32

Chase hatte nicht damit gerechnet, wieder aufzuwachen. Seine letzte bewusste Erinnerung war, dass er blindlings durch die Stadt gerast war und viel zu viel Blut verloren hatte aus der schweren Schussverletzung in seinem rechten Oberschenkel und der leichteren an der Schulter. Er war im Kampf schon sehr viel schlimmer verletzt gewesen, aber damals war er fit, und jetzt war sein Körper extrem geschwächt, seine fast unzerstörbaren Stammesgene behindert von der Krankheit, die ihn jetzt mit einem qualvollen Stöhnen wachrüttelte.

Er versuchte sich aufzusetzen, kam aber nicht weit. Man hatte ihn mit Metallfesseln an Handgelenken und Knöcheln an ein Krankenhausbett gefesselt. Ein breiter, stahlverstärkter Ledergurt zog sich eng um seinen Oberkörper. Er fluchte durch zusammengebissene Zähne und rüttelte heftig an seinen Fesseln.

Als sich seine Augen jetzt langsam auf seine Umgebung einstellten, sah er im kleinen Sichtfenster der Tür einen dunklen Kopf, der aus dem Korridor zu ihm hereinspähte.

Es dauerte eine geschlagene Minute, bis Dante endlich zu ihm hereinkam. Er schloss die Tür hinter sich und starrte Chase vom anderen Raumende aus kopfschüttelnd an. »Du bist schon ein verdammter Vollidiot, das weißt du, nicht wahr, Harvard?«

Chase schnaubte. »Danke für deine Besorgnis. Ich hoffe, du bist nicht den ganzen Weg hier heruntergekommen, nur um mir das zu sagen.«

»Nein, bin ich nicht«, antwortete Dante ungerührt. »Ich war nebenan bei Tess.«

»Tess ist in der Krankenstation?« Bei der Erinnerung, dass die Stammesgefährtin sich im Endstadium ihrer Schwangerschaft befand, kam sich Chase schlagartig wie ein Arschloch erster Güte vor. »Ach verdammt, mein Alter. Das hab ich nicht gewusst.«

»Wie konntest du? Du warst ja nicht da.«

Chase stieß einen kurzen Seufzer aus und nickte. Diesen eisigen Empfang hatte er weiß Gott verdient. Schließlich hatte er in letzter Zeit so ziemlich alles getan, um sich im Orden zur unerwünschten Person zu machen, besonders bei Dante. »Und, wie geht’s ihr? Alles in Ordnung?«

»Tess geht’s gut.« Dante nickte leicht. »Und dem Baby auch. Er ist nebenan mit ihr.«

Tess hatte schon entbunden? Die Neuigkeit traf Chase wie eine Keule. Er konnte seine Überraschung nicht verbergen und konnte auch nicht die Schuldgefühle verdrängen, die ihn bei der Erkenntnis überkamen, dass er bei dem Ereignis gefehlt hatte, auf das Dante und Tess sich monatelang gefreut hatten. Hölle noch mal, er hatte sich doch selbst so verdammt darauf gefreut. Er hatte sich sogar mehrmals gefragt, ob Dante ihn als potenziellen Taufpaten im Sinn hatte – eine Ehre, der Chase eigentlich unwürdig war, aber die er trotzdem mit Stolz und Beschämung angenommen hätte.

Damals. Doch inzwischen war das Jahrmillionen her.

Und jetzt Millionen Meilen außerhalb seiner Reichweite.

So fühlte es sich jedenfalls an angesichts der ernsten, enttäuschten Miene des anderen Kriegers, der jetzt zum Bett herüberkam, auf dem Chase festgeschnallt war. »Also, gratuliere, Dante, dir und Tess«, sagte er. »Wann ist das Baby gekommen?«

»Gestern Morgen, ein paar Minuten vor Mittag.«

Chase überlegte. »Also am zehnten Dezember?«

»Am siebzehnten«, antwortete Dante, und sein Blick wurde noch grimmiger. »Scheiße, Harvard. Bist du schon total hinüber? Ich meine, jetzt mal ganz im Ernst. Verarsch mich nicht.«

»Sieht nicht gut aus«, gab Chase zu. Seine Kehle war ausgedörrt, seine Stimme kaum mehr als ein heiseres Knurren. »Aber ich hab’s im Griff. Oder ich hätte es im Griff, wenn ich nicht wie ein Verbrecher an dieses verdammte Bett geschnallt wäre.« Er hob die Fäuste, so weit die stählernen Handschellen ihm Spielraum gaben. Und der war nicht groß.

»Keine Chance«, sagte Dante nüchtern.

Chase grunzte. »Auf ärztliche Anweisung?«

»Auf Lucans Befehl. Es hat einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis er Niko und Renata überhaupt erlaubt hat, dich reinzubringen, nachdem Mira dich gefunden hat. Und es hat auch nicht geholfen, dass alle regionalen Nachrichtensender dein Gesicht bringen und du als durchgeknallter Terrorist zur Fahndung ausgeschrieben bist.« Dante stieß einen Fluch aus. »Was hast du gemacht, der Presse einen Fototermin gegeben, bevor du gestern Abend den Verstand verloren und in der Weihnachtsfeier des Senators rumgeballert hast?«

»Wovon redest du?«

»Sie haben dein Gesicht, mein Alter. Es gab einen Augenzeugen, der der Polizei und dem verdammten Geheimdienst deine Fresse bis auf den Pickel genau beschrieben hat. Seither bringen sie das Phantombild auf jedem gottverdammten Fernsehsender, Regionalprogramme und Kabel.«

»Scheiße«, murmelte Chase und erinnerte sich daran, wie intensiv die attraktive Assistentin des Senators ihn mit ihren grünen Laseraugen angestarrt hatte, nachdem sie ihn oben auf der Galerie des Ballsaals entdeckt hatte. »Das ging nicht anders, Dante. Und es ist egal, dass man mich gesehen hat. Dragos war dort. Er hat versucht, an den Senator und den Vizepräsidenten ranzukommen. Er hat sie beide im Visier.«

Dante verstummte und musterte ihn, als wäre er nicht sicher, ob er ihm glauben konnte. »Du hast Dragos auf der Feier des Senators gesehen? Bist du dir sicher?«

»Und ob, verdammt. Ich habe zugesehen, wie der Senator ihn mitten in einem Ballsaal voller Menschen dem Vizepräsidenten vorgestellt hat. Als sie zusammen auf einen separaten Raum zugingen, habe ich meine Chance gesehen und geschossen.«

Dante fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar. »Du hast Dragos gesehen und uns das nicht gemeldet? Um diese Situation hätte der Orden sich kümmern müssen. Was zur Hölle hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Zum Telefonieren war keine Zeit«, sagte Chase. »Ich wusste nicht, dass Dragos dort sein würde und dass ich nahe genug bei ihm sein würde, um den Bastard niederzuschießen. Ich hatte nur eine Ahnung, und der bin ich nachgegangen.«

»Himmel, Harvard. Das sind keine guten Neuigkeiten.«

»Hörst du mir überhaupt zu?«, schrie Chase, und unter seiner Wut flammte auch sein Bluthunger wieder heftiger auf. »Ich sage dir, ich habe letzte Nacht auf Dragos geschossen. Ich habe gesehen, wie die Kugel ihn getroffen hat und er zu Boden ging. Scheiße, Mann, vielleicht solltest du mir lieber danken, statt mir eine Standpauke zu halten, weil ich das Protokoll nicht eingehalten habe. Ich sage dir, die Chancen stehen verdammt gut, dass ich den Bastard abgeknallt habe.«

»Dragos ist nicht tot«, antwortete Dante nüchtern. »Gestern Abend wurde niemand erschossen. Es gab einige Verletzungen, aber keine davon lebensgefährlich. Wenn Dragos dort war und du ihn niedergeschossen hast, wie du sagst, dann ist er wieder aufgestanden und abgehauen.«

Chase hörte zu, und nun begannen ihm vor Wut die Schläfen zu dröhnen. »Ich muss hier raus. Ich habe ihn einmal gefunden, ich finde ihn auch ein zweites Mal, und dann werde ich …«

»Nein, Harvard, du gehst nirgendwohin. Für uns steht gerade zu viel auf dem Spiel. Lucan will, dass du bis auf Weiteres hierbleibst.«

Chase konnte ein wütendes Fauchen nicht zurückhalten. Er war fuchsteufelswild, dass Dragos entkommen war, und stinksauer auf Lucan, Dante und alle anderen, die dachten, dass sie ihn gegen seinen Willen hier festhalten könnten. Man ließ ihn hier nur zu deutlich spüren, dass er nicht länger zum Orden gehörte, also würde er sich auch nicht von ihnen abhalten lassen, Dragos auf eigene Faust zu verfolgen. Er wollte schließlich genauso wie die anderen Krieger, dass Dragos ausgeschaltet wurde.

Und er hatte noch einen anderen, genauso dringenden Grund, aus seiner Gefangenschaft im Hauptquartier entlassen zu werden.

»Ich muss Nahrung zu mir nehmen«, murmelte er leise. »Die Schusswunde in meinem Schenkel wird nicht richtig heilen, wenn ich nicht bald ein paar frische rote Zellen intus kriege. Ich muss raus auf die Jagd, Dante.«

Der Krieger sah ihn an mit einem Blick wie ein Suchscheinwerfer, unter dem Chase sich nicht verstecken konnte. »Du hast es selbst gesagt, dein Bein sieht nicht gut aus. Du bist nicht in der Verfassung zu jagen, selbst wenn Lucan es für unbedenklich halten würde, dich wieder auf die Menschheit loszulassen. Und das tut er nicht.«

Sein Durst schlug seine Klauen noch tiefer in Chase, schien ihn von innen zu zerreißen. Ein eisiger Schweißfilm trat ihm auf die Stirn, und seine Magenkrämpfe wurden immer heftiger. »Könnt ihr denn riskieren, mich hier drin zu lassen?«, sagte er, seine Stimme war ein heiseres, fast gespenstisches Keuchen. »Was, wenn ich hier im Hauptquartier auf die Jagd gehe, wo doch jetzt auch eine Normalsterbliche hier wohnt?«

Dante wurde ein wenig blass, und in seinen Augen blitzten helle bernsteingelbe Lichtfunken auf. »Weil ich weiß, dass du Schmerzen hast, will ich mal so tun, als hätte ich das nicht gehört. Und ich tue dir den einmaligen Gefallen und sage auch Brock nichts davon, denn ich kann dir versprechen, der bringt dich eigenhändig um, wenn du Jenna auch nur anschaust, normalsterblich oder nicht. Hölle noch mal, mach so weiter, und ich spare ihm die Mühe und mache es selbst.«

Die Bauchkrämpfe wurden zu Höllenqualen, und Chase fauchte höhnisch zu Dante auf. »Wenn ich ausbrechen wollte, könnte ich es. Das weißt du.«

»Ja, weiß ich.« Dante kam näher, er bewegte sich so schnell, dass Chases träge Sinne ihm nicht folgen konnten. Verblüfft fühlte er, wie sich kalter, scharfer Stahl an seine Kehle presste. Dantes geschwungene Dolche bissen ihm ins Fleisch, einer auf jeder Seite seines Halses, nur um Haaresbreite davon entfernt, seine Haut zu verletzen. »Du könntest versuchen auszubrechen, Harvard, aber jetzt hast du zwei gute Gründe, es nicht zu tun.«

Chase schäumte über die Drohung, aber aus Erfahrung wusste er, dass er sie ernst nehmen musste. »Schöner Freund bist du.«

»Mein Freund ist weg. Er ist länger fort, als ich wahrhaben wollte«, sagte Dante knapp und beherrscht. Ohne seine übliche Prahlerei klang seine Stimme tödlich. »Gerade sehe ich hier nur einen Blutjunkie vor mir, der mir mit glühenden Augen und gebleckten Fängen vormachen will, dass er noch nicht zum Rogue mutiert. Der wird diese Titanklingen zu fressen kriegen.«

Er hielt die geschwungenen Dolche fest auf seine Kehle gedrückt und ließ nicht einmal von ihm ab, als Chase sich langsam zurückzog und sich wieder auf das Krankenbett zurücksinken ließ. Die scharfen Schneiden folgten ihm, gefährlich nahe.

Er wagte nicht, es darauf ankommen zu lassen.

Obwohl er noch nicht zum Rogue mutiert war, hatte Dante recht. Chase konnte spüren, wie die Blutgier ihm zusetzte, und es war durchaus möglich, dass das Titan schon wie Gift auf sein Blut wirkte. Wütend starrte er zu Dante auf, tat aber nichts, um ihn weiter herauszufordern.

»Das ist das Schlaueste, was du seit Langem gemacht hast, Harvard.«

Chase sagte nichts und hielt den Atem an, bis sich die rasiermesserscharfen Dolche von seinem Hals lösten und der Krieger, der bis vor Kurzem noch sein engster Gefährte gewesen war, ihn wieder allein im Raum ließ.