31

Hunter trug den Nachwuchskiller zum Kastenwagen hinüber und lud seinen reglosen Körper auf der Ladefläche ab. Corinne war an seiner Seite und hielt die Hand ihres Sohnes, Tränen strömten ihr die Wangen hinunter.

»Was für starke Hände er hat«, murmelte sie. »Mein Gott … ich kann kaum glauben, dass er es wirklich ist.«

Hunter schwieg, um ihr nicht den Augenblick zu verderben, aber er wusste sehr gut, dass der Junge noch lange nicht in Sicherheit war. Allein schon ihn aus diesem Haus zu holen war ein Risiko. Das UV-Halsband war vermutlich so programmiert, dass er sich ohne Dragos’ Erlaubnis nur einen gewissen Radius von seiner Zelle entfernen konnte. Und mit dem toten Lakaien auf der vorderen Veranda hatte sich das Risiko, dass das Halsband detonierte, verdoppelt.

Als spürte der Junge die Brisanz seiner Lage, kam er jetzt langsam wieder zu sich. Er begann sich zu wehren und riss die Augen weit auf. Corinne holte hastig Atem, durch ihre Blutsverbindung spürte Hunter ihre Anspannung und Sorge, und sein eigener Puls beschleunigte sich.

Hunter hielt den Jungen am Halsband fest, die Finger um das dicke schwarze Polymer geschlossen, und schüttelte warnend den Kopf. »Beweg dich nicht. Du kannst nicht weglaufen.«

»Nathan, hab keine Angst«, versuchte Corinne ihn zu beruhigen, ihre Stimme sanft und liebevoll. »Wir wollen dir nichts tun.«

Der Junge sah hastig zwischen den beiden hin und her. Hunter vermutete, dass in erster Linie das Halsband den Nachwuchskiller davon abhielt, die Flucht zu riskieren, und weniger Corinnes Mitgefühl. Nathans Nasenflügel bebten, als er unter Hunters Griff keuchte, sein Gesicht war so misstrauisch wie das eines Wildtieres in der Falle.

»Wenn der Junge eine Chance haben will, hier lebend wegzukommen, müssen wir das Halsband loswerden«, sagte er zu Corinne. »Dragos weiß vielleicht schon, dass sein Betreuer tot ist. Er könnte auf dem ganzen Grundstück Sensoren und Sender installiert haben.«

»Aber wie können wir ihm das Halsband abnehmen?«, fragte sie und sah ihn erschrocken an. »Ich weiß doch, was passiert, wenn man es beschädigt. Wir können doch nicht das Risiko eingehen, dass es …«

Als sie den Satz nicht beenden konnte, sagte Hunter sanft zu ihr: »Wir müssen etwas ausprobieren. Wenn wir es nicht tun, könnte es mir in den nächsten Sekunden in den Händen detonieren.«

Da wandte sie den Blick von Hunter ab und sah wieder hinunter auf ihren Sohn. Er folgte jedem Wort, das sie sagten, und nahm stumm seine Umgebung in sich auf. Kalkulierte seine Möglichkeiten und Chancen zur Flucht, genau wie Hunter es tun würde, wenn zwei Fremde ihn eingefangen hätten.

»Wir sind hier, weil wir dir helfen wollen«, sagte Corinne zu ihm. Ihr Lächeln war traurig, aber voller Hoffnung. »Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich, aber du bist mein Sohn. Ich habe dich Nathan genannt, das bedeutet ›Gottesgeschenk‹. Das bist du für mich gewesen, vom Augenblick an, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«

Er starrte sie lange an, blinzelte schnell, musterte ihr Gesicht. Dann begann er wieder zu kämpfen, er drehte und wand sich vorsichtig, um auszutesten, wie fest Hunter das Halsband gepackt hielt.

»Ich habe früher auch so eines getragen«, sagte Hunter, suchte seinen wilden Blick und hielt ihn. »Ich bin ein Killer wie du. Aber ich habe meine Freiheit gefunden. Das kannst du auch, aber du musst uns vertrauen.«

Jetzt kämpfte der Junge wild gegen ihn an, und Hunter fragte sich, ob seine Worte ihn so erschreckt hatten – dass er von Freiheit geredet hatte, ein Konzept, das für Dragos’ Zuchtkiller etwas Fremdes und Gefährliches war, noch gefährlicher als ihr tödliches Halsband.

Als Nathan sich heftig wehrte, schlug der dicke schwarze Ring aus Polymer und Hightech heftig auf dem Boden des Kastenwagens auf, und eine kleine rote LED-Anzeige begann zu blinken.

»Was ist das?«, fragte Corinne mit Panik in der Stimme. »Oh Gott, Hunter … wir können das nicht machen. Du musst ihn loslassen, bevor er sich verletzt. Bitte, Hunter, ich flehe dich an, lass ihn los.«

Bei diesen Worten blitzte plötzlich Miras Vision vor ihm auf. Er ignorierte sie und konzentrierte sich ganz auf die anstehende Aufgabe. »Wenn wir ihn gehen lassen, ist es sein sicherer Tod. Der Auslöser ist jetzt aktiviert, er kann nicht weglaufen, ohne die Explosion auszulösen.«

Und jetzt, wo die LED-Anzeige blinkte, rann ihnen die Zeit durch die Finger. Er blickte sich hektisch um, auf der Suche nach einem Werkzeug, um das Halsband abzunehmen, auch wenn er nur zu gut wusste, dass er die Explosion so nur beschleunigen würde.

Da erinnerte er sich an die Tieftemperatur-Lagerbehälter.

Der flüssige Stickstoff.

»Steh auf«, sagte er zu Nathan. »Ganz vorsichtig aufstehen.«

Corinne starrte ihn mit offenem Mund an. »Was machst du? Hunter, sag mir, was du vorhast.«

Ihm blieb keine Zeit für Erklärungen. Er ging mit dem Jungen zu den Tanks hinüber, die Hand immer noch fest um das tödliche Halsband geschlossen.

»Hunter, bitte tu ihm nichts«, flehte Corinne, eine weitere Bestätigung dafür, dass Miras Vision nicht abgewendet werden konnte. »Kannst du das nicht verstehen? Ich liebe ihn! Er bedeutet mir alles!«

Hunter klammerte sich an seine Überzeugung, dass er das einzig Richtige und Mögliche tat, um ihr Kind zu retten. Mit der freien Hand griff er nach dem Schlauch, der den Lagerbehälter mit dem Stickstofftank verband, und riss ihn los. Eine weiße Dampfwolke quoll daraus hervor.

»Auf die Knie«, sagte er zu dem Jungen und drückte ihn fest auf den Boden. »Zieh dein Hemd aus, wickle es dir um den Kopf wie eine Kapuze und klemm es rundum gut unter dem Halsband fest.«

»Hunter«, rief Corinne. Jetzt weinte sie. »Bitte, lass ihn los. Tu’s für mich …«

Er spürte ihre Angst wie seine eigene, aber er konnte jetzt nicht aufhören. »Das ist unsere einzige Möglichkeit. Seine einzige Chance, Corinne.«

Nathan gehorchte, stumm, unsicher. Als er sich das Tank-Top wie angewiesen über den Kopf gezogen hatte, sagte Hunter zu ihm: »Leg dich auf den Bauch.«

Langsam legte sich der Junge auf den Boden. Hunter schlang sich das lose Ende des Baumwollhemdes um die Hand, dann packte er das Halsband fester und mit der anderen den Schlauch mit dem flüssigen Stickstoff. Er stieß einen leisen Fluch aus, dann richtete er den Schlauch auf Nathans Hinterkopf und drückte die Wolke von Vereisungschemikalien direkt auf das Halsband.

Weiße Dampfwolken quollen auf. Selbst durch die mehreren Lagen Stoff, die seine Hand schützten, brannte seine Haut unter der extremen Kälte, die auf das unzerstörbare Gehäuse und die Elektronik von Dragos’ grausamer Erfindung einströmte.

Unter ihm war Corinnes Sohn ganz still geworden. Er keuchte heftig und stumm, ein verängstigtes Kind, das sich in diesen womöglich letzten Sekunden seines Lebens mit aller Kraft zusammenriss.

Viel zu bald begann der flüssige Stickstoffstrahl auszudünnen und zu versiegen, der Tank war fast leer. Hunter hätte das verdammte Halsband gerne noch länger eingefroren, aber er musste es jetzt versuchen und auf das Beste hoffen.

»Was ist los?«, fragte Corinne. »Funktioniert’s?«

»Das werden wir gleich wissen.«

Er warf den Schlauch fort und griff nach einem der Dolche in seinem Schenkelholster. Er zog ihn heraus und drehte den Griff herum, um ihn wie einen Hammer auf das eingefrorene Halsband fallen zu lassen.

Corinne packte ihn mit beiden Händen am Arm. »Warte.« Sie schüttelte den Kopf, ihr Gesicht angstverzerrt. »Tu das nicht. Bitte, du wirst ihn umbringen.«

Wahrscheinlich würde er den Jungen und sich selbst umbringen, wenn er dieses russische Roulette verlor und das Ding im nächsten Augenblick in die Luft ging. Während Corinne weinte und ihn vergebens anflehte aufzuhören – und die Vision sich genauso abspielte wie von Mira prophezeit –, entzog Hunter ihr seinen Arm.

Dann ließ er seine Faust auf das Halsband niedersausen.

Es zersprang.

Das tödliche Halsband zerbröckelte einfach um Nathans umwickelten Kopf.

Hunter stand auf und trat von dem Jungen zurück, und Corinne warf die Arme um ihn.

»Oh mein Gott«, keuchte sie, klammerte sich an Hunter und lachte und weinte durcheinander. »Oh mein Gott … ich glaub’s einfach nicht. Hunter, es hat wirklich funktioniert!«

Nathan lag noch einen Augenblick reglos auf dem Boden. Dann streckte er die Hand aus und zog sich das Tank-Top vom Kopf. Er stand auf und drehte sich zu ihnen um. Seine Finger zitterten ein wenig, als er die nackte Haut an seinem Hals betastete.

Da war nichts mehr, nur noch ein weißlicher Streifen, wo die Chemikalien ihn verbrannt hatten, aber die Haut würde schnell wieder heilen. Das Wunder war geschehen – er war frei.

»W…was habt ihr mit mir gemacht?«, fragte er, die ersten Worte, die er an sie richtete. Seine Stimme war tief, noch heiser vom Stimmbruch.

»Du bist frei«, sagte Hunter zu ihm. »Jetzt kann dich niemand mehr kontrollieren. Dank der Liebe deiner Mutter und ihrer Entschlossenheit, dich zu finden, bist du endlich frei und kannst leben, wie du willst.«

Corinne trat von Hunter fort und streckte die Hände liebevoll nach ihrem Sohn aus. »Ich will dich mit nach Hause nehmen, Nathan. Wir können jetzt eine Familie sein.«

Als sie sich ihm näherte, warf er ihr einen argwöhnischen Blick zu. Misstrauisch runzelte er die Stirn und schüttelte leicht seinen rasierten Kopf.

Zuerst noch wachsam, dann in die Enge getrieben. Bevor Hunter die Veränderung in dem Jungen registrieren konnte, war Nathan schon in Bewegung. Mit der übernatürlichen Geschwindigkeit des Stammes hatte er eine der scharfen Scherben seines Halsbandes aufgehoben und drückte sie Corinne an die Kehle. Sie keuchte auf, völlig unvorbereitet auf den Angriff.

Hunter knurrte, seine Augen waren auf die zackige, improvisierte Klinge gerichtet, die gegen die Halsschlagader seiner Stammesgefährtin gepresst war. Ob dieser Junge ihr Fleisch und Blut war oder nicht, er hatte sich eben zum Feind erklärt.

Und Hunter würde nicht zögern, ihn zu töten, wenn die Situation auch nur um einen Deut eskalierte.

Selbst noch als Nathan rückwärts mit ihr auf die offene Luke des Kastenwagens zuging, flehte Corinne Hunter mit den Augen an, ihn zu verschonen. »Nathan«, sagte sie und versuchte noch einmal, zu ihrem Sohn durchzudringen. »Du musst keine Angst haben. Wir wollen deine Freunde sein. Lass uns deine Familie sein. Gib mir die Chance, die Mutter für dich zu sein, die ich hätte sein sollen.«

Er ging weiter auf die Luke zu und sagte nichts, der scharfe Kunststoff lag immer noch an ihrer Arterie.

»Nathan«, sagte Corinne. »Bitte, lass mich dich lieb haben …«

Er stieß sie nach vorne, wies alles brutal zurück, was sie zu ihm gesagt und für ihn getan hatte.

Dann floh er aus dem Kastenwagen in die Wälder, als bereits das erste Licht der Morgendämmerung am Horizont erschien.