5

Er hieß Dragos wie sein Vater vor ihm, auch wenn es nur wenige gab, die ihn unter diesem Namen kannten.

Nur eine Handvoll nötiger Verbündeter, seine Leutnants in dem Krieg, den er begonnen hatte, kannten seinen wirklichen Namen und seine Abstammung. Natürlich kannten ihn nun auch seine Feinde. Lucan Thorne und seine Ordenskrieger hatten ihn schon mehrfach enttarnt und in den Untergrund getrieben. Aber noch hatten sie ihn nicht besiegt.

Und das würden sie auch nicht, wie er sich jetzt sagte, als er im walnussgetäfelten Arbeitszimmer seines privaten Anwesens auf und ab ging.

Draußen vor den fest geschlossenen Fensterläden, die das schwache Mittagslicht abblockten, heulte ein Schneesturm. Über die steilen Felsklippen seines Inselverstecks wehten heftige Windböen vom Atlantik herein und rüttelten an den Fenstern und Dachschindeln, und die immergrünen Bergkiefern, die sein riesiges Anwesen umgaben, ächzten und stöhnten im Sturmwind, der westwärts auf das Festland zutobte, nur wenige Kilometer entfernt von der isolierten Felsklippe im Meer, die er nun sein Zuhause nannte.

Dragos genoss die Wut des Sturms draußen. Er spürte in sich einen ähnlichen Sturm wüten, wenn er an den Orden und die schweren Schläge dachte, die er seiner Operation versetzt hatte. Er wollte ihn seine Wut spüren, ihn wissen lassen, dass er schon sehr bald kommen und Rache nehmen würde – und sie würde blutig und total sein. Er würde keine Gnade walten lassen.

In Gedanken ging er wieder und wieder die Pläne durch, die er mit Lucan und seinem bisher so uneinnehmbaren geheimen Bostoner Hauptquartier hatte, als an der geschlossenen Tür seines Arbeitszimmers ein höfliches Klopfen ertönte.

»Was?«, fauchte er, sein Temperament war so aufbrausend, wie sein Geduldsfaden dünn war.

Eine seiner Lakaiinnen öffnete die Tür. Das Mädchen war jung und hübsch, mit rotblondem Haar und zarter, flaumiger Pfirsichhaut. Er hatte sie vor ein paar Wochen als Kellnerin in einem abgelegenen Fischerstädtchen entdeckt und beschlossen, sie zu seiner Unterhaltung in seinen Schlupfwinkel mitzunehmen.

Es war auch wirklich amüsant mit ihr gewesen.

Dragos hatte sich hinter dem Müllcontainer des Restaurants, der nach Fischabfällen und Salzwasser stank, von ihr genährt. Zuerst hatte sie sich heftig gewehrt, ihm das Gesicht zerkratzt und ihn getreten. Als er ihr die Fänge in den zarten Hals schlug, hatte sie kurz aufgeschrien und versucht, ihm das Knie in die Eier zu rammen.

Dafür hatte er sie mehrfach brutal und mit größtem Vergnügen vergewaltigt. Dann hatte er sie fast bis zum Tod ausgesaugt und zu dem gemacht, was sie jetzt war, eine seiner Lakaiinnen – wesenlos, hörig, völlig versklavt. Sie leistete keinerlei Widerstand mehr und machte alles mit, was er von ihr verlangte, egal, wie lasterhaft es war.

Das Mädchen betrat mit sittsam gesenktem Kopf sein Arbeitszimmer. »Ich bringe die Post von Ihrem Postfach auf dem Festland, Meister.«

»Hervorragend«, murmelte er und sah auf sie hinunter, als sie mit einer Handvoll Briefumschlägen hereinkam und sie auf seinem riesigen Schreibtisch in der Mitte des opulenten Raumes ablegte.

Als sie sich zu ihm umdrehte, war ihre Miene ausdruckslos, aber aufmerksam, der typische Gesichtsausdruck eines Lakaien, der den nächsten Befehl seines Meisters erwartete. Wenn er ihr befahl, auf die Knie zu gehen und ihm einen zu blasen, würde sie es sofort tun. Ebenso gehorsam würde sie reagieren, wenn er ihr befahl, den silbernen Brieföffner vom Tisch zu nehmen und sich damit die Kehle aufzuschlitzen.

Dragos musterte sie mit schief gelegtem Kopf und überlegte, welches dieser beiden Szenarien amüsanter wäre. Er hatte sich gerade entschieden, als sein Blick auf einen großen weißen Pergamentumschlag ganz oben auf dem Poststapel fiel. Der Bostoner Absender und die kunstvoll handgeschriebene Adresse nahmen sofort seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Er winkte seine Lakaiin gelangweilt fort.

Während das Mädchen still sein Arbeitszimmer verließ, ließ er sich auf dem dicken Lederpolster seines Schreibtischstuhls nieder und nahm den weißen Umschlag vom Stapel. Lächelnd strich er mit den Fingern über die sorgfältig handgeschriebene Adresse unter seinem aktuellen Decknamen, den er in letzter Zeit bei den Menschen benutzte.

Dragos hatte in seinem jahrhundertelangen Leben so viele falsche Identitäten angenommen, beim Stamm und bei den Menschen, dass er sich kaum noch die Mühe machte, den Überblick zu behalten. Es war auch nicht länger von Belang; die Zeit, in der er sich verstecken und seine großen Pläne im Verborgenen vorantreiben musste, war nun fast zu Ende. Er war jetzt so nahe dran. Was kümmerten ihn schon die Interventionen des Ordens in letzter Zeit. Die Anstrengungen der Krieger, ihn auszubremsen, waren bedeutungslos und kamen außerdem viel zu spät.

Die Einladung zu einer Weihnachtsfeier in seiner Hand war ein weiterer Schritt auf seinem Weg zum Triumph. Er hatte den jungen Senator von Massachusetts fast das ganze letzte Jahr über umworben, jede Bewegung des ehrgeizigen jungen Politikers genau verfolgt und sichergestellt, dass seine Wahlkampfkasse immer gut gefüllt blieb.

Dieser Mensch glaubte, dass er zu Großem ausersehen war, und Dragos tat, was er konnte, um dafür zu sorgen, dass er so schnell und so hoch aufstieg wie nur möglich. Wenn es nach ihm ging, den ganzen Weg zum Weißen Haus.

Dragos öffnete den Umschlag und überflog die Einzelheiten der Einladung. Es würde eine exklusive Wohltätigkeitsveranstaltung mit teurem Abendessen und Spendensammlung werden, zu der die mächtigen Politikerfreunde des Senators und natürlich seine einflussreichsten und großzügigsten Wahlkampfsponsoren eingeladen waren. Diese Party würde er sich um nichts in der Welt entgehen lassen. Tatsächlich konnte er sie kaum erwarten.

Schon in wenigen Nächten würde er die nötigen Voraussetzungen geschaffen haben, seine Vision zu ihrem grandiosen Abschluss zu bringen, und nichts und niemand würde ihn mehr dabei aufhalten können. Mit Sicherheit nicht die Menschen. Die würden ahnungslos sein bis zuletzt, genau wie geplant.

Auch der Orden würde ihm keine Steine mehr in den Weg legen, dafür hatte er schon gesorgt. Dieser Krieg erforderte neue Methoden, und er hatte einen seiner Lakaien ausgeschickt, um ihm die nötigen Spezialwaffen zu besorgen, die er gegen Lucan und seine Krieger brauchte und die sicherstellen würden, dass kein Mitglied des Ordens am Leben blieb, um jemals wieder seine Pläne zu durchkreuzen.

Als er die Einladung des Senators wieder auf den Tisch legte, meldete ihm sein Laptop mit einem hellen Glockenton, dass eine neue Mail angekommen war. Genau nach Plan, dachte Dragos, als er den Report seines Lakaien vor Ort mit einem Mausklick öffnete. Die Nachricht kam über einen kostenlosen Mailprovider, sodass man den Nutzer nicht zurückverfolgen konnte, und war kurz und bündig, genau wie er es von einem ehemaligen Soldaten erwartete.

Zielpersonen lokalisiert.

Erste Kontaktaufnahme erfolgreich.

Überstellung eingeleitet wie geplant.

Eine Antwort war nicht nötig. Der Lakai kannte die Zielvorgaben seiner Mission und würde den Mailaccount aus Sicherheitsgründen bereits deaktiviert haben. Dragos löschte die Mail aus seinem Posteingang und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Draußen heulte immer noch der Wintersturm, und Dragos schloss die Augen und lauschte dem wütenden Toben mit ruhiger Befriedigung, denn er wusste nun, dass sich alle Elemente seines gigantischen Masterplanes endlich zusammenfügten.

Sein Name war Dragos, und schon bald würde jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf diesem Planeten, Stammesvampire wie Menschen, sich vor ihm als ihrem Herrn und König verbeugen.

Alles hatte sich verändert.

Das war der Gedanke, der Corinne unablässig durch den Kopf ging, seit sie und Hunter am folgenden Abend in Detroit angekommen waren.

Nach den Jahrzehnten ihrer Gefangenschaft in Dragos’ Labor fiel es ihr noch schwer, sich auf die unzähligen Veränderungen und neuen technischen Errungenschaften einzustellen – wie die Leute redeten und sich kleideten, wie sie wohnten, arbeiteten und sich fortbewegten. Seit ihrer Befreiung hatte Corinne das Gefühl, irgendwie auf eine andere Realitätsebene geraten zu sein, eine Fremde, verloren in einer seltsamen futuristischen Welt.

Aber nichts hatte sie so sehr erschüttert wie das Gefühl, als sie und Hunter in einem Wagen des Ordens vom Flughafen in die Innenstadt zum Dunklen Hafen ihrer Eltern gefahren waren. Die belebte Innenstadt, an die sie sich erinnerte, existierte nicht mehr. Das offene Land am Flussufer war nun völlig zugebaut – einige der Gebäude schick und modern, die Fenster der Hochhausbüros beleuchtet; andere standen offenbar seit langer Zeit leer, waren heruntergekommen und verfielen. Selbst auf der Hauptstraße waren nur wenige Leute zu Fuß unterwegs und schlurften hastig an den dunklen Korridoren des Zerfalls vorbei.

Selbst im Dunklen wirkten diese beiden extremen Gesichter von Detroit schockierend, schier unglaublich. Straßenzug auf Straßenzug sah aus, als hätte der Fortschritt über dem einen Grundstück gelächelt und auf das andere gespuckt.

Sie bemerkte gar nicht, wie besorgt sie war, bis Hunter die riesige schwarze Limousine vor einem vom Mondschein erhellten Anwesen parkte, dem Dunklen Hafen, den sie einst ihr Zuhause genannt hatte.

»Mein Gott«, flüsterte sie neben ihm im Wagen, überwältigt von einer Woge der Erleichterung. »Er ist immer noch da. Ich bin endlich zu Hause …«

Aber selbst der Dunkle Hafen wirkte anders als in ihrer Erinnerung. Nervös geworden, fummelte Corinne am Verschluss ihres engen Sicherheitsgurtes herum. Hunter hatte darauf bestanden, dass sie sich während der Fahrt anschnallte, und jetzt konnte sie es kaum erwarten, das unbequeme Ding loszuwerden. Sie beugte sich nach vorn und spähte aus dem dunkel getönten Beifahrerfenster. Ihr Atem entfuhr ihr als stockender Seufzer, als sie an dem schweren schmiedeeisernen Einfahrtstor und dem Einfassungszaun vorbeisah. Als sie zum letzten Mal zu Hause gewesen war, hatte es die noch nicht gegeben.

War das nur ein Zeichen dafür, dass die ganzen Stadt mittlerweile ein gefährliches Pflaster geworden war, oder hatte ihr unbezwingbarer Vater sich nach ihrem Verschwinden so gefährdet gefühlt, dass er sich mit dem Rest seiner Familie in einem eigenen Privatgefängnis verschanzt hatte? Was immer der Grund war, beim Anblick der hässlichen Barriere, die dieses einst so friedliche Anwesen nun umgab, zog sich ihr vor Schuldgefühlen und Trauer das Herz zusammen.

Hinter dem festungsartigen Tor, am Ende der langen, kopfsteingepflasterten Einfahrt, stand das stattliche Anwesen, ein Backsteinbau im klassizistischen Stil, und durch die zugezogenen Vorhänge vieler Fenster drang ein schwacher Lichtschein. Die hohen Eichen, die die Einfahrt säumten, waren in ihrer Abwesenheit alt und mächtig geworden, ihre winterlich nackten Äste wuchsen hoch über dem Boden aufeinander zu und bildeten einen schützenden Baldachin. Weiter vorn, auf halber Strecke des weitläufigen Rasens, der sich vor dem riesigen Haus erstreckte, war der Springbrunnen aus Kalkstein mit seinem Wasserbecken, an dem sie und ihre jüngere Adoptivschwester Charlotte als kleine Mädchen in den heißen Sommern immer gespielt hatten, inzwischen durch dekorative Felsbrocken und Formschnitthecken ersetzt worden, die jetzt mit Jutesäcken abgedeckt waren.

Wie riesig ihr das Grundstück damals als Kind vorgekommen war, und wie magisch diese abgeschiedene Welt.

Wie schrecklich, dass ihr das alles nur ein paar Jahre später völlig selbstverständlich geworden war. Als eigensinnige junge Frau hatte sie damals kaum erwarten können, von hier wegzukommen, und zwar so weit weg wie möglich.

Jetzt wollte sie wieder hinein, mit einer Sehnsucht, die an Verzweiflung grenzte.

Corinne hob die Finger an den Mund, ein kleines Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich wirklich wieder hier bin. Dass ich zu Hause bin.«

Impulsiv langte sie nach dem Türgriff und ignorierte das leise Knurren ihres stoischen Begleiters auf dem Fahrersitz. Corinne kletterte aus dem Wagen und ging ein paar Schritte auf das eiserne Einfahrtstor zu. Ein eisiger Windstoß fuhr über die verschneite Landschaft und wehte ihr ins Gesicht, sodass sie sich etwas tiefer in ihren dicken Wollmantel schmiegte.

Hinter ihr spürte sie plötzlich ein Hitzefeld, das sich ihr näherte, und wusste, dass Hunter ihr gefolgt war. Sie hatte nicht einmal gehört, dass er aus dem Wagen gestiegen war, so verstohlen bewegte er sich. Seine Stimme hinter ihr war leise und tief. »Du solltest im Wagen bleiben, bis ich dich sicher zur Tür gebracht habe.«

Corinne trat von ihm weg, ging zum geschlossenen Einfahrtstor und berührte die hohen Gitterstangen. »Weißt du, wie lange ich weg gewesen bin?«, murmelte sie. Hunter antwortete nicht, stand nur schweigend hinter ihr. Sie schloss die Finger um das kalte Eisen und stieß ein leises, freudloses Lachen aus. »Letzten Sommer waren es fünfundsiebzig Jahre. Kannst du dir das vorstellen? So viel von meinem Leben hat man mir gestohlen. Meine Familie da drüben in dem Haus … die denken alle, ich sei tot.«

Die Vorstellung tat ihr weh, was ihre Eltern und Geschwister nach ihrem Verschwinden durchgemacht haben mussten. Nach ihrer Entführung hatte Corinne sich Sorgen gemacht, wie ihre Familie wohl damit zurechtkam, und sich lange an die Hoffnung geklammert, dass man nach ihr suchen würde – dass ihre Familie nicht ruhen würde, bis sie sie gefunden hatte, besonders ihr Vater. Schließlich war Victor Bishop in der Vampirgesellschaft ein bedeutender Mann. Schon damals war er vermögend gewesen und hatte über gute Beziehungen verfügt. Er hatte alle Mittel besessen, also warum hatte er seine Stadt nicht auf den Kopf gestellt und jeden Stein umgedreht, bis er seine Tochter gefunden und nach Hause gebracht hatte?

Diese Frage hatte sie jede Stunde ihrer Gefangenschaft beschäftigt. Was sie damals noch nicht gewusst hatte, war, dass ihr Entführer Vorkehrungen getroffen hatte, um ihre Familie und alle, die sie kannten, davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr am Leben war. Brock, der in ihrer Kindheit, lange vor seiner Zeit als Ordenskrieger, ihr Bodyguard gewesen war, hatte sie nach ihrer Rettung beiseitegenommen und ihr alles erzählt, was er von ihrem Verschwinden wusste. Obwohl er sich große Mühe gegeben hatte, ihr die Fakten so schonend wie möglich beizubringen, waren die Details, die er ihr enthüllt hatte, entsetzlich.

»Ein paar Monate nach meiner Entführung wurde unweit von hier eine Frauenleiche aus dem Fluss gezogen«, sagte sie leise zu Hunter, mit Abscheu in der Stimme. »Sie war so alt wie ich, gleich groß und hatte die gleiche Figur. Jemand hatte ihr meine Sachen angezogen, das Kleid, das ich in der Nacht meiner Entführung getragen hatte. Und das war noch nicht alles. Ihre Leiche …«

»War verstümmelt worden«, beendete Hunter den Satz, als sie nicht weitersprechen konnte. Sie drehte sich fragend zu ihm um. Er sah sie nüchtern an. »Brock hat mir von deiner Entführung erzählt. Ich bin auf dem Laufenden darüber, wie die Leiche manipuliert wurde, um die Identität des Opfers zu vertuschen.«

»Manipuliert«, antwortete Corinne. Sie senkte ihr Kinn und runzelte die Stirn über ihrer rechten Hand mit dem Muttermal, das sie als Stammesgefährtin auswies. »Um meine Familie davon zu überzeugen, dass ich die Tote war, haben ihr der oder die Mörder Hände und Füße abgehackt. Sogar den Kopf.«

Ihr Magen hob sich beim Gedanken an die Grausamkeit – die abgrundtiefe Schlechtigkeit, die jemand besitzen musste, um einem anderen Menschen so etwas anzutun.

Aber natürlich waren die Dinge, die Dragos ihr und den anderen in seinem Labor eingekerkerten Stammesgefährtinnen angetan hatte, fast genauso abscheulich gewesen. Corinne schloss fest die Augen unter dem Ansturm der Erinnerungen, die jetzt wie Fledermäuse aus der Dunkelheit auf sie einstürmten: Nasskalte Betonzellen. Kalte Stahltische mit dicken Ledergurten, aus denen es kein Entkommen gab. Die ständigen Spritzen, Blut- und Gewebeproben und Untersuchungen. Endlose Schmerzen, Wut und absolute, bodenlose Hoffnungslosigkeit.

Das schreckliche, herzzerreißende Heulen der Wahnsinnigen und Sterbenden, und die anderen, die irgendwo dazwischen vor sich hindämmerten.

Und Blut.

So viel Blut – ihr eigenes und das anderer, mit dem sie und auch die anderen entführten Frauen regelmäßig zwangsgefüttert wurden, sodass sie jung und für Dragos’ perverse Zwecke langfristig einsetzbar blieben.

Corinne schauderte und schlang die Arme um die tiefe, kalte Leere, die sich in ihrem tiefsten Inneren ausbreitete. Es war ein dumpfer Schmerz, gegen den sie schon seit sehr langer Zeit ankämpfte und der in den Tagen seit ihrer Rettung nur noch weiter in ihr aufgebrochen war.

»Es ist kalt«, sagte ihr stoischer Begleiter aus Boston. »Du solltest dich wieder in den Wagen setzen, bis ich dich sicher im Haus abliefere.«

Sie nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck. Jetzt, da sie hier stand – jetzt, da der Augenblick, für den sie so lange gebetet hatte, endlich wahr wurde, wusste sie nicht, ob sie den Mut hatte, sich ihm zu stellen. »Sie denken alle, ich sei tot, Hunter. Diese ganze lange Zeit habe ich für sie nicht mehr existiert. Was, wenn sie mich vergessen haben? Wenn sie ohne mich glücklicher gewesen sind?« Ihre Zweifel drückten sie nieder. »Vielleicht hätte ich doch versuchen sollen, sie zu kontaktieren, bevor ich Boston verlassen habe. Vielleicht war es doch keine so gute Idee herzukommen.«

Sie drehte sich zu ihm um und hoffte, er würde ihr irgendwie Mut machen und sagen, dass ihre Ängste unbegründet waren. Sie wollte ihn sagen hören, dass ihr eben einfach nur die Nerven durchgingen – irgendetwas Tröstendes, wie Brock es zu ihr gesagt hätte, wenn er jetzt bei ihr gewesen wäre. Aber Hunters Miene war unergründlich, und seine goldenen Falkenaugen starrten sie unverwandt an. Corinne stieß einen leisen Seufzer aus. »Was würdest du tun, wenn das in diesem Haus da drüben deine Familie wäre, Hunter?«

Unter seinem schwarzen Ledermantel hob er eine massige Schulter. »Ich habe keine Familie.«

Er sagte das so nebenbei, als machte er nur eine Bemerkung darüber, dass es eben dunkel war. Als stellte er lediglich das Offensichtliche fest und wollte keine Nachfragen anregen, was aber nur dazu führte, dass sie mehr über ihn wissen wollte. Es fiel ihr schwer, sich ihn anders als diesen nüchternen, fast grimmigen Krieger vorzustellen, der da vor ihr stand. Es fiel ihr schwer, sich ihn mit einem runden Kindergesicht vorzustellen statt mit diesen scharfen Wangenknochen und dem unversöhnlichen, kantigen Kinn. Sie konnte sich ihn nicht ohne die schwarze Kampfmontur und das Arsenal von Klingen und Schusswaffen vorstellen, die in den Falten seines langen Mantels glänzten.

»Aber du musst doch Eltern haben«, drängte sie, neugierig geworden. »Du musst doch bei irgendjemandem aufgewachsen sein?«

»Es gibt niemanden.« Da sah er plötzlich an ihr vorbei, sein Kiefer spannte sich an, und seine goldenen Augen wurden schmal und hart. »Man hat uns bemerkt.«

Kaum hatte er das gesagt, gingen einer nach dem anderen die um das Anwesen montierten Scheinwerfer der Flutlichtanlage an und tauchten Hof und Zufahrtsweg in gleißendes Licht. Corinne erschrak, als jetzt vom Haus ein halbes Dutzend bewaffneter Stammesvampire so schnell auf sie und Hunter zugeschossen kam, dass sie ihre Bewegungen kaum wahrnehmen konnte.

Dieses Problem hatte Hunter nicht.

Er stellte sich sofort vor sie, drückte sie sanft, aber bestimmt mit dem Arm hinter sich und ging in Kampfposition. Er zog keine Waffe, als die Wächter ihres Vaters mit drohenden Blicken ans Tor gerast kamen, jeder einzelne der sechs Vampire ein großes schwarzes Gewehr im Anschlag, alle Läufe auf Hunters Brust gerichtet.

Corinne fiel auf, dass Hunters Anblick, selbst ohne Waffe in der Hand, die Wächter ihres Vaters zu überraschen schien. Jeder Angehörige seiner Spezies musste ihn sofort als Stammesvampir erkennen, und so argwöhnisch, wie sie jetzt seine schwarze Kampfmontur beäugten und seine tödliche Gelassenheit in sich aufnahmen, hatten sie ihn sofort als ein Mitglied des Ordens identifiziert.

»Runter mit den Waffen«, sagte Hunter, und seine entnervende Ruhe hatte nie tödlicher geklungen. »Ich habe nicht vor, jemanden zu verletzen.«

»Das ist Privatgelände«, stieß einer der Wächter hervor. »Ohne vorherige Ankündigung kommt niemand durch dieses Tor.«

Hunter legte den Kopf schief. »Ich sagte, runter mit den Waffen.«

Zwei von ihnen gehorchten instinktiv. Als auch ein dritter Anstalten machte, sein Gewehr zu senken, ertönte aus dem Headset an seinem Kragen ein scharfes Zischen, und aus dem Nichts erklang eine körperlose Männerstimme: »Was zum Teufel ist da draußen los, Mason? Sofort melden!«

»Oh mein Gott«, flüsterte Corinne. Diesen dröhnenden Bariton erkannte sie sofort, selbst wenn er so untypisch verärgert klang. Eine wilde Hoffnung durchströmte sie und zerstreute all ihre Ängste und Unsicherheit. Sie spähte hinter Hunter hervor und schrie ihre Erleichterung praktisch heraus. »Papa!«

Der Wachtrupp hätte nicht verblüffter sein können. Aber als sie versuchte, um Hunter herumzugehen, hob einer von ihnen den langen Lauf seines Gewehrs.

Im nächsten Sekundenbruchteil war Hunter am Tor. Verblüfft sah sie zu, wie der Krieger sich vor sie stellte wie ein lebender Schild aus Muskeln, Knochen und tödlicher Energie.

Sie konnte nicht sagen, wie es ihm so mühelos gelungen war, das Gewehr des Wächters zu packen, aber eben noch war die Mündung aus schwarzem Stahl auf sie gerichtet gewesen, und im nächsten Augenblick hatte Hunter den Lauf zwischen den Gitterstangen des Tors zu einem steilen Winkel verbogen. Er warf dem Rest der Männer ihres Vaters einen warnenden Blick zu, und nun wirkte keiner mehr versessen darauf, sich mit ihm anzulegen.

Wieder ertönte Victor Bishops Stimme über das Headset. »Sagt mir endlich jemand, was zur Hölle da los ist? Wer ist da draußen bei euch?«

Jetzt erkannte Corinne auch den Wächter namens Mason. Er hatte zum Haushalt der Bishops gehört, solange sie sich erinnern konnte, ein freundlicher, aber ernster Stammesvampir, der ein Freund von Brock gewesen war und Jazz fast so sehr geliebt hatte wie sie. Damals hatte er sein rotblondes Haar elegant mit Pomade zurückgekämmt, jetzt war es kurz geschnitten wie eine hellorange Kappe. Offensichtlich traute er seinen Augen kaum.

»Miss Corinne?«, fragte er zögernd und starrte sie ungläubig an. »Aber … wie ist das möglich? Herr im Himmel … sind das … sind Sie’s wirklich?«

Als sie stumm nickte, breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus. Der Wächter flüsterte einen Fluch, packte das Headset an seinem Mantelkragen und zog es näher an den Mund. »Mr Bishop, Sir? Mason hier. Wir sind unten am Einfahrtstor, und, äh … Sir, Sie werden es nicht glauben, aber es ist gerade ein Wunder geschehen.«