7

»Hast du Hunger, mein Schatz? Ich habe Tilda gebeten, dir etwas Leckeres zu machen, aber wenn du etwas essen möchtest, bevor im Esszimmer alles fertig ist, brauchst du es nur zu sagen, und ich bringe dir alles, was dein Herz begehrt …«

»Nein danke.« Corinne wandte sich vom Fenster des Zimmers ab, in das man sie vor einer Weile gebracht hatte. Nachdem ihre Mutter sie ins Haus geführt hatte, war ihr Vater in seinem Arbeitszimmer verschwunden, um sich mit Mason und den anderen Wächtern seines Dunklen Hafens zu beraten.

Das ganze Getue um sie war Corinne unangenehm. Jetzt, wo sie wieder zu Hause war, wollte sie einfach nur etwas Zeit allein mit ihren Eltern verbringen. Genug Zeit haben, um ihnen zu sagen, wie sehr sie ihre Familie vermisst hatte … und wie verzweifelt sie ihre Hilfe brauchte.

Als ihre Mutter jetzt begann, laut zu überlegen, ob sie die Küche bitten sollte, ein Essenstablett ins Zimmer hochzuschicken, ging Corinne zu ihr hinüber und hielt ihre Hände fest. »Ich will nichts, wirklich. Du musst nicht denken, dass du mich betüddeln musst.«

»Aber ich kann doch gar nicht anders. Weißt du, wie oft ich darum gebetet habe, dich wieder betüddeln zu dürfen?« Regina Bishops Haut war feucht und kühl, und ihre Finger zitterten, als sie Corinnes Hand ergriff. In ihren liebevollen Augen standen die Tränen. »Herr im Himmel, dass du wirklich da bist! Ich sehe dich an, ich fasse dich an, du bist lebendig und so schön wie eh und je, aber ich kann kaum glauben, dass das wirklich passiert. Es war ein einziger Albtraum für uns, als du verschwunden bist.«

»Ich weiß«, sagte Corinne leise. »Und es tut mir leid, was ihr alle durchgemacht habt.«

»Lottie hat damals wochenlang geweint. Sie wird sich so freuen, dass du wieder zu Hause bist.«

Corinne lächelte bei der Aussicht, ihre kleine Schwester wiederzusehen. Obwohl sie beide Stammesgefährtinnen waren, waren sie und Charlotte nicht blutsverwandt. Nichtsdestotrotz hatten sie einander heiß geliebt – vielleicht umso mehr, weil sie beide als Säuglinge ausgesetzt worden waren und ein richtiges Familienleben nur als Schützlinge der Bishops kennengelernt hatten.

»Ist sie hier, Mutter?«

»Aber nein, mein Liebes. Charlotte hat ihren eigenen Dunklen Hafen in London mit ihrem Gefährten und ihren beiden Söhnen. Ihr Jüngster und seine Stammesgefährtin sind übrigens erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal Eltern geworden.«

Corinne spürte einen bittersüßen Schmerz in ihrem Herzen. Lottie, fünf Jahre jünger als Corinne, war zum Zeitpunkt ihrer Entführung ein schlaksiger Teenager gewesen. Jetzt war sie erwachsen, hatte einen Gefährten und erwachsene Kinder. Corinne hätte sich für ihre Schwester freuen sollen; tief in ihrem Inneren tat sie das auch. Aber diese Neuigkeiten machten ihr nur wieder allzu schmerzlich bewusst, dass das Leben in ihrer Abwesenheit weitergegangen war.

Weitaus schlimmer war allerdings die Erinnerung an alles, was sie verloren, all das Kostbare, das Dragos ihr in ihrer Gefangenschaft geraubt hatte. Jetzt, da sie endlich wieder hier im elterlichen Heim war, konnte sie all ihre Energie daransetzen, sich die verlorenen Stücke ihres zerbrochenen Lebens wiederzuholen.

»Ich habe vorhin Sebastian gar nicht gesehen«, sagte sie und erinnerte sich an den gut aussehenden, lerneifrigen jungen Stammesvampir, der immer so geduldig mit seinen Adoptivschwestern umgegangen war. Im Jahr von Corinnes Entführung war er zwanzig gewesen. Inzwischen hatte er sicher seinen eigenen Dunklen Hafen und lebte dort mit einer umwerfenden Stammesgefährtin und einem halben Dutzend Söhnen.

Ein langes Schweigen folgte auf ihre Frage, und Corinne holte ängstlich Atem.

Regina Bishops Lippen bebten. »Natürlich, das kannst du ja nicht wissen. Wir haben Sebastian vor über vierzig Jahren an die Blutgier verloren.«

Corinne schloss die Augen. »Oh Gott. Nicht unseren lieben Sebastian.«

»Ich weiß, mein Liebes.« Die Stimme ihrer Mutter klang leise, nach all den Jahrzehnten immer noch voll Trauer über ihren Sohn. »Sebastian hat sich in den Jahren nach deinem Verschwinden sehr verändert. Wir wussten, dass er Probleme hatte, dass die Blutgier ihm zu schaffen machte, aber er hat sich von uns zurückgezogen. Er hat versucht, seine Probleme vor uns zu verbergen, wollte keine Hilfe annehmen. In jener Nacht hatte er in der Innenstadt einen schrecklichen Amoklauf veranstaltet. Er kam blutüberströmt nach Hause, und niemand von uns konnte zu ihm durchdringen. Er war zum Rogue mutiert, für ihn kam jede Rettung zu spät, und er wusste es. Sebastian war immer so scharfsichtig, so gescheit und sensibel. Er hat sich im Arbeitszimmer deines Vaters eingeschlossen. Und kurz darauf haben wir dann den Schuss gehört.«

»Das tut mir so leid.« Corinne umarmte sie, spürte ihren Kummer, als ihre Mutter ein Schluchzen unterdrückte. »Das muss furchtbar gewesen sein.«

»Das war es.« Ihre Mutter sah sie kummervoll an, als sie sich wieder aus der Umarmung löste. »Bevor man nicht selbst ein Kind verloren hat – und bis heute Nacht dachte ich, ich hätte sogar zwei verloren –, kann man sich nicht vorstellen, wie es ist, eine solche Leere in sich zu spüren.«

Corinne sagte nichts, unsicher, wie sie antworten sollte. Sie spürte ihre eigene Leere in sich, trug an ihrem eigenen Verlust, selbst jetzt noch. Es war vor allem dieser Verlust, der sie nach Hause gebracht hatte, mehr noch als ihr eigenes selbstsüchtiges Bedürfnis nach Trost und der liebevollen Fürsorge ihrer Familie.

»Du kennst doch dieses Zimmer noch, nicht?«, fragte ihre Mutter abrupt und wischte sich die Augen.

Halbherzig, aber dankbar für die vorübergehende Ablenkung, nahm Corinne ihre Umgebung genauer in Augenschein. Ihr Blick wanderte über das elegante dunkle Bett im Empirestil und den antiken Toilettentisch, die ihr nach all der langen Zeit immer noch so vertraut vorkamen. Bettwäsche und Vorhänge waren anders, und die Wände waren nicht mehr mit schimmernder pfirsichfarbener Seidentapete bespannt, sondern in einem angenehmen matten Taubengrau gestrichen. »Das war früher mein Schlafzimmer.«

»Ist es immer noch«, antwortete Regina mit gezwungener Fröhlichkeit in der Stimme. »Wir werden wieder alles ganz genau so herrichten wie früher, wenn du möchtest. Wir können gleich morgen anfangen, mein Liebes. Gleich morgen früh gehen wir dir eine neue Garderobe einkaufen, und wir können einen Termin mit meinem Raumgestalter machen, damit er uns das ganze Zimmer von oben bis unten generalüberholt. Wir bringen hier alles wieder in Ordnung, und es wird sein, als wärst du keinen Tag weg gewesen. Es wird wieder alles wie früher, Corinne, du wirst sehen.«

Corinne war sich kaum bewusst, dass sie den Kopf schüttelte, bis sie die niedergeschlagene Miene ihrer Mutter bemerkte.

»Nichts kann jemals wieder so sein wie früher. Es hat sich alles verändert.«

»Wir kriegen das wieder hin, Liebes.« Ihre Mutter nickte, als könne allein ihre Gewissheit es wahr machen. »Du bist jetzt zu Hause, und das ist das Einzige, was jetzt zählt.«

»Nein«, murmelte Corinne. »Es ist zu viel passiert. Man hat mir schreckliche Dinge angetan, von denen ich dir erzählen muss. Dir und Papa …«

Sie hatte nicht so damit herausplatzen wollen. Sie hatte vorgehabt, sich mit ihren Eltern hinzusetzen und ihnen die Umstände ihrer Gefangenschaft so schonend wie möglich beizubringen. Als sie jetzt zusah, wie in Regina Bishops hübsches Gesicht das Grauen stieg, wusste sie, dass es keine schonende Möglichkeit geben würde, ihnen die Wahrheit zu sagen.

Die beiden hätten in der Öffentlichkeit als Schwestern durchgehen können, beide wirkten jugendlich, ihr Alterungsprozess war bei etwa dreißig Jahren angehalten worden. So war es bei allen Stammesgefährtinnen aufgrund ihrer besonderen genetischen Eigenschaften und der lebensspendenden Kraft des Stammesblutes. Corinne war über siebzig, aber sie war kaum gealtert. Man hatte sie absichtlich jung erhalten, weil sie für ihren Entführer nur so von Wert war.

Corinne sah, dass diese Erkenntnis nun auch Regina Bishop dämmerte, als hätte ihre Mutter sie bis zu diesem Augenblick noch gar nicht aus der Nähe angesehen. »Sag’s mir«, flüsterte sie. »Sag mir, was mit dir passiert ist, Corinne. Warum würde jemand dir nur so etwas antun wollen?«

Corinne schüttelte langsam den Kopf. »Warum würde jemand all den jungen Stammesgefährtinnen so etwas antun, die zusammen mit mir entführt wurden? Aus Wahnsinn vielleicht. Definitiv aus Bösartigkeit. Nur so lassen sich die Dinge erklären, die er getan hat. Die Folter und Experimente …«

»Oh Liebes«, rief Regina und keuchte auf. »Die ganze Zeit? All die Jahre hat man dir solche Dinge angetan? Aber wozu denn?«

»Zu einem ganz spezifischen Zweck«, antwortete Corinne, und ihre Stimme klang ihr selbst hölzern in den Ohren. »Unser Entführer hat uns in finstere Verliese eingesperrt und uns nicht besser behandelt als Vieh. Er brauchte unsere Körper, um seine Privatarmee zu züchten. Aber wir Frauen waren nicht seine einzigen Gefangenen. Er hatte noch einen – eine Kreatur, von der ich nur in den Gruselgeschichten gehört hatte, die Sebastian Lottie und mir früher immer erzählt hat, um uns Angst zu machen.«

Alle Farbe wich aus dem Gesicht ihrer Mutter. »Wovon redest du?«

»In diesem Labor war auch ein Ältester eingesperrt«, sagte sie. Regina Bishop schnappte entsetzt nach Luft, aber sie redete einfach weiter. »Auch mit ihm hat unser Entführer Experimente angestellt. Er hat ihn als Zuchtbullen benutzt, um Gen-Eins-Vampire zu zeugen, die dann in seinem Dienst aufwuchsen – als Sklaven dieses Wahnsinnigen, der uns alle kontrollierte.«

Einen langen Augenblick starrte ihre Mutter sie nur stumm an. Sie war blass geworden, und eine Träne rollte ihr die Wange hinunter, als ihr die ganze entsetzliche Wahrheit nun endlich aufging. »Oh mein liebes Kind …«

Corinne räusperte sich. Sie war so weit mit ihrer Geschichte gekommen; jetzt musste sie auch den Rest aussprechen. »Ich habe mich gewehrt, solange ich konnte, aber letztendlich waren sie stärker. Es hat lange gedauert, aber dann – vor dreizehn Jahren, soweit ich das schätzen konnte – haben sie von mir bekommen, was sie wollten.« Jetzt musste sie tief einatmen, um weiterreden zu können. »Ich habe in dieser schrecklichen Laborzelle einen Sohn geboren, man hat ihn mir kurz nach seiner Geburt weggenommen. Irgendwo da draußen habe ich ein Kind, und jetzt, wo ich endlich frei bin, will ich es wiederhaben.«

Irgendetwas stimmte nicht.

Als Hunter den Wagen im privaten Hangar des Ordens am Flughafen parkte, musste er an Corinnes Wiedersehen mit ihrer Familie im Dunklen Hafen zurückdenken. Er fragte sich, warum seine Raubtierinstinkte ihn immer wieder vor Victor Bishop warnten, zu ihm zurückkehrten wie ein Jagdhund, der eine Fährte entdeckt hat, die schon fast kalt geworden ist.

Fast, aber nicht ganz.

Irgendetwas daran, wie Bishop auf Corinnes Rückkehr reagiert hatte, passte nicht ins Bild. Der Stammesvampir hatte erschüttert gewirkt, das schon, und es hatte ihn sichtlich bewegt, die junge Frau wiederzusehen, die er und die ganze Familie so lange für tot gehalten hatten.

Wie jeder Vorstand eines Dunklen Hafens war Bishop sichtlich besorgt über die Sicherheit seines Anwesens und seiner Bewohner gewesen, wachsam und wehrhaft, was alles zu erwarten war. Und doch hatte Hunter in Bishop noch etwas anderes gespürt – etwas, das seiner nach außen zur Schau getragenen Verblüffung und Erleichterung über Corinnes unerwartete Heimkehr zu widersprechen schien.

Victor Bishops Blick war irgendwie distanziert gewesen, als er seine Tochter angesehen hatte. Der Mann hatte zögerlich gewirkt, seltsam abwesend, selbst als er sie umarmt und ihr gesagt hatte, wie erleichtert er war, sie wiederzusehen. Irgendwie war Victor Bishop Corinne gegenüber nicht ehrlich, so viel war sicher.

Andererseits, wie gut kannte Hunter sich schon mit Gefühlen aus?

Man hatte ihn erzogen, logisch zu denken und Tatsachen zu analysieren, keine Gefühle. Seine Instinkte waren auf Jagd und Kampf abgerichtet, um jede vorgegebene Zielperson aufspüren und eliminieren zu können. Was das anging, war er Experte, und genau das erwartete ihn jetzt in Boston – er musste den Agenten jagen, der aus dem Club in Chinatown geflohen war, und Dragos und seine unbekannte Anzahl von Killern eigener Züchtung eliminieren.

Und doch …

Dieser Argwohn ließ Hunter keine Ruhe, als er aus dem Fahrzeug stieg, das private Hangargebäude des Ordens betrat und auf den Privatjet zustapfte. Einer der Piloten kam auf die heruntergelassene Gangway der Cessna heraus und begrüßte ihn mit einem höflichen Lächeln.

»Mr Smith«, murmelte der Mann. Er und sein Copilot arbeiteten für einen diskreten Charterservice und hielten sich rund um die Uhr für den Orden zur Verfügung. Hunter wusste wenig über das Arrangement, nur, dass die Menschen, die den Privatjet exklusiv für den Orden bereithielten, die besten ihrer Zunft waren und fürstlich dafür bezahlt wurden, ihren spätnächtlichen Kunden keine Fragen zu stellen. »Wir haben die Freigabe für die Rollbahn und können starten, sobald Sie wollen, Mr Smith.«

Hunter nickte ihm leicht zu, doch seine Instinkte kribbelten immer noch, als er seinen Fuß auf die unterste Stufe der Gangway stellte. Und da traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz.

Es war etwas gewesen, das Victor Bishop gesagt hatte.

Und dein Entführer?, hatte er Corinne gefragt.

Guter Gott, bitte sag mir, dass der Bastard tot ist, der dich uns gestohlen hat …

Obwohl weder Corinne noch Hunter irgendwelche Details erwähnt hatten, wo sie gefangen gehalten worden war oder von wem, hatte Victor Bishop geredet, als ob er wüsste, dass nur ein einziger Mann für ihre Gefangenschaft verantwortlich war.

Und zwar einer, der den Leiter des Dunklen Hafens sichtlich nervös machte. Paranoid war der Begriff, der Hunter in den Sinn kam, als er sich jetzt erinnerte, wie hektisch und überstürzt Bishop den Wachen befohlen hatte, schnell die Schotten dichtzumachen und Bishops Gefährtin und Corinne ins Haus zu scheuchen. Jetzt, wo Hunter darüber nachdachte, wurde ihm klar: Victor Bishop hatte sich verhalten wie ein Mann, der sich auf eine Belagerung seines Anwesens einstellte.

Die Frage war nur, warum?

»Stimmt etwas nicht, Mr Smith?«

Hunter antwortete nicht. Er trat von der Gangway herunter und stapfte davon, seine Stiefel dröhnten über den Betonboden des Hangargebäudes. Er stieg wieder in den Wagen und ließ den Motor an.

Die schwarze Limousine erwachte heulend zum Leben, die Reifen kreischten, als er das Gaspedal durchtrat. Er würde zurückfahren, sich Victor Bishop vornehmen und herausfinden, was er zu verbergen hatte.