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Dragos klappte wütend sein Handy zu, immer noch verärgert über die Neuigkeiten, die er vor einigen Stunden von seinem Leutnant in New Orleans bekommen hatte.

Henry Vachon, ein alter Verbündeter aus seinen Agenturzeiten, würde offenbar schon bald Besuch von einem Mitglied des Ordens bekommen. Dass dem so war, bezweifelte Dragos keinen Augenblick. Nach den Informationen, die Vachon von einem extrem nervösen Victor Bishop in Detroit erhalten hatte, schätzte Dragos, dass ein Vergeltungsschlag des Ordens nur noch eine Frage der Zeit war.

Um Vachon zu beruhigen und sicherzustellen, dass die Operation nicht noch einen weiteren wichtigen Verbündeten durch Lucans Krieger verlor, hatte Dragos Verstärkung nach New Orleans beordert. Was Victor Bishop anging, hatte der seinen Zweck schon vor langer Zeit erfüllt. Mittlerweile war er überflüssig geworden, auch wenn er Vachon angerufen und ihn katzbuckelnd gewarnt hatte. Wenn Bishop je so dumm wäre, ihm vor die Augen zu kommen, würde Dragos ihn mit größtem Vergnügen ins Jenseits befördern.

Seine üble Stimmung der letzten Stunden wurde auch nicht gerade besser von dem höllischen Gerüttel seiner Limousine, als sein Fahrer in der Abenddämmerung eine abgelegene, ungeteerte Landstraße im Norden von Maine entlangbrauste.

»Musst du durch jedes gottverdammte Schlagloch fahren?«, bellte er den Lakaien an. Die gewinselte Entschuldigung, die darauf folgte, ignorierte er und starrte stattdessen aus dem Fenster auf scheinbar endlose dunkle Wälder und gefrorenes Marschland hinaus. »Wir sind vor über vier Stunden auf dem Festland angekommen, und seither werde ich hier hinten durchgeschüttelt. Wie weit ist es denn noch?«

»Gar nicht mehr weit, Meister. Laut Navigationsgerät sind wir fast da.«

Dragos grunzte, den Blick immer noch auf die vorüberrasende trostlose Landschaft gerichtet. Die letzte Ortschaft hatten sie vor etwa hundertsechzig Kilometern hinter sich gelassen – wenn man die heruntergekommene Ansammlung von fünfzig Jahre alten Wohnwagen und schrottreifen Fahrzeugen denn so nennen konnte. So hoch oben im dünn besiedelten Norden war die menschliche Zivilisation offenbar nicht angekommen. Und wen es dennoch hierher verschlagen hatte, war vor dem kargen Land und der fehlenden Industrie wieder in die Großstadt geflohen.

Nur die unerschrockensten Seelen würden sich für eine kümmerliche Existenz in dieser abgelegenen Gegend entscheiden. Oder Leute mit verdammt guten Gründen unterzutauchen, so weit weg wie nur möglich von der menschlichen Gesellschaft, die sie so verachteten.

So wie die Männer, die Dragos gleich hier treffen würde.

Die Behörden der Menschen nannten sie Terroristen, verdrossene Bürger, die für ihre Unzufriedenheit und ihr persönliches Versagen alle verantwortlich machten außer sich selbst. Andere sahen sie als soziopathische Zeitbomben, die nur auf die nächste politische oder wirtschaftliche Krise warteten, um ihre Gewaltakte zu rechtfertigen. Wie auch immer, diese Männer waren Psychopathen und lebten außerhalb der Normen der menschlichen Gesellschaft.

Untereinander nannten sie sich zweifellos Helden und Patrioten. Jeder Einzelne der drei, die ihn jetzt erwarteten, würde so weit gehen, sich freiwillig zum Märtyrer zu machen, um den paar von ihnen nachzueifern, die es zu Berühmtheit gebracht hatten, indem sie aus Selbstgerechtigkeit und moralischer Empörung für ihre Sache ihr Leben riskiert und verloren hatten. Ihr leidenschaftlicher Glaube an ihre Ziele, ihre gefährliche Besessenheit und Tatkraft waren es gewesen, die Dragos auf diese Männer aufmerksam gemacht hatte.

Die Tatsache, dass die ganze Gruppe seit zehn Jahren auf der Beobachtungsliste der US-Regierung stand, machte die Aussicht, sie anzuwerben, nur umso attraktiver.

Vom Rücksitz seiner Limousine sah Dragos durch die Windschutzscheibe, als sein Fahrer vom Gas ging und auf eine noch schmalere ungeteerte Straße einbog, eigentlich nur noch ein Feldweg mit einer harten Kruste aus Schnee und Eis, der in dicht bewaldetes Gelände führte.

Das Scheinwerferlicht der langen Limousine tanzte auf dem holperigen Weg. Abgesehen von schwachen Reifenspuren eines Pritschenwagens mit Schneeketten – von seinem anderen Lakaien hinterlassen, der das Treffen gestern für ihn arrangiert hatte – sah es so aus, als sei in dieser gottverlassenen Gegend schon seit Monaten niemand mehr gewesen.

Dieser Lakai, ein ehemaliger Nachrichtenoffizier der Armee, wartete jetzt vor einem baufälligen Schuppen am Ende der Straße auf ihn.

Er kam zur hinteren Tür auf der Beifahrerseite der Limousine, gerade als sie holpernd zum Stehen kam.

»Meister«, grüßte er und senkte den Kopf, als Dragos ausstieg. »Sie warten drinnen auf Sie.«

»Sag dem Fahrer, er soll Motor und Scheinwerfer abstellen und hier auf mich warten«, murmelte Dragos. »Es dürfte nicht lange dauern.«

»Natürlich, Meister.«

Dragos trat vorsichtig auf den vereisten Weg, der zu einer alten Scheune führte, aus der ein schwacher Lichtschein drang. Er konnte nicht anders, er musste einfach stehen bleiben und das heruntergekommene Holzhaus mit seinen durchhängenden Balken und morschen Brettern betrachten, von dem ein Gestank nach Vieh, das sich hier früher befunden haben mochte, ausging. Und beim Gedanken an den Sieg, den er schon bald erringen würde, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Welche Ironie, dass sich ausgerechnet in dieser Bruchbude, in den Händen von ein paar extremistischen Hinterwäldlern, das perfekte Mittel befand, um den ach so mächtigen Lucan Thorne und seinen verdammten Orden ein für alle Mal zu Fall zu bringen.

Corinne saß auf einem der beiden Betten im Hotelzimmer in New Orleans und zappte durch die Fernsehkanäle. Damit hatte sie sich eine Weile abgelenkt, um nicht in ihrem engen Quartier herumzulaufen wie eine Katze im Käfig. Aber der Neuigkeitswert von all dem Geplapper und Lärm und den grellen Bildern, die sich mit einem Knopfdruck der Fernbedienung auf den Bildschirm zaubern ließen, hatte sich schon lange abgenutzt.

Sie sah zu Hunter hinüber, der ihr seit Sonnenuntergang jede Minute distanzierter, stiller und unnahbarer vorkam. Vor etwa einer Stunde hatte er Gideon auf seinem Handy angerufen und mit ihm seinen Plan diskutiert, Henry Vachons Häuser in der Gegend aufzuspüren und dort einzubrechen. Wenn er Vachon fand, würde er ihn zu einem isolierten Ort bringen und zu Dragos verhören. Er musste nur herausfinden, wo sich Vachon derzeit aufhielt, und einbrechen, ohne dabei gefangen oder getötet zu werden.

Es klang alles sehr waghalsig und extrem gefährlich.

Sie stellte den Fernseher ab und ließ die Fernbedienung auf dem Bett liegen, dann stand sie auf, um sich den Stadtplan anzusehen, den Hunter auf dem Couchtisch am anderen Ende des Raumes ausgebreitet hatte. Inzwischen brauchte er ihn nicht mehr, sondern benutzte einen elektronischen auf seinem Handy.

Sie studierte die eingekringelten Stellen, wo nach den Informationen des Ordens Vachons Häuser lagen. Auf dem Flug aus Detroit und seit sie mit Hunter im Hotelzimmer festsaß und auf den Abend wartete, hatte sich Corinne den Kopf darüber zerbrochen, wie sie Henry Vachon alleine aufspüren und ihre Bitte vorbringen konnte, ihren Sohn zurückzubekommen.

Wenn sie zuließ, dass Hunter ihn zuerst fand, war Vachon so gut wie tot. Aber wenn es ihr nur irgendwie gelang, dieses Treffen zu unterbrechen und mit Vachon zu verhandeln – ihm das Wenige anzubieten, was sie hatte –, hatte sie vielleicht eine Chance, ihr Kind zu finden. Die Vorstellung, sich schon wieder einem von Dragos’ loyalen Gefolgsmännern ausliefern zu müssen, machte ihr Sorgen. Aber wenn Henry Vachon wirklich in der Nacht ihrer Entführung dabei gewesen war, kannte sie ihn schon von seiner schlimmsten Seite. Sie hatte seine perversen Grausamkeiten schon einmal überlebt; sie würde sich ihm und Dragos wieder stellen, wenn sie so zu ihrem Sohn kam.

Es war ein törichter, verzweifelter Plan, und höchstwahrscheinlich lief er auf glatten Selbstmord hinaus.

Aber sie war verzweifelt. Und sie war bereit, alles zu riskieren, was sie hatte, nur auf die Hoffnung hin, ihren Jungen wiederzusehen.

Sie sah zu Hunter hinüber, der neben der gläsernen Schiebetür zum Balkon stand, sein riesiger Körper bildete eine Silhouette im Mondlicht und dem Schein der Straßenlampen unten auf dem Boulevard. Von draußen drang Musik zu ihnen herauf, die weiche Klage eines Saxophons, jemand spielte den Blues. Jetzt ging auch sie langsam auf die Glastür zu, wie immer magisch angezogen von den tröstlichen Klängen dieser Poesie von Tönen und Harmonien. Sie lauschte eine Weile und beobachtete den alten Mann an der gegenüberliegenden Straßenecke, der sein verbeultes Messinginstrument mit der ganzen Leidenschaft eines jungen Mannes spielte.

»Wann brichst du auf, um Vachon zu suchen?«

Hunter hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Sobald wie möglich. Gideon sucht gerade alle verfügbaren Daten zu Vachons Häusern heraus, alte Baupläne, Schaltpläne von Alarmanlagen, alles, was mir irgendwie helfen kann. Wenn er in der nächsten Stunde was Brauchbares findet, meldet er sich.«

»Und wenn er nichts findet?«

»Dann ziehe ich so los.«

Corinne nickte, nicht überrascht von seiner unumwundenen Antwort. Er wirkte nicht wie einer, der sich von Hindernissen aufhalten ließ, selbst wenn das bedeutete, dass er sich ins feindliche Lager schleichen und sich dabei nur auf seinen Verstand und seine Waffen verlassen musste.

»Denkst du, Vachon wird dir verraten, wo Dragos ist?«

In Hunters Gesicht stand grimmige Zuversicht. »Wenn er es weiß, wird er es mir sagen.«

Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie genau er das bewerkstelligen würde. Auch konnte sie seinen durchdringenden Blick nicht länger als einen Moment ertragen, wenn er so wie jetzt nur einen halben Meter entfernt von ihr stand.

Ihm so nahe zu sein und seine goldenen Augen auf sich zu spüren wie eine Berührung, erinnerte sie nur daran, wie aufgeschreckt sie gewesen war, als er sie diesen Nachmittag im Bad beobachtet hatte. Von wegen aufgeschreckt. Verblüfft war sie gewesen – völlig schockiert von der glühenden Hitze in seinen sonst so unergründlichen Augen. Beim bloßen Gedanken daran durchfuhr es sie heiß, und dieses Mal gab es keine Tür mehr, die sie vor ihm schließen konnte.

Sie hätte sauer sein sollen, dass er sie gesehen hatte, oder ängstlich. Und Hunters Blick beunruhigte sie nach wie vor. Aber nicht aus Angst, die sie doch eigentlich fühlen sollte, sondern aus Spannung. Denn der stoische Krieger hatte sie nicht wie ein Objekt angesehen, das er beschützen oder bemitleiden sollte, sondern er hatte sie als Frau wahrgenommen.

Wenigstens bis er ihre Narben gesehen hatte.

Die äußerlichen Spuren dessen, was sie erlitten hatte, waren hässlich genug, aber die schlimmsten Verletzungen waren innerlich. Es gab immer noch einen wunden und verletzten Teil von ihr, der noch nicht wieder aus Dragos’ Albtraumkerker herausgekommen war und der es vielleicht nie wieder hinaus ans Tageslicht schaffen würde. Sie hatte so viel von sich selbst in diesen feuchtkalten Laborzellen zurückgelassen, dass sie nicht sicher war, ob sie jemals wieder wirklich heilen konnte.

Es war dieser Teil von ihr gewesen, der es nicht hatte ertragen können, in einem so kleinen Raum wie dem winzigen Bad des Hotelzimmers eingeschlossen zu sein. Sie hatte die Tür einen winzigen Spalt offen gelassen, nur so viel, um sich zu versichern, dass sie aus der kleinen Nasszelle hinaussehen und sie jederzeit verlassen konnte, wenn sie wollte. Dass sie nicht eingeschlossen und hilflos auf die nächste Runde Folter wartete, von dem, der den Schlüssel hatte.

Selbst jetzt noch schienen beim bloßen Gedanken an enge Räume und verschlossene Türen die vier Wände um sie zusammenzurücken. Ihr Puls beschleunigte sich, ihre Kehle schnürte sich zusammen unter der Panikattacke, die in ihr aufstieg. Corinne drehte sich zu der breiten Schiebetür um, die auf einen kleinen Balkon mit Blick über die Innenstadt hinausführte. Sie streckte die Hände aus und presste die Handflächen gegen das kühle Glas, konzentrierte sich auf ihre Atmung und versuchte, ihr Herz durch Willenskraft zu beruhigen.

Es half nicht.

»Was ist los?«, fragte Hunter und runzelte die Stirn, als sie ein paarmal hastig Atem holte. »Ist dir nicht gut?«

»Luft«, keuchte sie. »Ich brauche … Luft …«

Sie fummelte mühsam am Griff der Glastür herum, schaffte endlich, sie aufzureißen, und taumelte auf den Balkon hinaus. Hunter war an ihrer Seite, als sie sich an das schmiedeeiserne Balkongeländer klammerte und keuchend die reinigende Nachtluft einatmete. Sie spürte seine Präsenz wie eine Hitzewand neben sich, seine riesige Gestalt ragte nah neben ihr auf und beobachtete sie in stummer Besorgnis.

»Alles okay«, murmelte sie, doch ihr war immer noch schwindlig, ihre Lungen waren immer noch wie in einem Schraubstock gefangen. »Halb so wild … geht schon wieder.«

Er streckte die Hand aus, nahm sanft ihr Kinn und drehte ihr Gesicht in der Dunkelheit zu sich herüber. Sein Stirnrunzeln hatte sich vertieft, und diese durchdringenden goldenen Augen blickten sie prüfend an. »Es geht dir nicht gut.«

»Nein, alles in Ordnung. Ich hab nur etwas frische Luft gebraucht.« Sie zog sich etwas zurück, und er ließ seine Hand sinken. Die Wärme seiner Berührung verweilte. Sie konnte die Linien spüren, die seine breiten Finger auf ihrer Haut gezogen hatten, und stieß zitternd den Atem aus.

Er starrte sie an, sah sie in der schwülen Nacht von New Orleans zittern. »Es geht dir nicht gut«, sagte er wieder. Dieses Mal war seine Stimme sanfter, aber nicht weniger entschieden. »Dein Körper braucht mehr Ruhe, und du brauchst Nahrung.«

Sein Blick wanderte zu ihrem Mund. Dort verweilte er und versetzte sie in noch größeren inneren Aufruhr.

»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Corinne?«

Gott, sie wusste es gar nicht mehr. Es musste schon über vierundzwanzig Stunden her sein, denn das letzte Mal hatte sie im Bostoner Hauptquartier vor ihrem Abflug nach Detroit etwas gegessen. Sie zuckte vage die Schultern. An das allgegenwärtige Hungergefühl hatte sie sich in der Zeit ihrer Gefangenschaft längst gewöhnt. Dragos hatte ihr und den anderen gerade genug zu essen gegeben, um sie am Leben zu erhalten. Manchmal, wenn ihre Rebellion ihr Isolationshaft eingebracht hatte, war es noch weniger gewesen.

»Ich bin okay«, sagte sie, und Hunters musternder Blick und seine Besorgnis wurden ihr unbehaglich. »Ich musste einfach nur ein Weilchen draußen sein. Ich brauche nur frische Luft.«

Er wirkte nicht allzu überzeugt und warf einen abschätzenden Blick über den Balkon hinunter auf die Straße. Die angenehme abendliche Brise brachte Geräusche mit. Leute schlenderten vorbei, unterhielten sich und lachten, daneben rumpelten Autos über das Kopfsteinpflaster. Der Musiker an der Ecke ging von einem gefühlvollen Stück zum nächsten über, und der appetitliche Duft nach gebratenem Fleisch und würzigen Soßen ließ Corinnes Magen verräterisch knurren.

Hunter sah sich wieder zu ihr um, den Kopf fragend zur Seite gelegt.

»Na gut«, sagte sie. »Ich schätze, ich könnte schon etwas zu essen vertragen.«

»Dann komm«, sagte er und stapfte schon wieder ins Zimmer zurück.

Corinne folgte ihm, ein Teil von ihr war einfach nur begierig, unten auf der belebten Straße zu sein, wieder mitten unter den Lebenden. Ein vorsichtigerer Teil von ihr wusste, wenn sie ihren Plan, Henry Vachon auf eigene Faust zu kontaktieren, heute Nacht in die Tat umsetzen wollte, sollte sie besser etwas in den Magen bekommen und sich rüsten für die verzweifelte Mission, die vor ihr lag.