20

Die Fahrt zu dem sicheren Haus, das der Orden für sie arrangiert hatte, dauerte etwa eine Stunde. Vor einigen Kilometern hatten sie die Autobahn verlassen und fuhren nun über eine ungeteerte Landstraße, die weit in ein tief gelegenes Sumpfgebiet mit vereinzelten Ansammlungen gespenstischer moosbewachsener Zypressen führte.

Als Hunter in eine Einfahrt abbog – Corinne nahm mal an, dass es eine war, obwohl nichts darauf hindeutete –, glühten im Licht der Frontscheinwerfer dicht über dem Boden mehrere gelbe Augenpaare auf, und es raschelte im dichten Gebüsch, als sich die Sumpfkreaturen in die Dunkelheit ihres wilden Lebensraumes zurückzogen.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Corinne, als Hunter tiefer in die Dunkelheit hineinfuhr. »Sieht nicht wie eine Gegend aus, wo jemand ein Haus hinstellen würde.«

»Irrtum ausgeschlossen«, antwortete er. »Hier wohnt Amelie Dupree.«

Es war das erste Mal, dass er auf der Fahrt etwas zu ihr gesagt hatte. Jetzt war er wieder ganz der teilnahmslose Soldat – nicht dass sein geschäftsmäßiger Ton sie überraschte, so wie die Dinge vorhin zwischen ihnen gelaufen waren.

Sie hätte gerne darüber geredet, ihm ihre Panikreaktion erklärt, nachdem doch zuerst alles so angenehm, so unglaublich lustvoll gewesen war. Aber dann war es ihr doch so peinlich gewesen, dass sie lieber geschwiegen hatte. Das und ihr abgrundtiefer Schreck, den Namen ihres Sohnes aus Hunters Mund zu hören.

Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen und war es nach wie vor nicht. In ihr hatte sich der Instinkt gemeldet, ihr Kind zu schützen und seine Existenz zu leugnen, wenn sie ihn so vor Entdeckung und Schaden schützen konnte, genauso, wie ihre Hand vor einer offenen Flamme zurückzucken würde. Die Lüge war ein Reflex gewesen, und nun klaffte sie zwischen ihr und Hunter wie ein gähnender Abgrund.

Sie wandte den Blick von seinem undurchdringlichen Gesicht ab, als der Wagen langsamer wurde und die Scheinwerfer auf die verwitterten grauen Holzschindeln eines rustikalen alten Hauses fielen, das sich tief zwischen die geisterhaften, moosbehangenen Bäume schmiegte. Eine ältere schwarze Frau in einer geblümten Kittelschürze stand auf der überdachten Veranda und sah sie kommen. Sie hatte die Arme über ihrem üppigen Busen verschränkt, aber als sich der Wagen näherte und anhielt, hob sie die Hand und winkte ihnen langsam zur Begrüßung zu.

Hunter stellte den Motor ab und ließ die Wagenschlüssel in die Tasche seines Ledermantels gleiten. »Warte hier, bis ich dir sage, dass du rauskommen kannst.«

Als er aus dem Wagen stieg und zum Haus hinüberging, um die alte Frau zu begrüßen, fragte sich Corinne, was um alles in der Welt ihnen hier schon gefährlich werden konnte. Aber an seiner Körperhaltung, der harten Linie seiner Schultern und seinem lockeren Gang erkannte sie, dass es seine Ausbildung war, die eben seine Handlungen bestimmte.

Nachdem sie so viele Stunden auf so engem Raum mit ihm verbracht hatte, fiel es ihr nur allzu leicht zu vergessen, wie riesig er war und wie tödlich er sein konnte. Er strahlte Gefahr aus, selbst ohne seine spezielle Ausbildung, die ihn zu einem von Dragos’ tödlichsten Fußsoldaten gemacht hatte. Nachdem sie seinen Mund so sanft auf ihrem gespürt hatte, vergaß sie nur allzu leicht, wie gnadenlos seine Hände sein konnten, wenn er Feindaktivität spürte oder vermutete. Er ging einfach kein Risiko ein, egal wie klein es schien. Corinne wollte seine Vorsicht als unbegründet abtun, aber wenn er übervorsichtig war, dann nur, weil er sie effektiv beschützen wollte – wie sie jetzt mit einiger Beschämung erkannte.

Er bewegte sich mit pantherartiger Geschmeidigkeit und militärischer Präzision, und als er zu ihrer gütig lächelnden Gastgeberin hinaufging, machte sich Corinne einen Augenblick lang Sorgen, dass die alte Frau vor Schreck aufkreischen und vor ihm davonlaufen würde. Aber sie tat es nicht. Corinne hörte ihre tiefe, rauchige Stimme durch die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite, sie hieß Hunter und sie willkommen und bat sie zu sich herein.

Hunter sah sich zu Corinne um und nickte leicht, dann kam er zu ihr herüber und öffnete ihr die Tür, bevor sie alleine aussteigen konnte. Er ging mit ihr zu der älteren Frau zurück und legte Corinnes Hand in ihre ausgestreckte Handfläche.

Trübe, milchige Augen schossen hin und her, als Amelie Dupree herzlich Corinnes Hand ergriff. Sie hatte ein breites, strahlendes Lächeln, das echte Herzlichkeit ausstrahlte, und als sie redete, war ihre heisere alte Stimme angenehm und melodisch. »Hallo, Kleines.«

Hunter stellte sie einander kurz vor, während Amelies blinde Augen sie in der Dunkelheit suchten. Sie tätschelte Corinne mütterlich die Hand. »Komm rein, Kind. Ich hab den Wasserkessel aufgesetzt und schon den ganzen Mittag einen Gumbo-Eintopf auf dem Herd.«

»Klingt lecker«, sagte Corinne und hatte keine Wahl, als Amelie Dupree die knarrenden Verandatreppen hinauf zu folgen. Sie sah sich zu Hunter um, er war zurückgeblieben, das Handy schon ans Ohr gedrückt. Vermutlich machte er Meldung beim Orden und ließ ihn wissen, dass sie ohne Zwischenfälle angekommen waren.

Das Haus machte von außen nicht viel her, aber im Inneren waren die Möbel neu und gepflegt, die Wände in warmen Erdfarben gestrichen und mit Kunstwerken und gerahmten Familienfotos von Jahrzehnten dekoriert. Besonders ein Bild fiel Corinne sofort ins Auge, als sie hinter Amelie Dupree herging und darüber staunte, dass die alte Frau sich so völlig ohne Hilfe oder Zögern im Haus zurechtfand.

Corinne blieb stehen, um sich das Foto genauer anzusehen. Es war keine neue Aufnahme – den seltsamen Kleidern und dem Gelbstich nach musste sie sogar schon alt sein. Aber das Gesicht der strahlenden jungen Frau mit der Afrofrisur war unverkennbar. Corinne hatte sie im Hauptquartier des Ordens in Boston getroffen.

»Meine kleine Schwester Savannah«, bestätigte Amelie Dupree, die zurückgekommen war und sich neben Corinne gestellt hatte. »Halbschwester eigentlich. Wir hatten dieselbe Mama, Gott hab sie selig.«

»Das wusste ich gar nicht«, sagte Corinne und folgte der grauhaarigen Frau in ihre fröhliche gelb gestrichene Küche im hinteren Teil des Hauses.

Der Teekessel auf dem Herd hatte eben begonnen zu pfeifen. Amelie tastete nach dem Schalter und stellte das Gas unter dem Kessel ab, während der abgedeckte Topf Gumbo auf der Flamme daneben blubberte. Sie öffnete den Schrank und nahm zwei große Steinguttassen heraus.

»Kennst du meine Schwester?«, fragte sie und fuhr mit ausgestreckten Fingern über die Arbeitsfläche, bis sie die Blechdose gefunden hatte, die dort stand.

»Ich habe sie nur kurz kennengelernt«, antwortete Corinne, unsicher geworden, wie viel sie einer Außenstehenden vom Orden verraten durfte, selbst wenn es sich um ein Familienmitglied handelte. »Savannah macht einen sehr netten Eindruck.«

»Ja, mein Schwesterchen ist ein absoluter Schatz, das kann ich dir sagen«, bestätigte Amelie, ein Lächeln in der Stimme. »Wir sprechen uns nur ein paarmal im Jahr, aber jedes Mal ist es, als hätten wir eben erst aufgehört und als wäre sie nie fortgegangen.«

Corinne sah zu, wie die alte Frau Teebeutel in die Tassen legte und dann nach einem Topflappen griff, der auf einem kleinen Saughaken vorne am Herd hing. Sie wollte schon ihre Hilfe anbieten, aber Amelie Dupree kam wirklich bemerkenswert gut alleine zurecht. Mit dem Zeigefinger der einen Hand markierte sie den Tassenrand und goss das heiße Wasser ein, ohne sich zu verbrühen und ohne dass auch nur ein Tropfen danebenging. Corinne selbst hätte es nicht besser hingekriegt.

»Und wie geht’s ihrem tollen Mann?«, fragte Amelie beiläufig und trug die beiden dampfenden Tassen zum Tisch hinüber. »Wenn du meine Schwester kennengelernt hast, musst du auch Gideon getroffen haben. Die beiden sind praktisch unzertrennlich seit – Himmel, das müssen jetzt schon mindestens dreißig Jahre sein.«

Die alte Frau setzte sich und winkte Corinne, sich auf den Stuhl neben ihr zu setzen. Da sich Hunter draußen Zeit zu lassen schien, setzte sie sich und blies sachte über ihre Teetasse.

»Mmm«, machte Amelie nachdenklich, ihre blinden Augen blickten gedankenverloren. »Kaum zu glauben, dass dieser Albtraum schon so lange her ist.«

»Albtraum?«, fragte Corinne und nippte vorsichtig an ihrem heißen Tee. Sie konnte nicht leugnen, dass sie neugierig geworden war, mehr zu erfahren – nicht nur über diese Frau, die sie und Hunter so gastfreundlich aufgenommen hatte, sondern auch über das Paar, das offensichtlich ein so unverzichtbarer Bestandteil des Ordens war.

»Ich denke nicht gerne daran zurück, Kind, es war so ziemlich der schlimmste Augenblick meines Lebens.« Sie streckte die Hand aus, legte sie auf Corinnes und tätschelte sie. »Zu viel Blut wurde in dieser Nacht vergossen. Fast hätte es draußen in meinem Vorgarten zwei Tote gegeben. Ich wusste, dass Gideon anders war, schon als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin – das war natürlich Jahre, bevor mir das Alter das Augenlicht genommen hat. Ich wäre nie draufgekommen, was er wirklich war, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Diese Schusswunde hätte ihn eigentlich umbringen sollen. Und Savannah auch, wenn er sie nicht gerettet hätte – wenn er sich nicht ins Handgelenk gebissen und ihr sein Blut gegeben hätte.«

Corinne ertappte sich dabei, dass sie den Atem angehalten hatte und gebannt lauschte. »Sie haben mit angesehen, wie er sie mit seinem Blut genährt hat … Sie wissen, was er ist, Amelie?«

»Stammesvampir.« Die alte Frau nickte. »Ja, das weiß ich. Sie haben mir alles anvertraut in dieser Nacht, sich mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und dieses Geheimnis werde ich mit ins Grab nehmen, wenn meine Zeit gekommen ist.« Amelie trank von ihrem Tee. »Der Mann da draußen … er ist auch einer von Gideons Spezies. Sogar eine blinde alte Frau wie ich merkt das. Er strahlt so eine dunkle Energie aus, ich habe sie gespürt, noch bevor er aus dem Wagen gestiegen ist.«

Corinne starrte in ihre Tasse. »Hunter kann ein bisschen … furchteinflößend wirken, aber ich habe das Gute in ihm gesehen. Er ist ehrenhaft und mutig, genau wie Savannahs Gideon.«

Amelie stieß ein leises Schnauben aus. Immer noch hielt sie Corinnes rechte Hand und rieb müßig mit dem Daumen über das Muttermal in Form einer Träne, die in die Wiege einer Mondsichel fiel. Sie fuhr seine Konturen nach, und Corinne erkannte, dass sie es studierte. »Genau wie ihres«, murmelte sie, und ihre glatte Stirn furchte sich. »Savannah hat genau dasselbe Muttermal, nur ist ihres auf dem linken Schulterblatt. Mama sagte immer, dorthin haben die Feen sie geküsst, bevor sie sie in Mamas Bauch gelegt haben. Aber Mama war selbst ein wenig von den Feen geküsst.«

Corinne lächelte. »Jede Stammesgefährtin hat dieses Muttermal irgendwo an ihrem Körper.«

»Hmm«, sann die alte Frau. »Dann seid ihr, du und Savannah, wohl auch so eine Art Schwestern, nicht?«

»Schätze ja«, stimmte Corinne ihr zu, gewärmt vom Tee und der freundlichen Akzeptanz ihrer Gastgeberin. »Wohnen Sie hier schon lange, Amelie?«

Sie nickte mit ihrem grauen Kopf. »Zweiundsiebzig Jahre, und keinen Tag weg gewesen. Ich bin im Zimmer nebenan auf die Welt gekommen, genau wie Savannah. Aber als sie ankam, war ich schon groß und alt genug, um bei ihrer Geburt zu helfen. Ich bin vierundzwanzig Jahre älter als meine kleine Schwester.«

Zweiundsiebzig, dachte Corinne und musterte das alte Gesicht und das silbergraue Haar. Wenn man sie in Dragos’ Laborgefängnis nicht die ganze Zeit mit dem Blut des Ältesten zwangsgefüttert hätte, wäre ihr Körper mittlerweile etwa zwanzig Jahre älter und gebrechlicher als der von Amelie Dupree. Es kam ihr jetzt merwürdig vor, dass ausgerechnet das, was sie aus tiefster Seele verabscheute – die lebensspendenden Nährstoffe einer außerirdischen Kreatur –, ihr ermöglicht hatte, Dragos’ Folter zu überleben. So war sie jung und stark geblieben, als sie sich einfach nur hatte hinlegen und sterben wollen. Und wegen dieses außerirdischen Bluts hatte sie irgendwo da draußen einen Sohn, ein Stück ihres Herzens, das ihr nun immer weiter zu entgleiten drohte.

»Haben Sie noch mehr Familie?«, fragte sie Amelie, als der Schmerz in ihrer Brust größer wurde, als sie glaubte ertragen zu können.

Die alte Frau strahlte. »Aber ja. Zwei Töchter und einen Sohn. Und acht Enkelkinder. Meine Familie lebt jetzt in der ganzen Gegend verstreut. Die Kids haben den Sumpf nie so geliebt wie ich. Sie haben ihn nicht so in Fleisch und Blut wie ich und mein verstorbener Mann. Sie sind in die Stadt gezogen, sobald sie konnten. Oh, sie kommen fast jede Woche vorbei und schauen nach mir, ob ich klarkomme, und helfen mir mit dem Haus, aber es ist nie genug. Besonders, je älter ich werde. Wenn man alt wird, möchte man alle seine Lieben so nahe bei sich haben wie nur möglich.«

Corinne lächelte und drückte ihr sanft die warme, faltige Hand. In diesem Augenblick kam ihr nur allzu gelegen, dass die alte Frau blind war und die Träne in ihrem Augenwinkel nicht sah. »Ich glaube nicht, dass das eine Altersfrage ist, Amelie.«

Die alte Frau legte leicht den Kopf schief, in ihrem Gesicht breitete sich ein nachdenklicher Ausdruck aus. »Du hast dein Kind wohl schon sehr lange nicht mehr gesehen?«

Corinne erstarrte und fragte sich plötzlich, ob diese trüben Augen nicht doch mehr sahen, als sie annahm. Obwohl sie sich völlig lächerlich vorkam, hob sie ihre freie Hand und wedelte kurz vor Amelies Augen herum. Keine Reaktion. Hatte die alte Frau irgendwie ihre Gedanken gelesen? Sie sah über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Hunter außer Hörweite war. »Woher wissen Sie …«

»Oh, ich bin keine Hellseherin, wenn du das meinst«, sagte Amelie mit einem leisen Kichern. »Savannah ist die Einzige in unserer Familie, die wirklich übersinnliche Fähigkeiten hat. Laut unserer Mama war das Mädel mehr Zigeunerin als Cajun, aber wer weiß das schon? Savannahs Vater war kaum mehr als ein Gerücht in unserer Familie, Mama hat praktisch nie von ihm erzählt. Und was mich angeht, bin ich einfach nur lange genug Hebamme gewesen, um zu erkennen, wenn eine Frau geboren hat. Etwas ändert sich an Frauen, wenn sie ein Kind auf die Welt gebracht haben. Wenn man für solche Dinge sensibel ist, kann man sie spüren – ich schätze, es ist einfach Intuition.«

Corinne versuchte nicht, es zu leugnen. »Ich habe meinen Sohn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, man hat ihn mir kurz darauf weggenommen. Ich weiß nicht einmal, wo er jetzt ist.«

»Kind«, keuchte Amelie. »Das tut mir so leid für dich. Und auch für ihn, denn ich kann spüren, dass du ihn sehr lieb hast. Du musst ihn finden und darfst dabei die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Er bedeutet mir alles«, antwortete Corinne leise.

Aber selbst als sie das sagte, wusste sie, dass es nicht ganz richtig war. Denn auch jemand anders hatte inzwischen begonnen, ihr etwas zu bedeuten. Jemand, dem sie die Wahrheit anvertrauen wollte. Jemand, den sie zurückgewiesen und angelogen hatte, während er ihr nichts als Zärtlichkeit bewiesen hatte, und davon war ihr ganz elend

Sie hasste die Wand, die er zwischen ihnen errichtete, und wollte sie einreißen, bevor sie noch höher wurde, selbst wenn das bedeutete, dass sie sich ihm völlig offenbaren musste. Sie wollte ihm vertrauen, und das bedeutete, dass sie ihm eine Chance geben musste – und entweder lag sie damit richtig, oder sie täuschte sich in ihm.

Sie wusste nur, dass sie das riskieren musste.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Amelie? Ich will mal nachsehen, wo Hunter so lange bleibt.«

Als die alte Frau zustimmend nickte, stand Corinne vom Tisch auf und ging in den vorderen Teil des Hauses zurück. Noch bevor sie hinaus auf die Veranda gekommen war, sah sie, dass Hunter und der lilafarbene Wagen fort waren.

Er war zu seiner Mission aufgebrochen, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Murdock kam mit einem erstickten Schrei zu sich.

Chase sah zu, wie der Vampir an seiner Kette mit den Armen ruderte und versuchte, sich zu befreien. Er hatte ihn am Dachbalken eines alten, leeren Getreidespeichers irgendwo am Arsch der Welt etwa zwei Meter über dem Boden an den Knöcheln aufgehängt. Aus den stundenalten Schnittwunden und Prellungen, die seinen nackten Körper übersäten, tropfte immer noch Blut auf den Boden. Die Luft im Speicher war bitterkalt, eine zusätzliche Folter für den Bastard, der sich störrisch geweigert hatte, Chase zu sagen, was er wissen wollte.

Fast den ganzen Tag, den sie in diesem rattenverseuchten Unterschlupf verbracht hatten, hatte Chase versucht, aus Agent Murdock Informationen herauszuprügeln – ohne Erfolg. Als draußen die Sonne untergegangen war und sein Durst sich wieder gemeldet hatte, war Chases dünner Geduldsfaden gerissen. Er hatte Murdocks eigenes Messer genommen und versucht, die Wahrheit stückweise aus ihm herauszuschneiden.

Irgendwann war der Vampir ohnmächtig geworden. Chase hatte es zuerst gar nicht bemerkt, erst als seine eigene Hand vom Blut des anderen Mannes rot und glitschig war, der riesige Körper schlaff herabhing und auf Schmerzen nicht mehr reagierte.

Und so hatte Chase die Klinge wieder hingelegt und gewartet.

Nun beobachtete er, wie Murdock mühsam zu sich kam. Seine Ketten klirrten in dem engen Unterschlupf, er hustete und spuckte Blut auf den Boden. Auf dem verdreckten Beton hatte sich bereits eine riesige Blutlache gebildet, die schon gerann, und Blut und Pisse verwandelten die schimmeligen Überreste von uraltem Viehfutter und den eisüberkrusteten Rattenkot in eine aufgeweichte Masse. Die glänzende rote Pfütze frischer roter Zellen zog seine Augen magisch an, er sehnte sich danach, die Aufgabe einfach zu vergessen, die er hier zu Ende bringen musste, und stattdessen nach draußen auf die Jagd zu gehen.

Murdock bäumte sich auf, schlug um sich und zischte, als seine trüben Augen auf Chase fielen, der ihn von der anderen Seite des Getreidespeichers mit unverwandtem Blick betrachtete. »Bastard!«, brüllte er. »Du hast keine Ahnung, mit wem du dich hier anlegst!«

Chase schlang sich das Ende der anderen langen Kette, die er Murdock in einem Slipknoten um den Hals gelegt hatte, fester um die Faust und riss hart daran. »Heißt das, du spuckst endlich aus, was ich von dir wissen will?« Er stand auf und wickelte sich beim Näherkommen langsam die Kette um die Faust. In einem knappen Meter Entfernung blieb er stehen. »Wie ist deine Verbindung zu Dragos? Und ich warne dich – sag mir noch einmal, der Name sagt dir nichts, und ich schlage dir deine verdammte Fresse zu Brei, und zwar so lange, bist du auspackst.«

Murdock stieß ein wütendes Knurren aus, seine schmalen, blutverkrusteten Augen glühten bernsteinfarben. »Er bringt mich um, wenn ich mit dir rede.«

Chase zuckte die Schultern. »Und ich bringe dich um, wenn du’s nicht tust – klassische Zwickmühle. Und da ich hier die Kette halte und dich mit diesem Messer in kleine Häppchen schneide, schlage ich vor, du reizt mich jetzt nicht weiter.«

Murdock starrte ihn wütend an. Er hatte die Zähne zusammengebissen, aber in seine glühenden Augen war jetzt eine Spur Angst getreten. »Es gibt andere, die näher an Dragos’ Operation dran sind als ich. Was immer du suchst, ich bin nicht derjenige, der dir weiterhelfen kann.«

»Aber leider bist du gerade der Einzige, den ich habe. Also strapaziere meine Geduld nicht länger und rede endlich.« Um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, wickelte sich Chase die Kette enger um die Faust.

Scheiße, er hasste es, dem Mann so nahe zu sein. Nicht nur, weil er den starken Drang hatte, dem Sportsfreund wegen seiner Blutclub-Aktivitäten den Schädel einzuschlagen – von seinen anderen Perversionen ganz zu schweigen –, sondern wegen all dieses gottverdammten Bluts. Obwohl Stammesblut für die eigene Spezies keinen Nährwert hatte, zischte der wilde Teil von Chase beim Anblick und Geruch von so viel frischem Hämoglobin wie eine Viper in seiner Magengrube.

Murdock konnte kaum entgehen, dass Chases Fänge vollständig ausgefahren waren und in seinen Augen dasselbe bernsteinfarbene Feuer loderte wie in seinen eigenen zugeschwollenen Augenschlitzen – wenn auch nicht aus Schmerz, Angst oder Wut, sondern von seinem Hunger, der ihn mittlerweile praktisch ständig in seinen eisernen Klauen hatte.

Dieser wilde Teil von ihm fauchte, als er sich zwang, sich ganz nah vor Murdock zu stellen. »Sag mir, wo ich Dragos finde.«

Als die Antwort nicht schnell genug kam, riss Chase den Arm zurück und rammte Murdock die kettenumwickelte Faust wie einen Hammer gegen die Schläfe. Der Vampir heulte auf und spuckte mit einem dunkelroten Blutschwall einen Zahn aus.

Chases Magen verkrampfte sich heftig, und eine wilde, böse Euphorie schoss ihm durch die Adern, als er zusah, wie Murdock noch mehr Blut auf den Betonboden erbrach. Eine kranke Schadenfreude drängte ihn, zu einem weiteren Schlag auszuholen, den wimmernden Mistkerl zu Brei zu schlagen, wie er es verdiente.

Es erschreckte ihn, wie mächtig die Dunkelheit in ihm wurde. Wie unglaublich brutal er geworden war und wie tief der Wahnsinn nun schon in ihm wurzelte.

Tatsächlich entsetzte es ihn.

Er zwang das Gefühl mit aller Kraft nieder, streckte die Hand aus und packte Murdock am Kinn. Es kostete ihn Anstrengung, seine Stimme zu finden, während diese wilde innere Schlacht in ihm tobte, und als er endlich redete, klang seine Stimme rau und heiser. Er bleckte die Lippen von Zähnen und Fängen und fauchte: »Wo … ist … Dragos?«

»Ich weiß es nicht«, keuchte Murdock. Chase hob den Kettenschlagring, um wieder zuzuschlagen. »Ich weiß es nicht, ich schwör’s! Ich weiß nur, dass er den Orden vernichten will …«

»Was du nicht sagst«, unterbrach Chase ihn knapp. »Jetzt erzähl mir endlich was, was ich noch nicht weiß, sonst mache ich kurzen Prozess mit dir.«

Murdock holte ein paarmal hastig Atem. »Okay, okay … er hat einen Plan. Er will euch alle loswerden – den ganzen Orden. Er sagt, das muss er, denn nur dann hat er eine Chance, seinen Masterplan erfolgreich durchzuführen.«

»Masterplan«, wiederholte Chase und hatte das Gefühl, dass er jetzt endlich weiterkam. »Was zur Hölle hat Dragos vor?«

»Bin mir nicht sicher. Ich gehöre nicht zum inneren Kreis. Ich war einem seiner Leutnants unterstellt, der aus Atlanta nach Boston kam. Er war auch Freynes Vorgesetzter.«

»Wie hieß dieser Leutnant?«, fragte Chase. »Und wo finde ich ihn?«

»Den kannst du streichen«, antwortete Murdock. »Seit letzter Woche hat niemand mehr von ihm gehört, also dürfte er Dragos verärgert haben, und das überlebt keiner. Dragos gibt niemandem die Chance, ihn zweimal zu enttäuschen.«

Chase knurrte einen Fluch. »Okay, dann erzähl mir mehr von diesem inneren Kreis. Wer gehört noch dazu?«

Murdock schüttelte den Kopf, und ein Regen von Blutstropfen ging auf Chases Stiefel nieder. »Niemand weiß, wer ihm so nahesteht. Da ist er sehr vorsichtig.«

»Was genau will er gegen den Orden unternehmen?«

»Ich weiß es nicht. Irgendwas Großes, an dem er schon eine Weile arbeitet, wie man hört. Er hat versucht, das Hauptquartier zu orten. Bevor Freyne getötet wurde, hat er was von einem Lockvogel erwähnt, einer Art Trojaner …«

»Ach du Scheiße«, murmelte Chase.

Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf, als er überlegte, wie Dragos so etwas angehen würde. Durch den Nebel seines bohrenden Hungers dachte er an die Nacht von Kellan Archers Rettungsaktion zurück. Nach der Vernichtung von Lazaro Archers Dunklem Hafen war dem Orden nichts anderes übrig geblieben, als die beiden überlebenden Mitglieder der Familie zu ihrem Schutz im Hauptquartier aufzunehmen.

War die ganze Sache etwa genau so gelaufen, wie von Dragos geplant? Konnte dieser Bastard diesen Vorfall benutzt haben, um irgendwie an das Hauptquartier des Ordens heranzukommen? Und um was zu tun? Die Möglichkeiten waren endlos, und jede einzelne fuhr ihm wie ein eiserner Spieß in den Magen.

Chase musste sich konzentrieren, um seine Aufmerksamkeit wieder dem Verhör zuzuwenden. »Was weißt du noch über seine Pläne?«

»Das ist alles. Mehr weiß ich nicht.«

Chase warf dem Vampir einen schmalen Blick zu, seine Wut und sein Argwohn flackerten wieder auf, und er schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht. Vielleicht muss ich dir doch noch etwas auf die Sprünge helfen.«

Wieder rammte er Murdock die Faust gegen den Kopf. Dem platzte die Wange auf, und bei dem Anblick und dem Geruch von noch mehr Blut konnte Chase ein tierhaftes Knurren nicht unterdrücken.

»Rede endlich, verdammt«, zischte er, und der letzte Rest seiner Menschlichkeit wurde von der Bestie in ihm verschlungen. »Ich frag dich zum allerletzten Mal.«

Jetzt endlich wirkte Murdock überzeugt. Er hustete, ein nasses, gebrochenes Geräusch. »Dragos unterwandert die Exekutivbehörden der Menschen. Er hat jede Menge Lakaien bei der Polizei untergebracht, die für ihn Augen und Ohren offen halten. Und in letzter Zeit spricht er viel von einem Politiker – diesem neuen Senator, der vor Kurzem gewählt wurde.«

Die Politik der Menschen war Chase schon lange herzlich gleichgültig, aber selbst er hatte schon von dem vielversprechenden jungen Cambridge-Absolventen gehört, der für einen schnellen Aufstieg in die Bundespolitik bestimmt schien. »Wie kommt der hier ins Spiel?«, fragte Chase.

»Da musst du schon Dragos fragen«, nuschelte Murdock durch seine aufgeplatzte Lippe und den anschwellenden Kiefer. »Was immer er plant, dieser Clarence dürfte eine wesentliche Rolle spielen.«

Chase dachte einen Augenblick darüber nach, dann starrte er den Agenten voll Verachtung an. »Bist du sicher, dass das alles ist, was du mir sagen kannst? Ich erfahre nicht noch was Interessanteres, wenn ich dir auf der anderen Seite auch noch ein Loch in deinen kranken Schädel prügle?«

»Ich habe dir alles gesagt. Ich weiß nicht mehr, ich gebe dir mein Ehrenwort.«

»Dein Ehrenwort«, murmelte Chase leise. »Denkst du im Ernst, ich geb einen Scheiß auf das Ehrenwort eines pädophilen Blutclubbers, der sich mit krankem Abschaum wie Dragos gegen seine eigene Spezies verschworen hat?«

In Murdocks Augen trat ein wachsamer, besorgter Glanz. Sein starker Südstaatenakzent wurde noch verstärkt vom Blut, das ihm aus dem Mundwinkel rann. »Du hast gesagt, du willst Informationen, und ich hab sie dir gegeben. Fair ist fair, Chase. Mach mich los. Lass mich gehen.«

Chase lächelte, ehrlich belustigt. »Dich laufen lassen? Aber nicht doch. Für dich ist es hier zu Ende. Die Welt wird ein viel besserer Ort sein ohne solche wie dich.«

Murdock antwortete mit einem panischen Kichern, als wäre ihm klar geworden, dass er keine Hoffnung hatte, hier lebend herauszukommen. »Oh, das ist ein starkes Stück, Sterling Chase. Deine Selbstgerechtigkeit kennt keine Grenzen, was? Die Welt wird ein besserer Ort ohne mich darin. Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut, mein Alter? Ich mag ja sein, was du mich genannt hast, aber du selbst bist auch nicht besser.«

»Fresse«, knurrte Chase.

»Denkst du, mir ist nicht aufgefallen, dass deine Augen die reinsten Hochöfen sind? Und deine Fänge sind inzwischen ständig ausgefahren, hab ich recht?«

»Ich hab gesagt, du sollst deine Fresse halten, Murdock.«

Aber er tat es nicht. Verdammt, der Kerl hielt einfach nicht sein Maul. »Wie tief kann so ein Junkie wie du sinken? Du bist doch kurz davor, hier auf alle viere zu gehen und mein Blut von diesem zugekackten Betonboden aufzuschlabbern. Wenn deine selbstgerechten Kumpels vom Orden dich so sehen könnten – ein Rogue, wie er im Buche steht. Tu der Welt einen Gefallen und befreie sie von dir.«

Das war mehr, als Chase tolerieren konnte. Er konnte es nicht ertragen, die Wahrheit zu hören, schon gar nicht von Abschaum wie Murdock. Er schmetterte dem Vampir seine kettenbewehrte Faust ins Gesicht und brachte seinen Körper an der Kette zum Schwingen. Dann riss er Murdock zurück und drosch so lange gnadenlos auf ihn ein, bis sein Gesicht zu einer blutigen Masse geworden war.

Bis Murdocks Körper leblos herabhing und er seine schreckliche Stimme für immer zum Schweigen gebracht hatte.

Chase ließ die Kette von seiner pulsierenden Faust fallen, dann löste er die Kette, an der Murdock hing. Mit einem schweren Rums schlug die Leiche auf dem Boden des alten Getreidespeichers auf, die Kette rasselte hinterher.

Chase drehte sich um und ging hinaus. Das Tor ließ er für die anderen nächtlichen Raubtiere offen, damit sie sich an dem Kadaver satt fressen konnten, und was dann noch von Murdock übrig blieb, würde die Morgensonne beseitigen.