8

Corinne saß mit ihrer Mutter am Esszimmertisch und sah zerstreut zu, wie Tilda die letzten Servierplatten aus der Küche des Dunklen Hafens hereinbrachte. Das Essen sah wunderbar aus und duftete noch besser, aber sie hatte gar keinen Appetit. Immer wieder wanderte ihr Blick ins Foyer nebenan, zu der geschlossenen Arbeitszimmertür ihres Vaters.

»Er ist sicher jeden Moment fertig, Liebes.« Regina, die rechts neben ihr saß, lächelte sie an. »Er will bestimmt nicht, dass wir auf ihn warten und Tildas köstliches Essen kalt werden lassen.«

Der Stuhl ihres Vaters am Kopfende des Tisches war leer. Auch für ihn war gedeckt worden, aber der Porzellanteller und das Kristallglas waren nur aus Tradition dort; kein Stammesvampir nahm menschliche Nahrungsmittel oder Getränke zu sich. Corinne machte keine Anstalten, mit dem Essen zu beginnen. Sie starrte den leeren Mahagonistuhl an und versuchte, Victor Bishop durch reine Willenskraft von seinen Geschäften wegzuholen und ihn auf seinen Platz als Oberhaupt und Beschützer der Familie zu beamen.

»Lass uns mit etwas Suppe anfangen«, sagte Regina und hob den Deckel von der großen Silberterrine, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Eine aromatische Dampfwolke stieg daraus auf. Sie senkte die Suppenkelle hinein und schöpfte Corinne ein. »Duftet das nicht köstlich? Das ist eine ganz besondere Rindfleischbouillon mit Schalotten und Waldpilzen.«

Corinne wusste, dass ihre Mutter nur versuchte, sich um sie zu kümmern und ihr ein Gefühl von Normalität zu vermitteln in einer Situation, die alles andere als normal war. Sie sah zu, wie ihre Suppentasse aus Porzellan sich mit herzhafter Suppe und Gemüse füllte, und am liebsten hätte sie geschrien.

Denn sie konnte jetzt einfach nichts essen. Sie konnte gar nichts tun, bis sie nicht mit ihrem Vater gesprochen und er ihr versichert hatte, dass nichts und niemand – nicht einmal ein so sadistisches Monster wie Dragos – sie von ihrem Kind fernhalten konnte. Solange sie diese Worte nicht gehört hatte und glauben konnte, dass es tatsächlich möglich war, ihren Sohn zu finden und zurückzubringen, war ihr alles egal.

»Vielleicht sollte ich zu ihm ins Arbeitszimmer gehen und dort mit ihm reden«, sagte sie, schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

Ihre Mutter legte ihren Löffel hin und runzelte die schmalen Brauen. »Liebes, was ist los …?«

Corinne ging aus dem Esszimmer und durch das Foyer, und ihre Nervosität wuchs.

Als sie sich der geschlossenen Flügeltür von Victor Bishops Arbeitszimmer näherte, ertönte plötzlich von drinnen ein lautes Krachen, Glas splitterte.

»Papa?« Corinne erschrak. Sie legte die Hand flach auf die Tür aus poliertem Holz und klopfte ein paarmal panisch an. Jetzt drangen Kampfgeräusche nach draußen – Papier, das raschelnd zu Boden fiel, und ein ersticktes Knurren. »Papa, alles okay da drin?«

Sie drückte die Türklinke herunter. Nicht abgeschlossen, Gott sei Dank. Ihre Mutter und zwei der Wächter ihres Vaters, Mason und ein weiterer Stammesvampir, folgten ihr auf dem Fuß, als sie die Tür aufstieß und hineinging.

Victor Bishop lag rücklings auf seinem Schreibtisch und keuchte nach Luft unter dem gnadenlosen Griff der riesigen Pranke, die sich wie ein Schraubstock um seine Kehle geschlossen hatte. Der Angreifer ihres Vaters war der Letzte auf der Welt, den wiederzusehen Corinne je erwartet hätte.

»Hunter«, flüsterte sie ungläubig und voller Entsetzen.

Ihre Mutter rief Victors Namen, dann brach sie in heftiges Schluchzen aus.

Hinter Corinne bewegten sich Mason und der andere Wächter vorsichtig. Sie spürte ihre Anspannung, spürte, dass die beiden Stammesvampire ihre Chancen abwägten, die Waffen zu ziehen und den unvorhergesehenen Angreifer außer Gefecht zu setzen.

Dass ihnen das nicht gelingen würde, sah Corinne in Hunters emotionslosem Gesicht. In seinen goldenen Augen lag eine eisige, tödliche Ruhe. Corinne erkannte sofort, dass dieser Krieger überhaupt keine Probleme damit hatte, andere zu töten. Er brauchte mit seinen starken Fingern nur fester zuzudrücken und hätte ihren Vater in Sekundenschnelle erwürgt.

In diesem Augenblick äußerster Angst und Sorge spürte Corinne plötzlich, wie sich tief in ihr eine mächtige Kraft regte. Es war ihre Gabe, die sich nun mit einem leisen Summen in ihr erhob, ihre sonokinetische Energie, die ihr erlaubte, jedes beliebige Geräusch zu ohrenbetäubender Lautstärke zu manipulieren. Jetzt kribbelte die Gabe in ihr, war einsatzbereit. Aber sie konnte es nicht riskieren. Nicht, wenn Hunter die Kehle ihres Vaters so umklammerte.

Als sich Mason, der weniger Skrupel hatte als sie, Hunters Absichten auszutesten, zentimeterweise nach vorne schob, hielt Corinne ihn mit einem leichten Kopfschütteln davon ab.

Sie war fassungslos und verwirrt. Warum war Hunter in den Dunklen Hafen zurückgekommen? Was wollte er? Wie er hereingekommen war, brauchte sie nicht zu fragen. Die schweren Vorhänge der verglasten Terrassentür des Arbeitszimmers bauschten sich in der winterlichen Brise, die von draußen hereinkam. Er war heimlich hier eingedrungen und hatte es auf eine ganz bestimmte Zielperson abgesehen.

»Warum?«, murmelte sie. »Hunter, warum machst du das?«

»Sagen Sie’s ihr.« Hunter richtete seinen gnadenlosen Blick wieder auf ihren Vater. Victor Bishop murmelte etwas und versuchte, den unerbittlichen Klammergriff um seine Kehle zu lösen, aber es war aussichtslos. Seine Muskeln erschlafften, und sein Kopf fiel mit einem hoffnungslosen Stöhnen auf den Schreibtisch zurück. Hunter verzog keine Miene. »Sagen Sie die Wahrheit oder ich töte Sie, hier und jetzt.«

Corinnes Puls dröhnte ihr in den Schläfen. Sie wusste nicht, was größere Panik in ihr auslöste – dass der Stammesvampir, bei dem sie aufgewachsen war, gerade mit dem Tod bedroht wurde, oder das Grauen, das an ihr nagte, als sie Hunter jetzt ansah und erkannte, dass er kein Mann war, der voreilig handelte.

Nein, was Hunter tat, tat er immer überlegt. Sie kannte ihn zwar erst seit kurzer Zeit, aber er hatte immer eine kühle, kompetente Reserviertheit an sich, die keinen Raum für irrationales Handeln oder Fehler ließ.

Beim Gedanken, dass ihr Vater irgendwie den Zorn dieses Kriegers erregt haben musste, krampfte sich Corinnes Magen zusammen, sie hatte die tiefe, instinktive Gewissheit, dass ihre Welt gleich für immer zusammenbrechen würde. Und sie wusste nicht, ob sie das ertragen konnte – nicht nach allem, was sie durchgemacht und überlebt hatte.

»Nein«, sagte sie und wollte das Gefühl leugnen, das jetzt auf sie einstürmte. An dieses Leugnen klammerte sie sich, auch wenn es sich brüchig anfühlte. »Bitte, Hunter … tu’s nicht. Bitte lass ihn los.«

Hunter legte leicht den Kopf schief und sah sie an. Ein eigenartiger Ausdruck blitzte in seinen Augen auf, als hätte sie ihn kurz aus dem Konzept gebracht.

Ob ihm Zweifel kamen? Aber er machte keine Anstalten, ihren Vater loszulassen. Dann runzelte er leicht die Stirn. »Er weiß, was mit dir passiert ist in der Nacht, als du verschwunden bist. Er hat die ganze Zeit über gewusst, dass du entführt wurdest, und auch von wem. Und er weiß noch sehr viel mehr.«

»Das ist unmöglich.« Ihre Stimme war tonlos, fast nur ein Hauch. »Du täuschst dich, Hunter. Du machst einen schrecklichen Fehler. Papa, bitte … sag ihm, dass er sich irrt.«

Victor Bishop schien darauf noch mehr in sich zusammenzusinken. Er schwitzte und zitterte, war unter Hunters gnadenlosen Händen völlig auf einen Zustand hilfloser Kapitulation reduziert. Das gut aussehende Gesicht, das Corinne als Kind immer solches Wohlgefühl eingeflößt hatte, war nun schlaff, gerötet und glänzte von Schweißperlen. In diesem Augenblick suchte er ihren Blick und murmelte etwas, das wie eine lahme Entschuldigung klang.

Corinne erstarrte, schlagartig wich ihr das Blut aus Kopf und Gliedern, und sie fühlte sich plötzlich so schwer, dass sie fast in die Knie sackte. Mason und der andere Wächter spannten sich merklich an, beide Männer warteten darauf, dass die Situation entweder völlig eskalierte oder sich beruhigte.

Corinne spürte, wie ihre Mutter neben ihr heftig zu zittern begann, sie war genauso erschüttert wie sie.

»Victor, du kannst so etwas nicht gewusst haben«, beharrte Regina. Sie hielt sich die blasse Hand vor den Mund, so zart wie ein Vogel, und ließ sie dann langsam wieder sinken. »Du hast um dieses Mädchen getrauert, als sie verschwunden war. Du warst genauso am Boden zerstört wie wir alle. Du kannst diese Gefühle nicht vorgetäuscht haben. Ich bin deine Stammesgefährtin, ich bin mit dir blutsverbunden – mir wäre doch aufgefallen, wenn du nicht aufrichtig gewesen wärst.«

»Ja«, schaffte er zu krächzen. Corinne beobachtete, wie die Sehnen in Hunters riesiger Hand sich etwas entspannten, aber nur so, dass Bishop reden konnte. Er war immer noch gefangen, der Gnade des Kriegers immer noch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Ja, Regina, ich habe um sie getrauert. Ich war am Boden zerstört, dass sie fort war. Ich hätte alles getan, um meine Familie zu schützen. Und das habe ich auch. Ich habe nur versucht zu beschützen, was mir von meiner Familie geblieben war, und darum hatte ich überhaupt keine andere Wahl, als zu schweigen.«

Corinne schloss die Augen, als ihr die volle Bedeutung dieser unerwarteten bitteren Worte aufging. Sie war sprachlos, konnte nur den Kopf heben und in die ruhigen goldenen Augen des Kriegers sehen, dessen Gesicht weder Überraschung noch Mitleid ausdrückte, nur ernste Gewissheit.

»Ich hatte keine Wahl«, wiederholte Victor Bishop. »Ich hatte doch keine Ahnung, dass er solch einen Vergeltungsschlag gegen mich führen würde. Ihr müsst mir glauben …«

»Victor«, keuchte ihre Mutter. »Was willst du damit sagen?«

Seine Augen wanderten von Corinne zu seiner Stammesgefährtin, die über hundert Jahre lang Teil seines Lebens gewesen war. »Er sagte, er würde mich schon dazu bringen, ihn zu unterstützen, Regina, so oder so. Ich dachte, ich sei schlauer als er. Ich wusste doch, dass ich über die besseren Verbindungen verfügte als er. Aber das ist genau, was er von mir wollte – meine Verbindungen. Er brauchte meine Unterstützung, um schneller innerhalb der Agentur aufsteigen zu können.«

Hunter, der immer noch seine mörderische Pranke um Bishops Kehle geschlossen hatte, stieß ein tiefes Knurren aus, als Corinnes Vater nun nach und nach sein hässliches Geständnis ablegte.

Nein, berichtigte sie sich innerlich. Victor Bishop war nicht ihr Vater. Nicht mehr. Er war ein Fremder für sie geworden, in diesen letzten Minuten mehr als in all den Jahrzehnten, die sie fort gewesen war.

»Als ich mich weigerte, mich seiner Sache anzuschließen, hat er mir gedroht«, sagte Bishop, seine Stimme war rau vor Verzweiflung. »Mir war nicht klar, wozu er damals schon fähig war. Mein Gott, wie hätte ich denn wissen können, dass er so weit gehen würde?«

»Wer hat dir gedroht, Victor?«, fragte seine Stammesgefährtin. Jetzt zitterte sie nicht mehr, und ihre Stimme und ihr Auftreten waren plötzlich fest und sicher. »Wer hat uns unsere Tochter gestohlen?«

»Gerard Starkn.«

»Starkn, der Agenturdirektor?«, murmelte Regina. »Er ist über die Jahre mindestens ein Dutzend Mal hier gewesen, bevor und nachdem Corinne verschwunden ist. Herr im Himmel, Victor, es muss jetzt fünfzig Jahre her sein, aber ich erinnere mich, dass du eine Rede auf seinem Empfang gehalten hast, als er in den Hohen Rat der Agentur gewählt wurde. Willst du etwa sagen, dass er etwas damit zu tun hatte?«

Corinne runzelte verwirrt die Stirn. Der unbekannte Name ließ eine wilde, verzweifelte Hoffnung in ihr aufsteigen. Vielleicht handelte es sich hier doch um einen Fehler. Wenn er nicht gewusst hatte, dass es Dragos gewesen war, der sie hatte entführen lassen, dann war Victor Bishop vielleicht doch nicht so schuldig, wie sie befürchtete.

Aber Hunters grimmiger Blick nahm ihr sogar diese schwache Hoffnung. Er schüttelte vage den Kopf, als wüsste er, welche Richtung ihre Gedanken gerade genommen hatten. »Dragos hat viele Decknamen benutzt, diesen eingeschlossen. Gerard Starkn und Dragos sind ein und derselbe Mann.«

Corinne sah zu Victor Bishop hinüber, suchte nach einem Funken von Ehrlichkeit in diesem Gesicht, das ihr fremd geworden war. »Hast du das gewusst? War dir klar, dass der Mann, den du als Gerard Starkn kanntest, in Wirklichkeit ein Monster namens Dragos war?«

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, sein Blick war frei von jeglichem Eingeständnis. »Ich habe euch alles gesagt, was ich weiß.«

»Nein«, murmelte sie. »Hast du nicht. Du weißt, was man mit mir gemacht hat, aber du hast nicht nach mir gesucht. Ich habe gewartet. Jeden Tag habe ich gebetet. Ich habe mir gesagt, dass du nicht ruhen würdest, bis du mich gefunden hättest. Bis ich gerettet und wieder zu Hause wäre. Aber niemand hat je nach mir gesucht.«

»Ich konnte nicht«, sagte er. »Starkn sagte mir, wenn ich mich gegen ihn stellte, würde das noch schlimmere Folgen haben. Wenn ich ihm meine politische Unterstützung versagte oder versuchte, öffentlich zu machen, was er alles getan hatte, um seine Position in der Agentur zu erreichen, würde ich einen noch viel höheren Preis zahlen. Du musst verstehen – ihr alle müsst verstehen –, dass ich das damals nur getan habe, um meine Familie zu schützen – was von ihr noch übrig war.«

Regina holte zitternd Atem. »Und so hast du ihm einfach erlaubt, unsere Tochter zu behalten? Denn das war Corinne und ist es immer noch. Verdammt, wie konntest du nur so herzlos sein?«

»Er hat mir keine andere Möglichkeit gelassen«, antwortete Bishop, und seine Augen, die die eines Fremden waren, wanderten wieder zu Corinne zurück. »Starkn hat mir gesagt, wenn ich versuche, dich zu finden oder irgendjemandem Anlass zur Vermutung gebe, dass er dich hat, wäre Sebastian der Nächste. Also habe ich geschwiegen und dafür gesorgt, dass seinen Forderungen Folge geleistet wurde.« Einen Augenblick lang versagte ihm die Stimme. »Es tut mir leid, Corinne. Das musst du mir glauben …«

»Ich werde dir nie wieder irgendetwas glauben«, antwortete sie. Sie war zutiefst verletzt, ja, aber ungebrochen.

Sie hatte viel Schlimmeres durchgemacht. Das Ausmaß seines Verrats erschütterte sie, aber sie hatte immer noch einen langen, einsamen Weg vor sich.

Als sie so dastand und versuchte, all das eben Gehörte zu verarbeiten, packte sie plötzlich neues Entsetzen. »Das Mädchen«, sagte sie, und neue Puzzleteile seines Verrats fügten sich zusammen. »Nachdem man mich entführt hat, wurde ein totes Mädchen aus dem Fluss geborgen …«

Victor Bishop hielt ihrem entsetzten Blick stand. »Du warst fort, und Starkn hat mir unmissverständlich klargemacht, dass du nie zurückkommen würdest. Solange es Fragen über dein Verschwinden geben würde … solange noch Hoffnung bestand, dass du noch am Leben sein könntest …«

Die Erkenntnis senkte sich über sie, kalt und schwer wie Blei. »Du warst es, der alle davon überzeugen wollte, dass ich tot war. Oh Herr im Himmel … du hast ein unschuldiges Mädchen ermorden und in Stücke schneiden lassen, nur um deine eigenen Sünden zu vertuschen.«

»Um das Miststück war es nicht schade«, konterte Bishop, als könnte er den Mord so rechtfertigen, und klang jetzt verärgert. »Das war einfacher Straßenabschaum, hat sich unten am Fluss verkauft.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Corinne, und nun schwoll ihre eigene Empörung an und machte sich Luft. »Dann kann es dir um mich auch nicht schade gewesen sein. Du hast zugelassen, dass er mich entführt und all diese Zeit wie ein Tier im Käfig gehalten hat. Schlimmer noch als das. Hast du dich nie gefragt, was er mit mir machen würde? Hast du dir nie Gedanken gemacht, dass er mich foltern, entwürdigen, nach und nach zerstören würde? Konntest du dir nicht vorstellen, zu welchen Folterungen ein sadistischer Wahnsinniger wie er fähig wäre in einem abgelegenen Kerker, wo er mich und all die anderen entführten Stammesgefährtinnen eingesperrt hat?«

Regina Bishop brach in heftiges Weinen aus, doch Bishop schwieg und starrte Corinne und seine Gefährtin nur stumm und unberührt an. »Lass mich los«, knurrte er Hunter zu, dessen Finger sich nun wieder fester um seine Kehle geschlossen hatten. »Ich habe gesagt, du sollst mich loslassen. Du kannst jetzt zufrieden sein. Du hast doch jetzt das Geständnis, das du mir abpressen wolltest.«

Hunter beugte sich über ihn. »Jetzt wirst du mir alles über Gerard Starkn erzählen, was du weißt. Wo er ist, wann du ihn zuletzt gesehen hast und wer seine Verbündeten sind, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Agentur. Du erzählst mir jedes Detail, und zwar sofort.«

»Ich weiß aber nicht mehr«, keuchte Bishop. »Es ist über zehn Jahre her, dass ich überhaupt an den Mann gedacht, geschweige denn ihn gesehen habe. Mehr kann ich dir nicht sagen, das schwöre ich dir.«

Aber Hunter wirkte nicht überzeugt und schien auch nicht geneigt, Bishop aus seinem Todesgriff zu entlassen, nicht einmal dann, wenn er die Antworten bekam, die er wollte. An der Ruhe in seinen Augen erkannte Corinne, dass er ihn töten würde.

Auch Bishop erkannte das. Er begann sich zu winden, bäumte sich auf der Schreibtischplatte auf, trat um sich und stieß dabei einen Stapel ledergebundener Bücher zu Boden.

Jetzt brach Corinnes Gabe, die schon die ganze Zeit in ihren Adern summte, unaufhaltsam aus ihr heraus und stürzte sich auf das Poltern der fallenden Bücher. Der Lärm schwoll an und explodierte zu einem mächtigen, lang gezogenen Donnergrollen, das den Raum und alles in ihm zum Erbeben brachte.

»Corinne, hör auf!«, rief ihre Mutter, sich die Ohren zuhaltend.

Bishop bleckte die Lippen und entblößte die Spitzen seiner Fänge, vor Wut und Angst transformierten sich seine braunen Augen zum feurigen Bernsteingelb des Stammes, und seine Pupillen zogen sich zu katzenartigen Schlitzen zusammen.

Hunter jedoch blieb kühl, der Inbegriff der Selbstkontrolle. Er nahm den Ausbruch von Corinnes übersinnlicher Gabe nur am Rande zur Kenntnis, und dann schien er die Ablenkung völlig auszublenden. Seine Augen behielten ihren normalen goldenen Farbton bei, sein Gesicht mit den scharfen Wangenknochen blieb schmal und angespannt, sein Ausdruck konzentriert, aber nicht wütend. Er schloss die Finger fester um Bishops Kehlkopf.

Corinne öffnete die Lippen und keuchte heftig vor Erschöpfung. Sie zwang ihre Gabe, sich wieder zu legen, und wollte schon aufschreien, damit all dieser Wahnsinn endlich aufhörte.

Aber es war Regina, die zuerst sprach.

»Henry Vachon«, stieß sie hervor. Victor fauchte, und es war schwer zu sagen, ob seine Wut sich jetzt auf seinen Peiniger oder seine erschütterte Stammesgefährtin richtete. Regina wandte den Blick von ihm ab, hob das Kinn und sprach direkt zu Hunter. »Ich erinnere mich an einen weiteren Stammesvampir, auch er ein Mitglied der Agentur. Er war fast immer mit Starkn zusammen, wenn ich ihn in der Öffentlichkeit gesehen habe. Sein Name war Henry Vachon. Er war von irgendwo aus dem Süden … New Orleans, soweit ich mich entsinne. Wenn Sie Gerard Starkn finden wollen – oder wie auch immer er sich heutzutage nennt –, fangen Sie mit Henry Vachon an.«

Hunter nickte ihr zum Dank zu, hatte aber die Hand immer noch fest um Bishops Hals geschlossen.

»Lass ihn los«, murmelte Corinne leise. Ihr war ganz elend nach allem, was sie gehört hatte, aber sie verspürte kein Bedürfnis nach Rache. Nicht einmal gegenüber ihrem Vater, der sie so herzlos verraten hatte. »Bitte, Hunter … lass ihn gehen.«

Wieder warf er ihr diesen seltsamen Blick zu wie vorhin, als sie ihn schon einmal gebeten hatte, Victor Bishop zu verschonen. Corinne konnte den seltsamen, düsteren Ausdruck nicht deuten, der jetzt in seinen goldenen Augen aufflackerte. Es war eine Frage, ein stummes Innehalten aus Unsicherheit oder Erwartung.

»Er ist es nicht wert«, sagte sie. »Lass ihn mit seinen Taten leben. Für mich existiert er nicht länger.«

Als Hunter seinen Griff löste, rollte Bishop keuchend und hustend auf den Boden. Reginas liebes Gesicht war fassungslos und vom Weinen gerötet. Sie hatte wieder angefangen zu schluchzen, entschuldigte sich bei Corinne, bat sie um Vergebung dafür, was Victor ihr angetan hatte. Sie versuchte, Corinne in ihre Arme zu ziehen, aber der Gedanke daran, berührt zu werden, egal von wem, war mehr, als diese jetzt ertragen konnte.

Corinne wich zurück. Sie fühlte sich eingesperrt in diesem Raum, erstickt in diesem Dunklen Hafen, der nun nicht mehr ihr Zuhause war und es niemals wieder sein würde. Die Wände schienen immer enger um sie zusammenzurücken, der Fußboden senkte sich, ihr Magen hob sich, und ihr wurde schwindlig.

Sie musste hier raus.

Als sie einen unsicheren Schritt auf die offene Arbeitszimmertür zuging, streckte Mason hilfsbereit die Hand aus, um sie zu stützen, aber sie wich ihm und seinem mitfühlenden Blick aus.

»Ich muss an die Luft«, flüsterte sie und keuchte vor Anstrengung. »Ich kann nicht … ich muss … hier raus.«

Und dann rannte sie los.

Durch das Foyer des großen Hauses und auf die lange Auffahrt hinaus. Irgendwo aus der Nähe schallte fröhliche Weihnachtsmusik in die Nacht, und Corinne spürte einen so großen, unendlichen Kummer, dass ihr fast das Herz brach. Hastig atmete sie die kalte Nachtluft ein, und dann rannte sie keuchend die verschneite Auffahrt hinunter.