung. Laut seiner Personalakte bei der Agentur hat er jede Menge Dreck am Stecken, Missbrauch von Minderjährigen in mehreren Fällen, und nicht nur zur Nahrungsaufnahme. Außerdem gibt es mehrere Einträge wegen exzessiver Gewaltanwendung, sowohl gegen die Zivilbevölkerung der Dunklen Häfen als auch gegen Menschen. Und denkt dran, was in seiner Agenturakte steht, dürfte nur die Spitze des Eisberges sein. Wenn ich etwas tiefer grabe, dürfte sich noch viel mehr zu diesem Kerl finden.«

Gideon hatte sich in die Akte des Vampirs in der Internationalen Stammdatenbank eingehackt, in der fast jeder lebende Stammesvampir aufgeführt war. Natürlich gab es Ausnahmen wie Lucan und eine unbekannte Anzahl von anderen Stammesvampiren der frühen Generationen, die Jahrhunderte bevor es all diese Technologie gegeben hatt, geboren waren. Lucan sah auf den Flachmonitor hinüber, auf dem im Vollbildmodus das Foto eines affektiert aussehenden braunhaarigen Mannes mit einem schmierigen, selbstgefälligen Lächeln zu sehen war.

»Gibt es Familie? Irgendwen, dem wir auf den Zahn fühlen können, wo dieses Arschloch sich verkrochen hat?«

Gideon schüttelte den Kopf. »Er hat sich nie eine Stammesgefährtin genommen, und von irgendwelchen Verwandten steht nichts in den Akten. Noch was, Murdock ist erst seit etwa fünfzig Jahren in Boston ansässig. Davor, als er diese besagten Probleme mit Kindern und Gewalt hatte, war er bei der Agentur in Atlanta. So wie es aussieht, wurde er auf seine aktuelle Position hier auf persönliche Empfehlung des regionalen Agenturdirektors befördert.«

Am anderen Tischende stieß Nikolais Gefährtin Renata, die schwarze Drillichhosen und Kampfmontur trug wie die männlichen Krieger, ein verächtliches Schnauben aus. Ihr kinnlanges brünettes Haar schwang ihr ums Gesicht, als sie sich zurücklehnte und die Arme über der Brust verschränkte. »Wie wird man einen problematischen Mitarbeiter los? Indem man ihn woanders hin versetzt. Das war beim Waisenhauspersonal in Montreal damals gang und gäbe.«

»Dieses Schwein Murdock muss ausgeschaltet werden«, sagte Rio, der Niko und Renata gegenübersaß. Seine topasfarbenen Augen glühten vor Verachtung, und das Netz von Narben, das seine ganze linke Gesichtshälfte entstellte, wirkte noch gefährlicher als sonst.

Kade, der Krieger mit dem stacheligen dunklen Haarschopf, nickte. »Zu dumm, dass Hunter und Chase ihn letzte Nacht im Club nicht erledigt haben. Da hätten sie der Welt einen großen Gefallen getan.«

»Murdock ist Abschaum«, stimmte Lucan zu, »aber wenn er wirklich irgendwie mit Dragos oder seiner Operation in Verbindung steht, brauchen wir ihn lebend, zumindest bis er uns dorthin geführt hat.«

»Was ist mit Sterling?« Es war Elise, die jetzt zögerlich das Wort ergriff und sich zu Lucan umsah, der neben ihr saß. Während der Rest der im Techniklabor versammelten Gruppe die aktuellen Missionen und ihre neue Priorität, Agent Murdock aufzuspüren, durchgesprochen hatte, war Elise still und nachdenklich gewesen, und nun war ihr die Besorgnis an ihren zusammengepressten Lippen und der Unruhe in ihren blassvioletten Augen anzusehen. »Er ist schon seit fast vierundzwanzig Stunden fort. Hat er seither denn gar nichts von sich hören lassen?«

Einen Augenblick lang sagte niemand ein Wort. Sterling Chases Abwesenheit überschattete alles im Raum, war das Thema, das sie alle beschäftigte, auch wenn niemand es ansprach.

»Keinen Ton«, antwortete Gideon. »Sein Handy ist auf Mailbox gestellt, und er ruft mich nicht zurück.«

»Mich auch nicht«, sagte Dante von der anderen Seite des Konferenztisches. Von allen Kriegern war Tess’ Gefährte wohl Chases bester Verbündeter. Als sich Chase vor etwa einem Jahr dem Orden angeschlossen hatte, hatten er und Dante einander zuerst nicht ausstehen können. Seither waren sie gute Freunde und Waffenbrüder geworden und hatten einander unzählige Male den Arsch gerettet. Aber jetzt schien selbst Dante an Chase zu zweifeln. »Ich hab’s eben vor unserem Treffen noch mal versucht, aber keine Antwort. Der will anscheinend nichts mehr mit uns zu tun haben.«

»Das sieht ihm gar nicht ähnlich.« Elise sah zu Tegan hinüber, der neben ihr saß und jetzt nach ihrer Hand griff und sie in seine nahm. »Er ist zu pflichtbewusst, um ohne jede Erklärung wegzugehen.«

»Ist er das?« Tegans Frage klang sanft, aber sein Kiefer war zusammengepresst, und der Blick, mit dem er seine beunruhigte Stammesgefährtin jetzt ansah, war wild und beschützerisch. »Ich weiß, du willst nur das Beste von Chase denken, aber du musst ihn jetzt realistisch betrachten. Du hast ihn letzte Nacht gesehen, Elise. Du hast mir erzählt, wie er sich in der Kapelle mit dir aufgeführt hat. War das noch der Chase, den du so gut kennst?«

»Nein«, antwortete sie leise, senkte die Augen und schüttelte langsam ihren blonden Kopf.

Vorhin hatte Elise ihnen allen von ihrem Streit mit Chase erzählt, wie aggressiv und obszön er sie angegriffen und danach das Hauptquartier verlassen hatte. Lucan war stinksauer gewesen, aber Tegan noch mehr. Auch wenn er mit den Gefühlen seiner geliebten Gefährtin für ihren ehemaligen Verwandten sehr behutsam umging, vibrierte der andere Gen Eins immer noch spürbar vor Groll darüber, was Chase da getan hatte.

»Ich hätte ihn nicht ohrfeigen sollen«, murmelte Elise. »Ich wusste doch, dass er erregt war. Ich hätte einfach gehen und ihn alleine lassen sollen, wie er es haben wollte. Ich hätte ihn nicht reizen sollen …«

»Hey«, sagte Tegan und hob ihr sanft das Kinn mit den Fingerspitzen. »Du hast ihn letzte Nacht nicht rausgeworfen, er ist freiwillig gegangen.« Er sah zu Lucan hinüber. »Machen wir uns nichts vor, Harvard ist seit einer ganzen Weile verdammt schlecht drauf. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir alle anfangen, ihn realistisch zu betrachten, statt ständig Entschuldigungen für ihn zu suchen. Wir sollten endlich zur Kenntnis nehmen, was sicher schon mehrere von uns in letzter Zeit von ihm gedacht haben.«

Lucan erkannte sofort, worauf Tegan anspielte, an Tegans vielsagendem Blick und dem Schweigen, das sich nach seiner Bemerkung über den Raum senkte wie ein Leichentuch. Hölle noch mal, natürlich wusste er, wovon die Rede war, schließlich hatte er selbst damit Erfahrung. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte er seine eigene Schlacht mit der heimtückischen Krankheit ausgetragen, die den gesamten Stamm heimsuchte.

»Blutgier«, sagte Lucan grimmig. Er sah in die Gesichter seiner um den Tisch versammelten Stammesbrüder, von denen außer Tegan keiner so gut wusste wie er selbst, was es bedeutete, Opfer der Blutgier zu werden. Sobald ein Vampir das Maß verlor, ging es sehr schnell bergab mit ihm. Wer zu tief abstürzte, war für immer verloren. »Nimm’s mir nicht übel, T, aber ich hoffe, du täuschst dich.«

Tegans Blick blieb unbeirrt. »Und wenn nicht?«

Als niemand das nun folgende Schweigen brach, zischte Dante einen Fluch. »Wie auch immer, wir müssen Harvard finden, ihn zurück ins Hauptquartier bringen und ihm ordentlich den Kopf waschen. Jemand muss ihm sagen, dass er sich verdammt noch mal zusammenreißen soll, bevor es zu spät ist. Wenn es sein muss, werde ich ihm das höchstpersönlich in seinen Dickschädel hämmern.«

Lucan wollte Dante zustimmen, aber je länger er darüber nachdachte, desto weniger war er überzeugt. Er schüttelte den Kopf. »Chase wusste, was er tat, als er gegangen ist. Und wenn er es nicht wusste, weiß er es jetzt. Wir haben eben Wichtigeres zu tun, als Harvard schon wieder hinterherzuräumen. Er hat sich ohne Erlaubnis von der Truppe entfernt, und das unmittelbar, nachdem er eine Mission vergeigt hat. Wenn Hunter nicht mit ihm auf Patrouille gewesen wäre, wäre sie vermutlich ganz gescheitert. Und vergessen wir nicht, dass es Chase war, der es nicht geschafft hat, bei Kellans Rettungsaktion letzte Woche Lazaro und Christophe Archer zu schützen. In der letzten Zeit hat er alles verbockt, was er angefangen hat. Ehrlich gesagt wird er für uns allmählich zum Problem.«

»Ich kann ihn suchen und ihm ins Gewissen reden«, beharrte Dante. »Ich meine, Himmel, Lucan. Er hat sich doch im Kampf absolut bewährt. Er hat mir so oft den Arsch gerettet, und seit er bei uns ist, hat er so viel für den Orden getan. Denkst du nicht, dass wir ihm noch eine Chance geben sollten?«

»Nicht, wenn er mit seinem Verhalten die Ziele des Ordens in Gefahr bringt«, antwortete Lucan. »Und nicht, wenn seine Anwesenheit hier die Sicherheit des Hauptquartiers oder seiner Bewohner gefährdet. Wie Tegan schon sagte, keiner von uns hat Chase rausgeworfen, er hat sich aus eigener Initiative von der Truppe entfernt.«

Dante starrte ihn in grimmigem Schweigen an, so wie auch alle anderen, die um den Tisch versammelt waren.

Es war keine Entscheidung, die Lucan leichtfiel, aber er war der Anführer hier, und letztendlich war sein Wort Gesetz, und keiner der Krieger würde weiter über die Sache diskutieren. Nicht einmal Dante, der sich jetzt in seinen Stuhl zurückfallen ließ und einen leisen Fluch murmelte.

Lucan räusperte sich. »Also, wir waren bei Murdock …«

Bevor er den Satz beenden konnte, glitt die automatische Glastür des Techniklabors mit einem Zischen auf, und Rios Stammesgefährtin Dylan eilte in den Raum. Ihr sommersprossiges Gesicht war blass unter ihrem feuerroten Haar, und in ihren Augen stand die helle Panik.

»Tess schickt mich«, stieß sie hervor und kam auf dem glatten Boden schliddernd zum Stehen. »Sie ist in der Krankenstation. Sie braucht Hilfe, sofort!«

Dante schoss von seinem Stuhl auf. »Scheiße. Kommt das Baby?«

»Nein.« Dylan schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen, mit Tess ist alles in Ordnung. Aber Kellan Archer geht es gar nicht gut. Er hat schlimme Schmerzen und Krampfanfälle, und wir wissen einfach nicht weiter.«

Die Versammlung löste sich hektisch auf. Alle eilten zur Krankenstation am anderen Ende des Korridors hinüber, Lucan und Dante voran.

Dylan hatte nicht übertrieben, Kellan Archer ging es wirklich nicht gut. Der Junge krümmte sich vor Schmerzen in seinem Krankenbett, hielt sich den Unterleib und stöhnte.

»Vor etwa einer halben Stunde ist sein Schwindel stärker geworden«, sagte Tess, als sich die Gruppe in den Raum drängte. Kellans Großvater, der Gen-Eins-Zivilist Lazaro Archer, stand an der einen Seite des Bettes, Tess an der anderen. Ihre Hand ruhte leicht auf dem Rücken des Jungen, dessen Körper von einer weiteren heftigen Krampfwelle geschüttelt wurde.

»Was hat Kellan?«, fragte die kleine Mira, die mit Gideons Gefährtin Savannah dabeistand. Das kleine Mädchen hielt ein offenes Buch an die Brust gedrückt, als hätte sie eben noch daraus vorgelesen, ihre Augen waren groß vor Angst. »Wird er wieder gesund?«

»Kellan hat schlimmes Bauchweh«, sagte Savannah zu ihr und sah zu Gideon und Lucan hinüber, während sie das Kind vom Bett wegführte. Sie redete und bewegte sich mit äußerster Ruhe, aber ihre dunkelbraunen Augen blickten besorgt.

Tatsache war, dass niemand wusste, was Kellan Archer fehlte. Anstatt sich von seiner Entführung und Misshandlung zu erholen, schien er immer schwächer zu werden. Er musste Nahrung zu sich nehmen, so viel war sicher, war aber noch nicht in der Verfassung, alleine nach oben zu gehen und sich einen Blutwirt zu suchen.

Schlimm genug, dass Lucan gezwungen gewesen war, Lazaro Archer und seinen Enkel im Hauptquartier des Ordens aufzunehmen, nachdem Dragos ihren Dunklen Hafen dem Erdboden gleichgemacht und ihre ganze Familie ausgelöscht hatte. Wenn Kellans Zustand sich nicht bald besserte, wäre Lucan gezwungen, eine weitere Regel des Ordens zu brechen und einen Menschen ins Hauptquartier zu holen, damit der Junge Nahrung zu sich nehmen konnte.

Renata griff nach Miras Hand. »Komm, Mäuschen. Du, Savannah und ich gehen jetzt ein Weilchen raus. Wir kommen wieder, sobald es Kellan besser geht, okay?«

Mira nickte, sah sich aber zu dem kranken Jungen im Bett um, bis die beiden Stammesgefährtinnen sie aus dem Raum führten. Kaum waren sie fort, krümmte sich der junge Vampir noch heftiger zusammen, Speichel troff aus seinem offenen Mund.

»Bitte«, sagte Lazaro Archer. »Bitte, tut etwas, um meinem Jungen zu helfen. Er ist alles, was ich noch habe …«

Dem Jungen entfuhr ein schreckliches Stöhnen. Er würgte und keuchte, und dann beugte er sich über die Bettkante und erbrach sich mit einem heftigen Schwall.

Dante sprang vor, zog Tess zur Seite und schirmte sie mit seinem Körper ab. Dylan und Rio holten hastig Papierhandtücher aus dem Schrank, während Elise sich daranmachte, den Jungen zu beruhigen und zu säubern.

Er würgte und würgte, heftige Krämpfe schüttelten ihn, noch lange nachdem sein Körper das Wenige ausgeschieden hatte, was er in sich hatte. Er versuchte, etwas zu sagen, eine beschämte Entschuldigung zu stöhnen, aber ihm gelang nur ein heiseres Krächzen.

»Psst«, flüsterte Elise und streichelte dem erschöpften Jungen über sein feuchtes Haar. »Ist schon gut, Kellan. Mach dir keine Sorgen. Du musst jetzt nur wieder gesund werden, das ist das Wichtigste.«

Dylan war inzwischen auf allen vieren und wischte die Bescherung vom Boden auf, während Rio sich daranmachte, das schmutzige Bettzeug abzuziehen. Da hörte Lucan Dylan erschrocken aufkeuchen, sie erstarrte neben Kellan Archers Bett.

»Äh … Leute?« Sie stand auf, einen Klumpen nasser Papierhandtücher in der Hand. »Ich glaube, ich weiß, wovon Kellan so schlecht geworden ist.«

Lucan erstarrte, und ein Gefühl von Übelkeit breitete sich in seinen eigenen Eingeweiden aus, als Dylan ihnen den durchweichten Papierklumpen hinhielt. Mitten darin war eine münzgroße silberne Scheibe.

»Ach du Scheiße. Ach du gottverdammte Scheiße«, murmelte Gideon, ganz blass geworden. Er streckte die Hand aus und nahm das Objekt aus seinem nassen Nest aus Speichel und Magensäure an sich. »Ich glaub’s nicht. Verdammter Dreckskerl!«

»Was ist das?«, fragte Tegan, die so blass geworden war wie alle anderen.

»Ein GPS-Chip«, antwortete Gideon. »Ein gottverdammtes Ortungsgerät.« Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und drehte sich zu Lucan um. »Wir sind gefährdet.«

Lucan stieß den Atem aus, und die ganze Dimension seines Fehlers traf ihn mit der Wucht eines Güterzugs.

Denn jetzt ergab das alles einen Sinn. Kellan Archers Entführung. Dass die Rettungsmission viel zu einfach gewesen war. Der gleichzeitige totale Vernichtungsschlag gegen den Dunklen Hafen der Archers, sodass dem Jungen nichts anderes übrig geblieben war, als sich unter den Schutz des Ordens zu begeben und zu ihnen ins Hauptquartier zu kommen.

Dragos hatte die ganze Sache von Anfang bis Ende inszeniert.

Jetzt wusste er, wo sie lebten. Und das schon seit Tagen – seit Lucan die Entscheidung getroffen hatte, die Zivilisten in den Sitz des Ordens einzulassen.

Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Dragos oder seine selbst gezüchtete Killerarmee vor ihrer Haustür standen.