9

Corinne war bereits bis zum geschlossenen Einfahrtstor an der Straße gekommen, als Hunter Victor Bishop liegen ließ und aus dem Dunklen Hafen auf den gefrorenen Rasen trat. Sie wirkte sehr klein und zerbrechlich, trotz der inneren Stärke, die sie im Haus bewiesen hatte. Jetzt, wo sie dort draußen war, allein in der Dunkelheit, erkannte er, wie verletzt sie wirklich war. Sie zitterte am ganzen Körper, klammerte sich mit herabhängenden Schultern und tief gesenktem Kopf an die schwarzen eisernen Gitterstangen und kämpfte gegen einen Schmerz an, den er sich auch nicht annähernd vorstellen konnte.

Sie weinte, als er sich ihr näherte, ihr Atem bildete helle Wolken in der Dunkelheit. Sie schluchzte leise, und ihr Kummer schien aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen. Hunter wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Worte des Trostes für sie, hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie jetzt vielleicht gern hören würde.

Er streckte die Hand aus, um sie ihr auf die bebende Schulter zu legen, wie er es andere hatte tun sehen, wenn sie jemanden trösten wollten. Unerklärlicherweise spürte er das Bedürfnis, ihren Schmerz zu würdigen. Sie wirkte so einsam in diesem Augenblick, und er wollte ihr zeigen, dass er verstand, dass sie eben in diesem Haus etwas Wichtiges verloren hatte – ihr Vertrauen.

Bevor er sie berühren konnte, registrierte sie seine Anwesenheit.

Schniefend hob sie den Kopf und sah über die Schulter zu ihm auf. »Hast du … ihm was getan?«

Hunter schüttelte langsam den Kopf. »Er ist am Leben, wenn ich auch nicht verstehe, warum sein Tod so inakzeptabel für dich ist.«

Sie runzelte die schmalen Augenbrauen. »Er hat mich einmal geliebt. Noch bis vor ein paar Minuten ist er mein Vater gewesen. Wie konnte er mir das nur antun?«

Hunter starrte in ihre wild blickenden Augen und erkannte, dass sie von ihm keine Erklärung erwartete. Sie wusste so gut wie er, dass Victor Bishops Feigheit größer gewesen war als seine Liebe zu dem Kind, das er bei sich aufgenommen und als seine Tochter aufgezogen hatte.

Corinne sah über seine Schulter in die Dunkelheit. »Wie konnte er nur die ganze Zeit mit sich leben und wissen, was er mit seinen Lügen angerichtet hat – was er nicht nur mir angetan hat, sondern der ganzen Familie? Wie konnte er ruhig schlafen, nachdem er das Mädchen hatte ermorden lassen, um ihren Tod als Teil seines Täuschungsmanövers einzusetzen?«

»Er verdient die Gnade nicht, die du ihm heute Nacht erwiesen hast«, antwortete Hunter. Er sagte es ohne Groll, stellte lediglich eine grausame Tatsache fest. »Ich glaube nicht, dass er dir gegenüber genauso rücksichtsvoll gewesen wäre.«

»Ich will seinen Tod nicht«, flüsterte sie. »Das könnte ich meiner Mutter – Regina – nicht antun. Er wird sich ihr gegenüber rechtfertigen müssen, nicht mir. Und auch nicht dir oder dem Orden gegenüber.«

Hunter stieß ein kehliges Knurren aus, alles andere als überzeugt. Der einzige Grund, warum Victor Bishop noch am Leben war, war die Bitte seiner verratenen Tochter. Hunter war bestürzt gewesen, als sie ihn gebeten hatte, den Mann zu verschonen. Aber er hätte sich nicht wundern müssen. Schließlich hatte Miras Vision es vorausgesagt.

Allerdings nicht so akkurat, wie er gedacht hatte. Die Situation war ihm irgendwie anders vorgekommen, und auch Corinne war anders gewesen. Sie hatte ihn nicht mit der leidenschaftlichen Verzweiflung angefleht, die er in Miras Vision gesehen hatte, sondern mit einer resignierten Erschöpfung.

Und nicht nur das, überlegte Hunter. Die Vision war auch anders ausgegangen, als die kleine Seherin ihm gezeigt hatte. Denn er hatte nicht zugeschlagen. Der Ablauf von Miras Vision war verändert worden, und das war noch nie vorgekommen.

Es fühlte sich falsch an, grundfalsch.

Ein Teil von ihm wollte selbst jetzt noch in den Dunklen Hafen zurück. Er war dafür ausgebildet, jeden Auftrag zu Ende zu bringen, damit ihm die Folgen nicht später zum Verhängnis wurden. Hunter hatte einen gebrochenen Mann vor sich gesehen, jemanden, der sich als beeinflussbar und schwach erwiesen hatte. Solche Leute konnten von Stärkeren manipuliert werden, wie Dragos es vor all den Jahren auch getan hatte. Auch wenn Victor Bishop ihm heute Nacht trotz seines Reichtums und seiner politischen Verbindungen nur als schwacher Gegner erschienen war, brannte der erfahrene Killer in Hunter vor der Begierde, den Job zu beenden.

Angesichts dessen, was er von der kleinen Mira und ihrer außergewöhnlichen Gabe wusste, fragte er sich, wie es überhaupt möglich sein konnte, dass er sich Corinnes Bitte nicht widersetzt und Bishop den prophezeiten Todesstoß versetzt hatte.

Er sah, wie sie zitterte, als ein eisiger Windstoß durch das verschlossene Tor fuhr.

»Ich muss hier raus«, murmelte sie und drehte sich heftig zu den hohen Gitterstangen um. »Ich gehöre nicht hierher. Jetzt nicht mehr.«

Sie packte das Tor mit beiden Händen und rüttelte daran, immer fester, ein wortloser Schrei stieg ihr tief in der Kehle auf. Sie warf den Kopf zurück und schrie zum sternenübersäten Nachthimmel auf. »Lasst mich doch endlich raus, gottverdammt! Ich muss sofort hier raus!«

Hunter stellte sich hinter sie und legte seine Hände über ihre. Sie erstarrte, jeder Muskel in ihr verharrte in regloser Anspannung. Obwohl sie doch eben noch gezittert hatte, fühlte sich ihr Körper an seiner Brust warm an. Es war eine lebendige Hitze, eine fast unerträgliche Präsenz, die seinen Sinnen einen Schlag versetzte wie ein Kurzschluss.

Auch Corinne musste es gefühlt haben. Sie zog ihre Hände unter seinen hervor und verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt erst registrierte er, wie nahe sie einander waren, kaum ein Zentimeter trennte ihren Rücken von seiner Brust und seinem Oberkörper, ihr zierlicher Körper war im Käfig seiner Arme gefangen.

Sie war so klein und zart, und doch strahlte sie eine trotzige Energie aus, die ihn anzog und verlockte, ihren Duft einzuatmen, länger ihre unglaublich zarten kleinen Hände zu berühren und herauszufinden, wie sich ihr seidiges, dunkles Haar an seiner stoppeligen Wange anfühlte.

Er war es nicht gewohnt, in Versuchung zu geraten, geschweige denn, ihr nachzugeben. Und so blieb er in diesem verwirrenden Augenblick völlig reglos stehen und ignorierte die plötzliche Beschleunigung seines Pulses und die Hitze, die in seinen Adern aufflackerte.

Als sie ihre Hände unter seinem losen Griff hervorzog und sich wegduckte, spürte Hunter sofort Erleichterung. Zwischen seinen Armen war nur noch kalte Luft. Corinne stellte sich neben ihn, als er näher an das Eisentor herantrat und es mit bloßen Händen so weit aufzwängte, dass sie beide hindurchschlüpfen konnten.

Sofort schrillte oben im Haus der Alarm los, die Flutlichtanlage ging an und tauchte Eingang und Wände des Dunklen Hafens in gleißendes Licht.

Corinne sah ihn unter dem Lichtschein an. »Bring mich hier weg, Hunter. Egal wohin, aber bring mich einfach hier weg.«

Er nickte ihr grimmig zu und winkte ihr, ihm zum Wagen zu folgen, den er vorhin weiter unten an der Straße abgestellt hatte. Sie rannten zusammen hin, und Corinne sprang auf den Beifahrersitz, während Hunter um den Wagen herumging und sich ans Steuer setzte.

Er fuhr los und registrierte, dass sie sich nicht ein einziges Mal umsah, sobald sie den Dunklen Hafen hinter sich in der Dunkelheit zurückgelassen hatten. Sie saß steif neben ihm und starrte aus der Windschutzscheibe, ihr Blick abwesend in die Ferne gerichtet.

Über zwanzig Minuten lang fuhren sie schweigend, dann hielt er in einem ruhigen Teil der Stadt am Straßenrand. »Ich muss Meldung im Hauptquartier machen«, sagte er und zog sein Handy aus der Tasche seines ledernen Trenchcoats.

Corinne schien ihn kaum zu hören, ihre ausdruckslosen Augen waren immer noch auf den fernen Horizont gerichtet.

Hunter wählte und rechnete damit, dass sich Gideon mit seinem üblichen Standardspruch meldete: »Schieß los.« Aber stattdessen meldete sich Lucan. »Wo bist du?«

»Bin in Detroit aufgehalten worden«, antwortete Hunter und registrierte bei seinem Anführer eine Spur von Ungeduld und Anspannung. »Gibt es ein Problem?«, rief er laut. »Gibt es neue Entwicklungen zu Dragos?«

Lucan murmelte einen finsteren Fluch. »Kannst du laut sagen. Wir haben eben herausgefunden, dass er die Koordinaten des Hauptquartiers kennt. Das heißt, wir vermuten es. Vor ein paar Stunden hat Kellan Archer ein Ortungsgerät ausgekotzt, Gideon analysiert es gerade.«

»Die Entführung war eine List«, sagte Hunter und fügte für sich die Teile des Puzzles zusammen. So ergab das alles einen logischen Sinn – die grundlose Attacke auf die Zivilisten in der letzten Woche … »Dragos musste dafür sorgen, dass der Orden den Jungen aufnehmen würde, also hat er seine ganze Familie ermordet und ihren Dunklen Hafen in Schutt und Asche gelegt. Der Junge musste isoliert werden, sodass dem Orden nichts anderes übrig blieb, als ihn zu seinem Schutz im Hauptquartier aufzunehmen.«

»Und wir sind komplett drauf reingefallen«, bemerkte Lucan knapp. »Ich habe entschieden, gegen unser Protokoll zu verstoßen und den Jungen ins Hauptquartier zu holen. Zur Hölle noch mal, ich hätte Dragos genauso gut die gottverdammte Tür öffnen und ihn zu uns hereinbitten können.«

Hunter hatte Lucan noch nie reuig erlebt. Wenn der Gen Eins je Zweifel hegte, hatte er sie Hunter gegenüber nie geäußert. Dass er das jetzt tat, unterstrich nur den Ernst der Lage. »Ich weiß, wie Dragos operiert«, sagte Hunter. »Ich habe gesehen, wie er denkt, ich kenne seine Taktiken. Der junge Archer ist schon einige Tage im Hauptquartier …«

»Zweiundsiebzig Stunden«, warf Lucan ein.

Hunter hatte Corinnes Blick auf sich gespürt, als Dragos’ Name gefallen war. Jetzt lauschte sie stumm, ihr hübsches Gesicht im grünlichen Lichtschein der Armaturenbrettbeleuchtung wirkte erschrocken. Hunter spürte ihre Angst wie einen Kälteschauer, als er weiter mit Lucan sprach. »Dragos musste wissen, dass das Ortungsgerät nicht lange unentdeckt bleiben würde. Er dürfte schon lange vor diesem Manöver damit begonnen haben, seinen Angriffsschlag zu organisieren. Wenn er das Hauptquartier angreift, wird er es auf eine Weise tun, die dem Orden den größtmöglichen Schaden zufügt.«

»Er will Blut sehen«, antwortete Lucan. »Mein Blut.«

»Ja.« Hunter wusste aus seiner Zeit im Dienst des machtbesessenen Dragos, dass diese Schlacht zwischen ihm und dem Orden inzwischen sehr persönlich für ihn geworden war. Dragos wollte das Hindernis, das seinen Zielen im Wege stand, vernichten, und seine Wut würde ihn dazu zwingen, es auf eine Art und Weise zu tun, die Lucan Thorne und seinen Untergebenen größtmögliche Schmerzen zufügen würde.

Das Bostoner Hauptquartier war jetzt für niemanden mehr sicher, aber das brauchte Hunter Lucan nicht zu sagen, das wusste er selbst. Seiner nüchternen Stimme war der Ernst der Lage anzuhören, aber sein Schweigen war noch beredter.

»Auf meiner Mission in Detroit hat es Komplikationen gegeben«, sagte Hunter nun, was mit einem saftigen Fluch beantwortet wurde. Er gab Lucan die Kurzzusammenfassung dessen, was im Dunklen Hafen mit Corinne und ihrer Familie geschehen war, erzählte von seinem Verdacht, dass Victor Bishop etwas zu verbergen hatte, und der Enthüllung, die Corinnes Zukunft schlagartig wieder ins Ungewisse katapultierte. Aber dafür hatte der Orden nun vermutlich eine neue Spur zu einem von Dragos’ früheren Verbündeten.

»Henry Vachon«, sagte Lucan nachdenklich, der Name, den Regina Bishop ihnen gegeben hatte. »Ich kenne ihn nicht, aber ich bin sicher, Gideon kann den Bastard aufspüren. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie wichtig es für uns ist, jeder Spur nachzugehen, die wir zu Dragos haben.«

»Natürlich nicht«, stimmte Hunter zu.

»Ich sage Gideon, er soll eine Suche in der Internationalen Stammdatenbank durchlaufen lassen, und melde mich wieder, sobald wir was zu Vachon haben, vermutlich schon in der nächsten Stunde«, sagte Lucan. »Was ist mit Corinne? Ist sie noch bei dir?«

»Ist sie«, antwortete Hunter und warf ihr beim Reden einen Seitenblick zu. »Sie ist hier bei mir im Wagen.«

Lucan stieß einen Grunzlaut aus. »Gut. Ich will, dass du sie nicht aus den Augen lässt. Solange hier im Hauptquartier das Chaos herrscht, macht es keinen Sinn, wenn du oder ihr beide jetzt hierher zurückkommt.«

Hunter sah finster in Corinnes fragendes Gesicht. »Du beauftragst mich mit ihrem Schutz?«

»Momentan kann ich mir keinen sichereren Ort für sie vorstellen.«

Trotz der schlechten Neuigkeiten, die den Orden vor einigen Stunden erschüttert hatten, wollte Lucan keine der bereits zugewiesenen Patrouillen abblasen. Wenigstens hatte sich dadurch die Stimmung im Hauptquartier etwas gehoben.

Von wegen.

Dante kam es vor, als tickte der Countdown einer Zeitbombe, seit Kellan Archer Dragos’ Ortungsgerät ausgekotzt hatte. Alle verstanden, was das bedeutete, und die Gewissheit, dass ihnen jetzt Gefahr drohte, die jeden Augenblick über sie hereinbrechen konnte, hatte sie alle erschüttert.

Aber Angst und Passivität würden den aufziehenden Sturm nicht verhindern. Sie mussten aggressiver vorgehen, jede Ecke genauestens untersuchen und jeden Stein umdrehen, wenn sie Dragos auch nur einen Zentimeter näher kommen wollten. Er musste aufgespürt und aufgehalten werden – jetzt mehr denn je.

Dieser Leitgedanke und die Wut, die er in ihm auslöste, waren das Einzige, das Dante in dieser Nacht die Kraft gegeben hatte, sich von Tess loszureißen und zusammen mit Kade auf Patrouille zu gehen.

Mit dem Herzen war er immer noch im Hauptquartier, aber mit dem Kopf war er ganz bei der Sache und durchkämmte die Stadt nach selbst den kleinsten Hinweisen zu dem entkommenen Agenten Murdock, nach Dragos’ Killern … nach irgendwas.

Und die ganze Nacht lang hatte ein Teil von ihm auch nach anderen Spuren Ausschau gehalten.

»Warte mal«, sagte er zu Kade, der den schwarzen Rover eben auf eine heruntergekommene Uferstraße am Mystic River in Southie lenkte. »Hast du den Typen da drüben gesehen?«

Kade ging etwas vom Gas und spähte in die Richtung, in die Dante zeigte. »Ich sehe da niemand außer ein paar Nutten über dem Verfallsdatum mit Absätzen aus Plexiglas und Forever-21-Klamotten – die Mädels haben echt Klasse.«

Dante konnte nicht darüber lachen, obwohl Kade die Nutten an der nächsten Straßenecke sehr zutreffend beschrieben hatte.

»Ich glaube, das war Harvard«, sagte er, fast sicher, dass die riesenhafte dunkle Gestalt, die er eben um die Ecke einer heruntergekommenen alten Lagerhalle hatte schleichen sehen, ein Stammesvampir gewesen war. Und aufgrund seiner Körperhaltung und seiner Bewegungen hätte Dante schwören können, dass es Sterling Chase war. »Anhalten.«

»Selbst wenn es Harvard war, ich glaube, das ist keine gute Idee, Mann …«

»Ist mir scheißegal, was du denkst«, fuhr Dante ihn an, seine Besorgnis um seinen desertierten Freund überlagerte alles andere. »Fahr rechts ran, Kade. Ich steig aus.«

Er wartete nicht ab, bis der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war, sondern sprang sofort hinaus und sprintete auf das Gebäude zu, zu dem der Vampir gegangen war. Kade war direkt hinter ihm und fluchte leise, gab ihm aber trotzdem Rückendeckung.

Sie gingen um die Ecke des Backsteingebäudes und fanden sich vor einem heruntergekommenen Bahnbetriebswerk wieder. Auf einem Gleis standen mehrere rostige, graffitiüberzogene Güterwaggons. Einer davon war so weit aufgestemmt worden, dass eine Person sich hineinzwängen konnte. Daneben hatte sich eine Gruppe Menschen um eine Metalltonne versammelt, in der Abfälle brannten. Sie wärmten ihre Hände darüber und ließen ein Crackpfeifchen herumgehen.

Die Junkies sahen kaum auf, als Dante und Kade an ihnen vorbeigingen. Ihre Gesichter waren hohlwangig und gespenstisch. Sie stanken nach Drogen, Alkohol und verrotteten Kleidern. Ihre Haare waren verdreckt, ihre Körper stanken ungewaschen. Glasige Augen starrten blicklos vor sich hin, ihr Verstand war völlig an die Sucht verloren.

»Herr im Himmel«, zischte Kade angewidert. »Wenn Chase sich hier rumtreibt, geht er wirklich vor die Hunde.«

Dante konnte ihm nicht widersprechen. Er spürte, wie sich sein Kiefer verkrampfte, bis es wehtat. Mit Chase ging es rapide bergab. Das wusste er, seit Elise ihnen erzählt hatte, was in der Kapelle passiert war. Und damit, dass er einfach abgehauen war, hatte er sein Schicksal so gut wie besiegelt.

Aber noch war Dante nicht bereit, ihn aufzugeben.

Er musste einfach daran glauben, dass Harvard noch nicht ganz verloren war. Wenn er ihn nur finden könnte, konnte er vielleicht mit ihm reden. Ihm erzählen, was vor ein paar Stunden im Hauptquartier passiert war, und ihn wissen lassen, dass er gebraucht wurde.

Und wenn das alles nichts fruchtete, würde Dante dem selbstzerstörerischen Vollidioten eine ordentliche Abreibung verpassen.

»Er ist da lang gegangen«, sagte Dante. »Er muss irgendwo da hinten sein.«

Kade zeigte mit dem Kinn auf den offenen Güterwaggon. Dante nickte. Das war so ziemlich der einzige Ort, an dem sich Chase hier verstecken konnte, auch wenn Dante so gut wie alle anderen im Orden wusste, dass Chase seine übernatürliche Gabe einsetzen würde, wenn er nicht gefunden werden wollte – er würde die Schatten herbeirufen und sich hinter ihnen verstecken.

Gemeinsam näherten er und Kade sich dem Güterwaggon, und Dante ging zu dem dunklen Türspalt. Der üble Gestank von noch mehr verlorenen Menschen drang zu ihm heraus, als er sich hochzog und sich schnell in dem dunklen Waggon umsah. Wie alle Angehörigen seiner Spezies sah er hervorragend im Dunklen. Von Chase keine Spur unter den schlafenden Männern und Frauen, auch nicht bei der kleinen Gruppe, die sich unter einer gemeinsamen Decke aneinanderkauerte und mit leeren Augen zu ihm aufstarrte.

Chase war nicht da, nicht einmal in der dunkelsten Ecke.

»Harvard«, sagte er und versuchte es trotzdem. Vielleicht war er ja doch da, und wenn er nur eine vertraute Stimme hörte …

Schweigen.

Er wartete einen Augenblick ab, ein Teil von ihm war betrübt über die gescheiterten Existenzen in diesem schmutzigen Güterwaggon und die anderen, die sich draußen über der Tonne mit dem brennendem Abfall das Hirn zudröhnten. Sie waren Fremde für ihn und dazu noch Menschen mit einer Lebenserwartung von nicht einmal hundert Jahren, aber in ihren verlorenen, hoffnungslosen Gesichtern sah er seinen Freund, Sterling Chase.

War es das, was Harvard bevorstand, wenn niemand seine Abwärtsspirale aufhalten konnte? Er wollte nicht darüber nachdenken, wollte sich nicht vorstellen, dass es schon so schlimm um ihn stand. Er wollte nicht glauben, dass Tegan und Lucan recht hatten und Chase dabei war, blutsüchtig zu werden. Es gab für einen Stammesvampir kein schlimmeres Schicksal, als der Blutgier zu verfallen und zum Rogue zu mutieren.

Und war man einmal verloren, gab es kaum noch Hoffnung.

»Verdammt«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Er sprang von dem Waggon auf den gefrorenen Boden bei den Gleisen und spürte beim Aufprall sein Handy in der Manteltasche.

Er zog es heraus und drückte die Kurzwahltaste. »Es ist sein Handy«, sagte er noch schnell zu Kade und hörte dann, wie es am anderen Ende zum ersten Mal klingelte. »Und wenn Harvard sich tatsächlich irgendwo hier rumtreibt, hat er vielleicht sein Handy an …«

Aus einigen Metern Entfernung ertönte ein leises Klingelgeräusch.

Kades hob die schwarzen Brauen, seine silbernen Augen blitzten. »Haben wir dich, Harvard.«

Sie sprinteten los, rasten beide über den Betriebsbahnhof auf das Klingeln zu.

Dante wollte nicht hoffen, ein kaltes Grauen warnte ihn davor. Denn selbst wenn er Harvard tatsächlich fand, würde ihm vielleicht nicht gefallen, was ihn erwartete, und das wusste er. Mit gemäßigter Erwartung führte er Kade von den Gleisen fort und zwischen zwei maroden Lagerhallen hindurch. Er musste den Anruf abrupt beenden, als das Telefon auf Mailbox umschaltete, und fluchte. Wieder drückte er die Kurzwahltaste, und nun ertönte das Klingelgeräusch sogar noch näher.

Hölle noch mal, sie mussten ihn praktisch schon erreicht haben.

Aber da war niemand. Keine Seele, nicht einmal ein Mensch.

Er und Kade rannten weiter, schneller, bis das Klingelgeräusch von Chases Handy in Stereo ertönte und von irgendwo ganz aus der Nähe kam.

»Da drüben«, sagte Kade und ging neben einem Haufen gefrorener Abdeckplanen in die Hocke. Er fing an zu graben und warf Müll in alle Richtungen, wühlte sich bis zum Boden des Haufens durch.

Dann wurde er langsamer und stieß einen Fluch aus, und Dante wusste, dass es eine Sackgasse war.

Kade hielt das Handy in die Höhe, sein Gesicht war vor Enttäuschung abgespannt, aber nicht überrascht. »Er hat uns abserviert, Mann. Er war hier, wie du gesagt hast. Aber er wollte nicht gefunden werden.«

»Harvard!«, schrie Dante und war in diesem Augenblick einfach nur stinksauer. Vor Sorge tat ihm der Magen weh, und sein Herz hämmerte wild. Jetzt schickte er seine Wut in alle Richtungen aus, wirbelte herum und suchte die Umgebung ab, auch wenn es gar nichts nützte. »Chase, gottverdammt noch mal, ich weiß doch, dass du hier bist. Sag was!«

Kade drückte den Anruf weg und ließ das Handy in seine Tasche gleiten. »Komm, lass uns hier verschwinden. Harvard ist fort.«

Dante nickte stumm. Letzte Nacht hatte Sterling Chase den Orden nach zahlreichen Pannen und dummen Ausflüchten verlassen. Und jetzt hatte er den besten Freund fallen lassen, den er bei den Kriegern hatte. Er kehrte seinen Brüdern den Rücken zu, und nach dem, was heute Nacht hier geschehen war, musste Dante zugeben, dass es Chase absichtlich getan hatte.

Der Harvard, den er kannte, hätte das nie getan.

Kade hatte recht.

Harvard war fort, wahrscheinlich für immer.