17

Die Menschenfrau schrie auf, als sie Chase hinter der riesigen Eiche auftauchen sah. Ihr Gesicht war in den bernsteinfarbenen Schein seiner transformierten Augen getaucht, und sie stieß einen weiteren markerschütternden Schrei aus und versuchte, ihm auszuweichen.

Er hätte sie leicht erlegen können.

Das hätte er vielleicht auch getan, aber im nächsten Augenblick erdröhnten die dunklen Wälder vom Ansturm des Blutclubs auf der Jagd nach der fliehenden Beute. Ein Vampir sprang mit einem gewaltigen Satz aus der Luft und stürzte sich auf einen der rennenden Männer. Als er seiner Beute die Fänge in den Hals schlug, kamen drei weitere Stammesvampire mit großer Geschwindigkeit aus den Schatten gerast und stürzten sich auf die entsetzten Menschen wie ein sabberndes Wolfsrudel.

Da entdeckte Chase ein bekanntes Gesicht.

Murdock.

Der Dreckskerl.

In seiner Zeit bei der Agentur hatte Chase genug Gerüchte über seine perversen Neigungen gehört, also hätte es ihn nicht überraschen sollen, dass Murdock jetzt aus der Dunkelheit hervorbrach und sich den kleinen Jungen im blutigen Hemd schnappte.

Aber es überraschte Chase doch. Es lenkte seine Aufmerksamkeit von seinem eigenen Blutdurst effektiver ab als eine Dosis praller Mittagssonne. Es machte ihn wütend, Murdock jetzt nach der Schlägerei vor einigen Nächten in Chinatown wiederzusehen – was sich anfühlte, als sei es schon hundert Jahre her.

Und es stieß ihn ab, wie Murdock das Kind zu Boden warf und es mit der Faust am Haar packte, um den zarten Hals in eine bessere Trinkposition zu bringen.

Mit einem wilden Aufbrüllen stürzte sich Chase auf den Vampir.

Er stieß Murdock von dem strampelnden, weinenden Jungen herunter. Während der Kleine panisch das Weite suchte, rollte Chase mit Murdock in das schneebedeckte Brombeergestrüpp, stieß ihm die Faust ins Kinn und genoss das scharfe Knacken von splitternden Knochen.

Einer von Murdocks Jagdgefährten bemerkte den Angriff. Er ließ den Menschen fallen, den er gefangen hatte, und sprang Chase auf den Rücken. Chase bäumte sich auf und warf ihn ab, der Vampir wurde heftig gegen einen nahe gelegenen Baum geschleudert.

Murdock begann ihn abzuschütteln und wäre fast entkommen. Aber bevor er die Chance bekam, hob Chase einen schweren Eichenast vom Boden auf und knallte ihn Murdock gegen die Kniescheibe. Er heulte vor Schmerzen auf, rollte zur Seite und hielt sich sein zerschmettertes Knie, während Chase seine Aufmerksamkeit dem anderen Vampir zuwandte, der ihn durch gebleckte, blutverschmierte Fänge anfauchte und wieder zum Angriff überging.

Chase wirbelte vom Boden auf, den harten Eichenast fest in der Hand gepackt, gerade als Murdocks Gefährte sich auf ihn stürzte. Chase stieß den spitzen Ast mit einer raschen, wütenden Bewegung nach vorne und rammte ihn dem Bastard durch Fleisch und Brustbein mitten ins Herz.

Die beiden übrigen Blutclubber verloren offensichtlich das Interesse an ihrem Sport, als einer ihrer Leute tot zusammenbrach und aus seiner klaffenden Brustwunde ein Blutschwall schoss, während ein weiterer sich im gefrorenen Unterholz in Qualen wand. Sie erstarrten mitten in der Bewegung, ihre Klauen lösten sich von ihrer Beute, und die entsetzten Menschen konnten entkommen.

Chase fuhr zu ihnen herum, seine Augen schossen wütende bernsteinfarbene Lichtstrahlen in die dunklen Wälder, und er hielt seine blutige Waffe fest in der Hand gepackt, bereit, sich die beiden übrigen Gesetzesbrecher auch noch vorzunehmen.

Ohne ein einziges Wort stoben die Agenten in entgegengesetzte Richtungen davon und verschwanden in der Nacht.

Stille senkte sich wieder über die Wälder, nur noch Murdocks qualvolles Stöhnen war zu hören.

Chase atmete die klare Nachtluft ein. Langsam drangen sein Intellekt und Verstand durch den dunklen Nebel seiner Wut und den brennenden Durst, der ihn immer noch in den Klauen hielt. Die Situation, in der er sich wiederfand, war alles andere als ideal. Ein toter Agent blutete auf dem Boden aus. Zwei weitere waren entkommen, die ihn garantiert identifizieren und behaupten würden, er hätte sie grundlos angegriffen. Bei seinem Ruf in letzter Zeit würde ihm kaum jemand glauben, wenn er sagte, dass er zufällig auf eine illegale Menschenjagd gestoßen war und nur getan hatte, was nötig war, um sie zu beenden.

Und dann war da noch das Problem der geflüchteten Menschen. Er wusste so gut wie jeder Angehörige seiner Spezies, wie gefährlich es war, Menschen zurück zur Bevölkerung zu lassen, ohne vorher ihre Erinnerungen an den Stamm zu löschen. Der Stamm hatte sich jahrhundertelang äußerst vorsichtig verhalten, aber mit ihrer friedlichen Koexistenz konnte es schlagartig vorbei sein, wenn nur genug hysterische Menschen »Vampir« schrien.

Chase fauchte, hin- und hergerissen zwischen der Verantwortung für seine Spezies und dem tieferen, persönlicheren Bedürfnis, Murdock Informationen über Dragos zu entreißen.

Er wusste, was er tun musste. Er trat einen Schritt von Murdock weg, um die geflohenen Menschen zu verfolgen und die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Da ertönten in der Ferne Sirenen und wurden jede Sekunde lauter. Das ließ ihn innehalten. Es konnte schon zu spät sein.

Wütend starrte er auf Murdock hinunter.

Mit einem gemurmelten Fluch wuchtete er sich den verletzten Vampir auf die Schulter und raste mit ihm ins Dickicht davon.

Im Tank des lilafarbenen Zuhälterschlittens war genug Benzin für eine Fahrt ins Umland. So weit entfernt von New Orleans’ belebter Innenstadt gab es nur noch vereinzelt kleine Häuser, viele waren immer noch beschädigt oder aufgegeben nach dem Wüten des Hurrikans, der vor Jahren hier hindurchgefegt war.

Beim Fahren behielt Hunter wachsam den östlichen Horizont im Blick, wo das tiefe dunkle Mitternachtsblau nach und nach den Pastelltönen der Morgendämmerung wich. Bald schon würde die Sonne aufgehen. Er sah zu Corinne hinüber, die schweigend auf dem Beifahrersitz saß. Ihre aufgeplatzte Lippe war angeschwollen. Sie hielt die Augen auf die leere Straße vor ihnen gerichtet und schien erschöpft, ihre zarten Schultern zitterten, er wusste nicht, ob vor Schock oder vor Kälte.

»Wir halten bald«, sagte er. »Du musst dich erholen, und die Dämmerung kommt.«

Sie nickte vage, fast unmerklich. Dann holte sie zitternd Atem und stieß ihn langsam wieder aus. »Hast du ihn gekannt?«

Hunter brauchte nicht zu fragen, wen sie meinte. »Ich habe ihn heute Nacht zum ersten Mal gesehen.«

»Aber du und er …« Sie schluckte, dann wagte sie einen Seitenblick auf ihn. »Ihr hattet genau dieselbe Kampftechnik. Und keiner von euch hätte aufgehört, bevor einer von euch beiden tot war. Ihr habt beide so wild und erbarmungslos gekämpft und seid dabei völlig emotionslos geblieben.«

»Wir wurden beide zum Töten ausgebildet.«

»Auf Dragos’ Befehl.« Er spürte, dass sie ihn beim Reden anstarrte, sah im Augenwinkel ihre erschrockene Miene. »Wie viele von euch gibt es?«

Hunter zuckte die Schultern. »Ich kann nur raten, man hat uns nie voneinander erzählt. Dragos hat uns völlig isoliert aufgezogen, mit nur einem Lakaien als Betreuer, der sich um unsere Grundbedürfnisse gekümmert hat. Wenn wir dann aktiv in Dienst traten, machten wir unsere Arbeit immer alleine.«

»Hast du viele Leute umgebracht?«

»Genug«, antwortete er, dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein, es sind noch nicht genug. Erst wenn ich weiß, dass Dragos endgültig ausgeschaltet ist, und wenn ich jeden einzelnen der anderen Killer ausschalten muss, um ihn zu kriegen. Dann wird es genug sein.«

Sie wandte den Blick wieder der Straße zu, still und nachdenklich. »Was war das für ein Ding, mit dem du den Killer am Flughafen getötet hast? Er hatte eine Art Halsband um. Du hast es eingesteckt, als wir gegangen sind, und ich habe gesehen, dass du beim Schießen darauf gezielt hast. Und dann gab es diese blendend helle Explosion.«

Hunter konnte den grellen Lichtblitz immer noch vor seinem inneren Auge sehen. Manchmal spürte er immer noch den Druck seines eigenen engen Halsbandes, das er in der Nacht abgelegt hatte, als er dem Orden beigetreten war. »Das ist ein spezieller Mechanismus, den Dragos entwickelt hat, um uns zu absoluter Gehorsamkeit zu zwingen. Es enthält konzentriertes UV-Licht und kann nicht beschädigt oder entfernt werden, ohne den Detonationsmechanismus auszulösen. Nur Dragos kann den Sensor deaktivieren.«

»Oh mein Gott«, flüsterte sie. »Es ist eine Fessel, eine tödliche.«

»Jedenfalls ist sie effektiv.«

»Und was ist mit dir?«, fragte Corinne. »Du trägst nicht so ein Halsband.«

»Nicht mehr.«

Sie beobachtete ihn genau, ihre Augen wichen nicht von ihm, als er von der Hauptstraße abbog und einer Seitenstraße folgte, die zu einer verlassenen Häuserzeile führte. »Wenn du so ein schreckliches Ding auch getragen hast, wie hast du es dann geschafft, dich davon zu befreien?«

»Dragos blieb nichts anderes übrig, als es mir abzunehmen. Letzten Sommer hat er ein Treffen mit seinen Verbündeten in einem abgelegenen Anwesen bei Montreal abgehalten. Der Orden hat das herausgefunden und einen Angriff gestartet. Dragos hat mir befohlen, die Stellung zu halten und das Anwesen zu verteidigen, während er und seine Männer durch den Hintereingang geflohen sind.«

Corinne hörte still zu, und er spürte, wie sie begriff. »Er hat dich allein gegen den ganzen Orden rausgeschickt? Das war ein Selbstmordkommando.«

Hunter zuckte die Schultern. »Das hat mir nur gezeigt, wie verzweifelt er war und wie sehr er mich verachtete. Er wusste so gut wie ich, wenn ich nicht im nächsten Moment aus dem Haus stürzen und mich den Kriegern entgegenstellen würde, hätten er und seine Verbündeten keine Chance mehr zu fliehen. Ich sagte ihm, ich würde es tun, aber nur, wenn er mir dafür die Freiheit schenken würde.«

Er hatte schon lange nicht mehr an diese Nacht in den Wäldern von Montreal zurückgedacht. Tatsächlich hatte seine Reise in die Freiheit schon früher begonnen – in der Nacht, als er sich auf Dragos’ Befehl in das abgelegene Blockhaus eines Gen Eins namens Sergej Yakut geschlichen hatte, um ihn zu töten, und unerwartet in die hypnotisierenden, spiegelartigen Augen eines kleinen Mädchens gestarrt hatte.

»Es war Mira, die mir den Mut gegeben hat, meine Freiheit einzufordern«, sagte er, und beim bloßen Gedanken an das Kind breitete sich in seiner Brust ein warmes Gefühl aus. »Mira ist eine Seherin, sie hat die Gabe der Vorhersehung. Ich habe mich selbst in ihren Augen gesehen, und zwar frei von Dragos. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich überhaupt nicht gewusst, dass man auch anders leben kann.«

»Sie hat dir das Leben gerettet«, murmelte Corinne. »Kein Wunder, dass du sie so gern hast.«

»Ich würde mein Leben für sie geben«, antwortete er automatisch. Und das war die reine Wahrheit. Die Erkenntnis erschreckte ihn irgendwie, aber er konnte nicht leugnen, dass er das kleine Mädchen sehr gern hatte. Sie hatte wilde Beschützerinstinkte in ihm geweckt, und genauso war es auch mit der schönen Frau, die jetzt neben ihm saß.

Aber während er für Mira ein warmes Gefühl der Zuneigung hatte, waren seine Gefühle für Corinne Bishop völlig anderer Art. Sie gingen viel tiefer, brannten mit einer Intensität, die jeden Augenblick, den sie zusammen verbrachten, stärker zu werden schien. Er begehrte sie; so viel war ihm bewusst geworden, als sie sich geküsst hatten. Er wollte sie wieder küssen, und das war ein Problem.

Was die anderen Gefühle anging, die sie in ihm weckte, so war er ratlos, was er davon halten sollte. Genauso wenig wollte er es genauer wissen. Er hatte für den Orden seine Pflicht zu tun, und für Ablenkungen war da kein Platz, egal wie groß die Versuchung auch war.

Dieses Mal dauerte es lange, bis Corinne antwortete. »Jedes Kind verdient es, jemanden zu haben, der es beschützt und dafür sorgt, dass es glücklich ist. Dafür hat man doch Familie, oder?« Als sie ihn jetzt ansah, schien ihre Miene beunruhigt, irgendwie gehetzt. »Siehst du das nicht auch so, Hunter?«

»Keine Ahnung.« Er bremste vor einem dunklen kleinen Einfamilienhaus mit verbarrikadierten Fenstern und einer durchhängenden Veranda. Es wirkte verlassen, wie auch all die anderen armseligen Häuser, die stehen geblieben waren, seit das Hochwasser damals zurückgegangen war. Rissige, unkrautüberwucherte Zementfundamente zeigten die Stellen an, wo früher andere Häuser gestanden hatten. »Das hier müsste reichen«, sagte er zu Corinne und stellte die Automatikschaltung auf Parken.

Sie starrte ihn vom anderen Ende der Sitzbank des El Camino immer noch seltsam an. »Du hast nie irgendjemanden gehabt – nicht mal als Kind? Nicht mal deine Mutter?«

Er stellte den Motor ab und zog den Zündschlüssel ab. »Da war niemand. Man hat mich der Stammesgefährtin, die mich in Dragos’ Labor geboren hat, noch als Säugling weggenommen. Ich habe keine Erinnerung an sie. Der Lakai, den Dragos mir als Betreuer zugeteilt hat, war für meine Aufzucht verantwortlich.«

Ihr Gesicht war ganz blass geworden. »Du bist im Labor auf die Welt gekommen? Man hat dich … deiner Mutter weggenommen?«

»Wir alle«, antwortete er. »Dragos hat unser ganzes Leben vom Augenblick unserer Empfängnis an kontrolliert. Er hat alles dafür getan, um uns zu perfekten Tötungsmaschinen zu machen, nur ihm allein gegenüber loyal. Er hat uns gezüchtet, damit wir seine Killer sind, seine Jäger, und nicht mehr.«

»Hunter, Jäger.« Das Wort klang ihr hölzern auf der Zunge. »Ich habe gedacht, du heißt so. Ist das dein Name?«

Er konnte ihre Verwirrung sehen. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, als sie stumm all das Gehörte verarbeitete. »So hat man mich vom Tag meiner Geburt an genannt. Das ist, was ich bin. Was ich immer sein werde.«

»Oh mein Gott.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, und in diesem Augenblick huschte ein Ausdruck über ihr Gesicht, den er nicht einordnen konnte. Es sah aus, als sei ihr eben eine entsetzliche Erkenntnis gekommen. »Alle Babys, die in Dragos’ Labor geboren wurden, wurden weggebracht. Wurden die alle so aufgezogen wie du? All diese armen kleinen Jungen, das ist aus ihnen geworden …«

Sie hatte es nicht als Frage formuliert, aber er antwortete ihr mit einem unumwundenen, düsteren Nicken.

Corinne schloss die Augen und sagte nichts mehr. Sie wandte den Kopf ab und sah zum dunkel getönten Fenster der Beifahrerseite hinaus.

In der langen, unbehaglichen Stille, die sich plötzlich zwischen ihnen ausbreitete, öffnete Hunter die Fahrertür. »Warte hier. Ich gehe das Haus überprüfen, ob es als Unterschlupf taugt.«

Sie antwortete ihm nicht, sah ihn nicht einmal an und schmiegte ihr Gesicht an die rechte Schulter. Als er davonging, dachte er, er hätte auf ihrer Wange Tränen gesehen.

Sobald Hunter ins Haus gegangen war, stürzte Corinne aus dem Wagen. Die lange Fahrt in dem engen Raum allein hätte schon ausgereicht, eine Panikattacke auszulösen, besonders nach allem, was sie heute Nacht am Flughafen mitangesehen hatte. Aber es war etwas viel Schlimmeres, das sie aus dem Wagen und hinaus in die feuchtkalte Morgenluft trieb.

Vor Angst und Entsetzen hob sich ihr fast der Magen, als sie auf das Hausfundament im Hof des verlassenen Nachbargrundstücks zustolperte. Sie ließ sich auf den feuchten Beton sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

In all ihren unzähligen Albträumen, was wohl aus ihrem Sohn geworden war, hatte sie sich niemals das grausame Schicksal vorgestellt, das Hunter ihr eben beschrieben hatte.

Hunter.

Herr im Himmel, das war nicht einmal ein richtiger Name. Nur eine Bezeichnung für ein Objekt, genau wie man Gegenstände als »Dolch« oder »Pistole« bezeichnete, oder jedes andere beliebige Werkzeug, das nur zu dem einzigen Zweck erschaffen war: zu töten.

Unbedeutend.

Austauschbar.

Unmenschlich.

Sie wischte sich die Tränen ab, die zu fließen begonnen hatten, noch bevor Hunter aus dem Wagen gestiegen war. Es tat ihr weh, was er durchgemacht hatte, aber es brach ihr fast das Herz zu denken, dass ihr kleiner Junge – das süße kleine Baby, das sie auf den ersten Blick so geliebt hatte – immer noch in dieser schrecklichen Welt gefangen war, die Dragos erschaffen hatte.

Ein Schluchzen stieg ihr in der Kehle auf, als sie das süße Gesichtchen des schreienden Säuglings vor sich sah, den sie vor dreizehn Jahren geboren hatte. Immer noch konnte sie seine winzigen fuchtelnden Fäustchen vor sich sehen, als die Hebamme, eine Lakaiin, ihn ans andere Ende des Labors getragen hatte, um ihn zu waschen und ihn in ein schlichtes weißes Handtuch zu hüllen. Sie konnte immer noch seine Augen sehen – blaugrün und mandelförmig wie ihre eigenen, und sein dermaglyphenbedecktes Köpfchen mit dem seidigen schwarzen Haarschopf, genau wie ihr eigenes.

Ihr Sohn musste auch ihre sonokinetische Gabe von ihr geerbt haben, genau wie seine Gen-Eins-Stärke und Kraft von der Kreatur, die ihn gezeugt hatte. Die Gabe, die Corinne ihrem Sohn mitgegeben hatte, war etwas, das Dragos ihm nicht nehmen konnte. Diese Fähigkeit würde ihn immer als ihren Sohn auszeichnen, egal was Dragos ihm angetan hatte in all den Jahren, die er ihn nach seinen perversen Zielen und Idealen abrichten konnte.

Ihr Sohn hatte auch einen Namen. Corinne hatte ihn ihm zugeflüstert in dem Augenblick, als sie ihm im Entbindungsraum zum ersten Mal in die Augen geschaut hatte. Er hatte sie gehört, auch wenn er erst wenige Minuten auf der Welt war, da war sie sich ganz sicher. Und er hatte sie auch rufen und weinen hören, als die Hebamme ihn einen Augenblick später auf Nimmerwiedersehen fortgetragen hatte.

Gott, wie viele Tage, Wochen und Monate – wie viele Jahre hatte sie darum getrauert, dass er aus ihrem Leben verschwunden war? Und jetzt wurde ihr ganz elend bei der Vorstellung, in was er da hineingeboren worden war und was in den dreizehn Jahren unter Dragos’ Kontrolle aus ihm geworden sein musste.

Eine verzweifelte Hoffnung regte sich in ihr. Vielleicht war ihm eine solch schreckliche Existenz ja erspart geblieben. Vielleicht hatte man ihn ihr zu einem anderen Zweck weggenommen. Vielleicht hatte man ihn nicht mit einem tödlichen UV-Halsband an Dragos’ Launen gekettet und gezwungen, als Tötungsmaschine zu existieren, ohne zu wissen, wer er wirklich war, ohne dass ihn jemand in den Arm nahm, ihn tröstete und liebte.

Und wenn er tatsächlich einer der vielen Gen-Eins-Jungen war, die Dragos als Killer in seinem Labor züchtete? Dann hatte er dieser entsetzlichen Sklaverei vielleicht irgendwie entfliehen können, Hunter hatte es ja auch geschafft. Oder vielleicht lebte ihr Sohn überhaupt nicht mehr. Eine Schrecksekunde lang wünschte sie sich sogar, er wäre tot, wenn auch nur, um ihm die trostlose Existenz zu ersparen, die Hunter ihr beschrieben hatte.

Aber er lebte. Das wusste sie, so wie jede Mutter es wusste, egal wie lange sie ihr Kind nicht mehr gesehen hatte oder wie weit sie von ihm entfernt war. In ihrem tiefsten Inneren spürte sie deutlich, dass ihr kleiner Junge immer noch am Leben war.

Irgendwo …

Die Aussichtslosigkeit, ihn zu finden, wenn sie noch nicht einmal wusste, wo sie nach ihm suchen sollte, lastete schwer auf ihr, als sie allein auf dem Zementklotz saß und in die riesige, leere Einöde hinausstarrte, die wahrscheinlich einmal ein hübsches Wohnviertel in einem Vorort von New Orleans gewesen war. Jetzt war davon so gut wie nichts mehr übrig. Die Familien in alle Winde zerstreut, die Häuser vernachlässigt und verfallen, unzählige Menschen auseinandergerissen von einer Naturgewalt, der sie völlig machtlos ausgeliefert gewesen waren.

In den Jahrzehnten ihrer Gefangenschaft bei Dragos hatte sie ihren eigenen Sturm überstanden. Noch hatte er sie nicht besiegt, noch nicht gewonnen. Und solange sie lebte, würde ihm das auch nicht gelingen.

Sie konnte nur beten, dass ihr Sohn auch so widerstandsfähig war.

Hunter war es doch auch gelungen zu fliehen und ein neues Leben zu beginnen. Aber andererseits hatte Hunter den Orden gehabt, um ihm aus seiner früheren Existenz herauszuhelfen. Er hatte Mira gehabt, die den entscheidenden Hoffnungsschimmer in ihm geweckt hatte, dass es überhaupt eine Chance, einen Ausweg für ihn gab.

Was hatte ihr Sohn?

Er wusste nicht, dass es jemanden gab, der ihn liebte und befreien wollte. Er konnte nicht wissen, dass es Hoffnung für ihn gab, so klein sie auch war; dass jemand sich danach sehnte, ihn zu finden und ihm das Leben zu geben, das er verdiente.

Aber Corinne wusste nicht, wo ihr Sohn war, geschweige denn, ob er überhaupt gerettet werden konnte. Und dann waren da noch Hunter und der Orden. Für sie war ihr Sohn nur eine weitere von Dragos’ Tötungsmaschinen, die zu zerstören sie sich alle geschworen hatten – vor allem Hunter, der von allen am besten wusste, wie gefährlich die anderen seiner Spezies waren. Der Orden hatte Dragos und allen, die ihm dienten, den Krieg erklärt, und das aus gutem Grund. Sie würden ihr Kind als Feind betrachten.

Obwohl sie gar nicht daran denken wollte, machte ein entsetzter Teil von ihr sich Sorgen, dass sie damit womöglich recht hatten.

Corinne wischte sich mit dem Handrücken die feuchte Wange ab, als Hunter aus dem Haus nebenan kam. Er sah sie dort sitzen und stapfte zu ihr herüber, eine dunkle Silhouette gegen den schwachen Schein der aufziehenden Morgendämmerung. Seine großen schwarzen Kampfstiefel knirschten im schlammverkrusteten Gras, und bei jedem wiegenden Schritt seiner langen, muskulösen Beine flatterte sein Mantel wie ein schwarzes ledernes Segel hinter ihm her.

Beim Näherkommen machte er ein finsteres Gesicht. »Warum bist du aus dem Wagen gestiegen?«

Sie wischte hastig die letzte Träne fort. »Ich mag keine engen Räume. Außerdem war es eine lange Nacht, und ich bin müde.«

Er blieb vor ihr stehen und starrte fragend zu ihr hinunter. »Du weinst.«

»Nein.« Ihre Lüge war nicht sonderlich überzeugend, aber zu ihrer Erleichterung ging Hunter nicht weiter darauf ein. Er starrte auf ihren Mund, und sein Stirnrunzeln verstärkte sich.

»Deine Lippe blutet wieder.«

Instinktiv tastete sie mit der Zunge nach dem kleinen Riss, den der andere Killer ihr in der Nacht beigebracht hatte. Sie schmeckte Blut – nur einen Hauch, kein Grund zur Beunruhigung. Aber Hunters Augen waren immer noch auf sie gerichtet. Seine Pupillen zogen sich zusammen, und in seinen goldenen Iriskreisen blitzten bernsteinfarbene Lichtfunken auf.

»Die Morgendämmerung kommt«, sagte er, und seine Stimme war ein tiefes, heiseres Knurren. »Komm mit mir. Das Haus steht schon länger leer, als Unterschlupf ist es in Ordnung.«

Sie stand auf und folgte ihm. In dem verlassenen Haus roch es nach Schimmel und sauer nach Salzwasser und getrocknetem Schlamm. Hunter ging voran und zog die steifen Vorhänge zu, die immer noch über dem zerbrochenen Wohnzimmerfenster hingen. Über ihren Köpfen ließ ein Deckenventilator die hölzernen Flügel hängen wie eine umgedrehte Tulpe, völlig verquollen vom Hochwasser, das die ganze Gegend tagelang überschwemmt hatte.

Nur wenige Möbelstücke waren im Haus geblieben außer den zerschmetterten Erinnerungen, den abgeblätterten Tapeten und den staubbedeckten Trümmern, die den Boden übersäten. Hunter stieg darüber hinweg und suchte den besten Weg für sie. Er blieb vor einem offenen Durchgang in der Diele stehen und winkte ihr hineinzugehen.

»Ich habe da drin eine Ecke freigemacht, damit du dich eine Weile hinlegen kannst.«

Corinne ging zu ihm hinüber und schaute hinein. Der Fußboden war größtenteils freigefegt von der Dreckschicht, die das übrige Haus bedeckte. Eine dünne, schlammverkrustete Matratze war gegen die rückwärtige Wand gestellt worden, festgeklemmt hinter einer massiven, vom Sturm ruinierten Kommode.

Hunter zog seinen langen Ledermantel aus und breitete ihn in der Mitte des Zimmers auf dem gefegten Boden aus. »Für dich, zum Schlafen«, sagte er, als sie ihm einen fragenden Blick zuwarf.

»Und du?«

»Ich melde mich beim Orden zurück und halte dann im anderen Zimmer Wache, solange du schläfst.« Er drehte sich um und wollte an ihr vorbei in die Diele zurückgehen.

»Warte. Hunter …« Sie schlang die Arme um sich, fühlte sich jetzt schon verlassen in diesem trostlosen kleinen Raum. »Bleibst du hier bei mir … nur bis ich eingeschlafen bin?«

Er starrte sie schweigend an, fast länger, als sie aushalten konnte. Sie wusste, dass er vermutlich der Allerletzte war, bei dem sie sich Trost holen konnte, besonders nach dem, was sie ihn heute Nacht hatte tun sehen. Nach allem, was sie von seiner Erziehung und seiner persönlichen Mission für den Orden gehört hatte, wusste sie, dass dieser tödliche Mann der denkbar schlechteste Verbündete war, den sie haben konnte, um ihr Kind zu finden und zu retten.

Aber als sie Hunter jetzt in diesem dämmrigen, sturmverwüsteten Haus ansah, sah sie keine Unbarmherzigkeit oder Brutalität an ihm, sondern dieselbe Zurückhaltung und Zärtlichkeit wie im Jazzclub in der Stadt, kurz bevor er sie so unerwartet auf der Tanzfläche geküsst hatte. Jetzt glomm in seinen goldenen Augen dieselbe Hitze, und sein heißer Blick wanderte langsam zu ihrem Mund.

Corinne war sprachlos geworden, stand reglos, unsicher, was sie mehr beunruhigte: Der Gedanke, ihn wieder zu küssen, oder dass er sich jetzt womöglich einfach umdrehte und sie hier allein ließ.

»Leg dich hin«, murmelte er, seine Stimme klang belegt und etwas heiser, und hinter seiner sinnlichen Oberlippe glänzten beim Sprechen die Spitzen seiner Fänge.

Corinne wich vor ihm zurück und ließ sich auf seinem ausgebreiteten Mantel nieder. Er bewegte sich langsam und raubtierartig auf sie zu und ließ sich neben sie sinken, als sie sich zögerlich auf ihrer Seite des angenehm weichen schwarzen Ledermantels ausstreckte. Sein Körper war eine lange Hitzewand an ihrem Rücken und Po, seine Schenkel drückten fest und hart gegen ihre. Und obwohl sie beide noch komplett angezogen waren, erwachte in ihr jedes Nervenende und knisterte vor Spannung. Begehren erwachte tief in ihr und breitete langsam federleichte Schwingen aus, ließ ihr Herz höher schlagen und nahm ihr den zitternden, flachen Atem.

Hunter legte den Arm um sie, ein schweres Band von Knochen und Muskeln hielt sie sanft an ihn gedrückt. Jeder Zentimeter seines Körpers strahlte Kraft aus, aber statt Angst oder Unbehagen darüber, so eingezwängt zu sein, fühlte sich Corinne beschützt.

Sie fühlte sich sicher, ein Gefühl, das sie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gehabt hatte.

Sicher und geborgen in den Armen des tödlichsten Mannes, den sie je getroffen hatte.