14

Sie landeten in einem kleinen Restaurant einige Straßen entfernt vom Hotel, abseits vom Touristenverkehr.

Hunter fand nicht, dass es viel hermachte, es war ein dunkles Kellerlokal mit nur etwa zwanzig Tischen und einer kleinen, grob gezimmerten Bühne mit winziger Tanzfläche. Das Trio auf der Bühne spielte ein langsames, sinnliches Stück, die Sängerin pausierte und nickte dem Pianisten und dem anderen, der gerade eine extrem traurige Sequenz auf seiner kurzen Messingtrompete spielte, anerkennend zu.

In der Luft mischten sich die Gerüche von fettigem Essen und exotischen Gewürzen, dem Rauch vom Grill, von Parfüm und von sehr viel mehr menschlichen Körpern, als ihm lieb war. Aber Corinne schien sich hier ausgesprochen wohlzufühlen. Sobald sie auf der Straße die Musik, die aus dem Lokal drang, gehört hatte, war sie schnurstracks auf den Laden zugegangen und hatte darauf bestanden, dort zu essen.

Hunter war es einerlei, wohin sie gingen. Da es ja ihr Körper war, der Nahrung brauchte, sollte ruhig sie entscheiden.

Was seine eigenen Bedürfnisse anging, war es einige Tage her, dass er zum letzten Mal Nahrung zu sich genommen hatte. Er war schon länger ohne ausgekommen, aber es war unklug, seinen Gen-Eins-Stoffwechsel unnötig zu belasten. Er spürte den Durst in seinen Adern aufflammen, als er mit Corinne an einem Tisch in der Ecke saß, den Rücken zur Wand, und den Blick über die Menschenmenge schweifen ließ, die das alte Kellerlokal bevölkerte.

Er war nicht der einzige Stammesvampir, der eben das Angebot an Homo sapiens in Augenschein nahm. Er hatte die beiden Vampire schon entdeckt, als er und Corinne hereingekommen waren. Sie stellten keine Bedrohung dar, es waren nur Zivilisten aus den Dunklen Häfen, die müßig potenzielle Blutwirte begutachteten, genau wie er auch. Sobald sie bemerkten, dass er sie vom anderen Ende des Raumes aus beobachtete, verzogen sie sich in eine dunkle Ecke wie ein paar kleine Fische vor dem Hai.

Als die jungen Männer verschwunden waren, sah er über den kleinen Tisch zu Corinne hinüber.

»Ist dein Essen in Ordnung?«, fragte er.

»Es ist einfach Wahnsinn.« Sie stellte ihr Glas hin, das ein klares alkoholisches Mischgetränk auf Eiswürfeln enthielt, garniert mit einem dicken Limettenschnitz. »Alles hier ist, oder vielmehr war, einfach köstlich.«

Er hätte sich die Frage eigentlich sparen können, so schnell und so begeistert, wie sie über ihren Fisch in Mandelkruste mit gedünstetem Gemüse hergefallen war. Und davor hatte sie schon eine Schale Suppe und zwei der knusprigen Brötchen aus dem Korb auf dem Tisch verdrückt.

Doch obwohl sie das Essen sichtlich genossen hatte, schien sie stiller und nachdenklicher zu werden, je länger sie dort saßen. Er sah zu, wie sie mit der Fingerspitze über den Rand ihres Cocktailglases fuhr, und als sich über dem kerzenerleuchteten Tisch ihre Blicke trafen, fand er sich in ihren exotischen dunklen Augen gefangen. Im Schein der Kerzenflamme spielte ihre Farbe von ihrem normalen Blaugrün zu dunklem Waldgrün. In Corinne Bishops Augen lag innere Qual, ihre schlimmsten Geheimnisse waren tief hinter einem undurchdringlichen Dickicht von changierendem Grün verborgen.

Er dachte nicht, dass sie ihm erzählen würde, was ihr gerade durch den Kopf ging. Und obwohl er merkte, dass er wirklich neugierig wurde, hielt er es nicht für angemessen, sie zu fragen. Stattdessen saß er schweigend da, während sie die Augen schloss und sich im Rhythmus der Musik wiegte, die von der Bühne herüberdrang. Über dem Stimmenlärm und dem Tellergeklapper hörte er, wie Corinne das traurige Lied der Sängerin leise mitsummte.

Nach einem langen Augenblick öffnete sie die Augen und merkte, dass er sie angesehen hatte. »Das ist ein alter Bessie- Smith-Song«, sagte sie und sah ihn erwartungsvoll an, als müsste er den Namen kennen. »Einer ihrer besten.«

Er lauschte und versuchte zu verstehen, was Corinne so daran gefiel. Der Song klang gar nicht übel, sehr relaxt, aber der Text kam ihm banal vor, eigentlich war das völliger Nonsens. Er zuckte die Schultern. »Schon komisch, worüber Menschen alles Songs schreiben. Diese Sängerin besingt ihr geliebtes neues Küchengerät.«

Corinne war gerade dabei, den letzten Schluck aus ihrem Glas zu nehmen. Sie starrte ihn einen Augenblick an, und dann lächelte sie. »Tut sie nicht.«

»Tut sie doch«, konterte er, ganz sicher, dass er den Text nicht falsch verstanden hatte. Jetzt musterte er die Sängerin und nickte Corinne bestätigend zu, als das Lied wieder an die Stelle kam. »Genau da. Sie sagt, als ihr Mann sie verlassen hat, ist sie rausgegangen und hat sich die beste Kaffeemühle gekauft, die sie finden konnte. Und das sogar mehrmals.« Er runzelte die Stirn, fand einfach keinen logischen Sinn in diesem Text. »Und jetzt ist sie auf einmal verschossen in einen Tiefseetaucher.«

Corinnes Lächeln wurde breiter, und dann lachte sie laut heraus. »Ich kenne den Text, aber darum geht es hier nicht. Ganz und gar nicht.« Ihre Augen blitzten immer noch belustigt, und nun sah sie ihn mit schief gelegtem Kopf an, musterte ihn neugierig. »Was magst du eigentlich für Musik, Hunter?«

Er war nicht sicher, was er antworten sollte. Die anderen Krieger im Hauptquartier hatten alles Mögliche gehört, aber er hatte sich nicht viel daraus gemacht. Über Musik hatte er noch nie nachgedacht, nie innegehalten und überlegt, ob ihm etwas gefiel oder nicht. Wozu brauchte man schon Musik?

Jetzt sah er die großartige Corinne Bishop an, die nur um Armeslänge entfernt von ihm saß, in Kerzenschein getaucht, und ihn mit ihren schönen Augen anlächelte. Er schluckte heftig, erschüttert, wie wundervoll sie war.

»Ich mag … das hier«, antwortete er und konnte seine Augen nicht mehr von ihr losreißen.

Schließlich war sie es, die den Blick senkte. Sie nahm sich die gestärkte weiße Serviette vom Schoß und tupfte sich die Mundwinkel ab. »Es ist schon so lange her, dass ich so etwas Köstliches gegessen habe. Und natürlich der Blues. Früher habe ich diese Musik ständig gehört … bevor …«

»Bevor man dich entführt hat«, sagte er und sah, wie ihre Miene einen nachdenklichen, gequälten Ausdruck annahm. Er wusste, dass sie sehr jung gewesen war, als Dragos sie entführt hatte. Damals musste sie sehr lebhaft und unternehmungslustig gewesen sein und viel gelacht haben, und Spuren davon konnte er auch jetzt noch in ihr sehen, als sie sich unbewusst zu dem lebhafteren Stück bewegte, das jetzt von der Bühne erklang, und unter dem Tisch mit dem Fuß leise den Takt mitwippte. »Brock hat erzählt, dass er dich damals in Detroit immer in Tanzclubs begleitet hat.«

»Begleitet hat?« Als Corinne den Kopf hob, lächelte sie ironisch in sich hinein. »Wenn er dir das erzählt hat, war er nur höflich. Ich war ein unausstehlicher Plagegeist, als Brock mein Bodyguard war. Damals habe ich ihn zu jedem Jazzclub im Umkreis von achtzig Kilometern geschleppt. Er war gar nicht dafür, aber wenn er sich geweigert hätte, wäre ich irgendwie auf eigene Faust losgezogen, und das wusste er. Es muss die Hölle für ihn gewesen sein, auf mich aufpassen zu müssen.«

Hunter schüttelte den Kopf. »Er hatte dich gern. Tut er immer noch.«

Sie lächelte. »Es freut mich so für ihn, dass er in Jenna eine Gefährtin gefunden hat und glücklich ist. Brock hat im Leben nur das Allerbeste verdient.«

Sie verstummte, als die Kellnerin kam, um das Geschirr und das leere Glas abzuräumen. »Darf’s für dich noch’n Wodka Gimlet sein, Schätzchen?«

Corinne winkte ab. »Lieber nicht. Mir ist der eine schon zu Kopf gestiegen.«

Auch Hunter lehnte ab; sein Bier, das er bei ihrer Ankunft nur bestellt hatte, um den Schein zu wahren, stand unberührt da. Als die Bedienung wieder gegangen war, sah Corinne im flackernden Kerzenlicht zu ihm hinüber. Ihre Pupillen waren dunkle Teiche, hypnotisierend und bodenlos. Als sie redete, war ihre Stimme rauchig und leise, irgendwie zögerlich. »Und was ist mit dir, Hunter? Wie warst du so als Teenager? Irgendwie glaube ich nicht, dass du der wilde, impulsive Typ gewesen bist.«

»War ich auch nicht«, stimmte er zu und dachte an seine trostlosen Anfänge zurück. Er war schon ernst und diszipliniert gewesen, solange er denken konnte. Das musste er auch sein; in einem Bereich seiner Erziehung zu versagen hätte seinen Tod bedeutet.

Noch immer sah sie ihn an, versuchte noch immer, sich ein Bild von ihm zu machen. »Du hast mal gesagt, du hättest keine Familie, aber hast du immer in Boston gelebt?«

»Nein«, antwortete er. »Erst seit letzten Sommer, als ich dem Orden beigetreten bin.«

»Ach.« Sie schien überrascht, wirkte befremdet. »Du bist erst seit Kurzem bei ihnen.« Wieder sah sie auf den Tisch herab und wischte einige Brotkrümel zur Seite. »Wie lange hast du für Dragos gearbeitet?«

Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein.

»In dieser ersten Nacht, im Dunklen Hafen von Claire und Andreas«, erklärte sie. »Jemand hat gehört, wie sie über dich geredet haben. Dass du früher für Dragos gearbeitet hast.« Sie beobachtete ihn genau, vorsichtig. »Ist das wahr?«

»Ja.« Sie wusste es ja sowieso schon. Warum hätte er sich jetzt also am liebsten die Zunge abgebissen? Warum hatte er plötzlich den Impuls, ihr zu versichern, dass er keine Gefahr für sie darstellte, auch wenn er Dragos einmal gedient hatte?

Das konnte er ihr nicht sagen. Denn in seinem tiefsten Inneren fragte er sich, ob es auch stimmte.

War er wirklich keine Gefahr für sie?

Miras Vision schien das Gegenteil zu besagen. Seit sie den Dunklen Hafen von Detroit verlassen hatten, hatte er sich einzureden versucht, dass sich die Vision durch seinen Kampf mit Victor Bishop bereits erfüllt hätte – wenn auch verändert und mit einem anderen Ergebnis als prophezeit.

Aber etwas daran stimmte nicht.

Die Visionen der kleinen Seherin waren bisher immer eingetroffen. Er wäre dumm zu denken, dass es jetzt anders sein könnte, nur weil er plötzlich von der schönen Corinne fasziniert war, die so viel Schlimmes durchgemacht hatte.

Er hörte, wie sie schnell, aber leise den Atem ausstieß, als sie seine ehrliche Antwort in sich aufnahm. Statt sich auf dem kleinen Tisch nach vorne zu lehnen, bemerkte er, dass sie sich jetzt langsam vor ihm zurückzog, bis sie mit dem Rücken an der Stuhllehne angekommen war. Einen langen Augenblick schwieg sie und starrte durch das dämmrige Licht und den leichten Dunst, der über dem Raum hing.

»Wie lange hast du ihm gedient?«, fragte sie, jetzt auf der Hut.

»So lange ich mich erinnern kann.«

»Aber jetzt nicht mehr«, sagte sie und musterte sein Gesicht. Vermutlich suchte sie darin nach einem Zeichen, dass sie ihm vertrauen konnte.

Er hielt sein Gesicht absichtlich neutral und versuchte zu entscheiden, ob womöglich sie etwas vor ihm zu verbergen hatte. »Jetzt tue ich für den Orden, was ich früher für Dragos getan habe.«

Ihre Augen hielten seinem Blick stand, als es ihr aufging. »Du tötest für ihn«, sagte sie düster.

Hunter nickte zustimmend. »Ich will, dass Dragos ausgelöscht wird und alle, die ihm dienen, und wenn ich ihn und jeden seiner Anhänger einzeln jagen und zur Strecke bringen muss.«

Er stellte nur eine Tatsache fest, aber jetzt sah Corinne ihn mit einem seltsam weichen Gesichtsausdruck an, und in ihrem Blick lag eine Frage. »Was hat Dragos dir angetan, Hunter?«

Zu seiner eigenen Verblüffung merkte Hunter, dass er die Worte nicht aussprechen konnte. Er hatte nie ein Problem damit gehabt, von der Isolation und dem gnadenlosen Drill seiner Kindheit und Jugend zu erzählen. Weder war er sich selbst wichtig genug gewesen, noch hatten andere ihm so viel bedeutet, um ihnen gegenüber auch nur einen Anflug von Demütigung dafür zu spüren, dass er wie ein Tier gehalten und aufgezogen worden war – schlimmer noch als ein Tier.

Als Gen Eins hatte er sich nie seiner Abstammung geschämt – er war gezeugt von einem Ältesten, dem letzten Außerirdischen, der zusammen mit seinen Brüdern die ganze Vampirrasse auf Erden gezeugt hatte. Dragos hatte den mächtigen Vampir jahrzehntelang in einem Versteck unter Drogen gehalten und in seinem Labor eingekerkert. Und er hatte die wilde Kreatur auf zahllose gefangene Stammesgefährtinnen losgelassen, so auch auf Corinne und all die übrigen kürzlich befreiten Frauen.

Und auch auf die unbekannte Stammesgefährtin, die Hunter in diesen stinkenden Zellen geboren hatte.

Er hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war, hatte keinerlei Erinnerung an sie. Aber als er jetzt Corinne Bishop ansah, auf deren zartem Rücken er diese schrecklichen Folterspuren gesehen hatte, spürte Hunter eine tiefe Scham und hätte am liebsten geleugnet, jemals mit Dragos oder den Schrecken seines Labors zu tun gehabt zu haben.

Ein Muskel zuckte in seiner Wange. »Mach dir keine Gedanken, was Dragos mit mir gemacht hat«, antwortete er ihr. »Es war nicht schlimmer als das, was er dir angetan hat.«

Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. Selbst im Dunkeln konnte er sehen, wie ihr die Röte in die Wange stieg. Zweifellos wusste sie, dass er ihre Narben meinte. Von denen er nur wissen konnte, weil er sie vorhin im Badezimmer beobachtet hatte.

Er rechnete damit, dass sie wütend werden würde; das war wohl ihr gutes Recht. Er würde nicht leugnen, dass er hingeschaut hatte. Wahrscheinlich hätte er auch zugegeben, dass ihm das Gesehene gefallen hatte. Die ganze Nacht lang hatte er dagegen angekämpft, sie sich nackt in der Badewanne des Hotelzimmers vorzustellen. Die Erinnerung kam jetzt nur umso lebhafter zurück und hielt sich hartnäckig trotz seiner Anstrengungen, sie aus seinem Kopf zu verbannen.

Was ihre Narben anging, die waren schrecklich, minderten aber ihre Schönheit nicht. Jedenfalls nicht für ihn.

Es verblüffte ihn, wie versucht er war, ihr das zu sagen, ob sie es nun hören wollte oder nicht.

Corinne starrte ihn lange an, dann schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich gehe mal für kleine Mädchen«, murmelte sie.

Er stand mit ihr auf und blickte über die Menge. »Ich komme mit.«

»Aufs Frauenklo?« Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«

Obwohl er ihr am liebsten durchs ganze Restaurant gefolgt wäre, blieb ihm nichts anderes übrig, als untätig am Tisch zu warten. Er sah ihr nach, wie sie auf das Neonschild mit der Aufschrift Femmes zuging, dann verschwand sie durch die dunkle Schwingtür.

Corinne blieb nur eine oder zwei Minuten auf der Toilette, den Rücken an die Wand vor dem schartigen Porzellanwaschbecken und dem abgeplatzten Spiegel gelehnt. Nur so lange sie brauchte, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Gedanken zu sammeln, so gut sie konnte. Der eine Cocktail zum Abendessen war ihr direkt in den Kopf gestiegen. Warum sonst hätte sie mit Hunter am Tisch gesessen, über Musik geredet und in Erinnerungen an die alten Zeiten geschwelgt, statt ihn zu fragen, was er und der Orden inzwischen über Henry Vachon herausbekommen hatten?

Wenn Hunter ihre Narben nicht zur Sprache gebracht und sie so daran erinnert hätte, dass er sie und noch sehr viel mehr im Hotel gesehen hatte, würde sie jetzt vielleicht immer noch dort sitzen und sich in den einfachen Freuden von gutem Essen und Trinken verlieren, und an die Musik, die sie als Mädchen so sehr geliebt hatte. Sogar die Gesellschaft ihres steifen Begleiters hatte sie genossen, was nur bestätigte, wie verheerend sich das bisschen Alkohol bei ihr ausgewirkt hatte.

Sie trat aus der Toilette wieder in den verrauchten höhlenartigen Gastraum. Ohne die stützende Wand im Rücken war ihr leicht schwindlig, und sie war etwas unsicher auf den Beinen, als sie langsam auf die kleine Combo und die volle Tanzfläche zuging.

Corinne stand am Rand des abgetretenen Tanzparketts und beobachtete, wie sich die Paare eng umschlungen im Kerzenlicht zu dem langsamen Stück bewegten. Sie lächelte wehmütig und musste grinsen, als sie den schwülen, herausfordernden Liedtext erkannte.

Wieder ein Bessie-Smith-Song. Wieder ein Flashback in ihre Vergangenheit, zurück in eine Zeit, als sie unschuldig gewesen war und noch nicht gewusst hatte, wie grausam und hässlich das Leben sein konnte.

Sie schloss die Augen und spürte, wie die vertraute alte Musik sie wie eine Welle überströmte, sie in ihren sicheren Hafen lockte. Es war nur eine Illusion, das wusste sie. Sie konnte ihrer Vergangenheit nicht entfliehen, auch wenn sie sich noch so sehr danach sehnte, die Erinnerungen an alles auszuradieren, was sie durchgemacht hatte. Sie konnte nicht ignorieren, wo sie gewesen war, was sie verloren hatte … was für sie immer noch zu tun blieb.

Das wusste sie alles, aber als die Stimme der Sängerin sie am Rand der Tanzfläche einlullte, konnte sie ihrem überwältigenden Sog nicht widerstehen. Corinne wiegte sich langsam im Takt der Musik. Nur für eine Minute, ein kleiner Luxus, den sie voll auskostete. Sie schloss die Augen und ließ sich einfach treiben.

Als sie einen Moment später die Augen öffnete, stand Hunter direkt vor ihr.

Er sagte nichts, überragte sie nur stumm, eine Wand von Muskeln und dunkler Energie, und sie spürte die Hitze seiner Präsenz über die wenigen Zentimeter, die sie voneinander trennten. Sein wie gemeißelt wirkendes, gut aussehendes Gesicht war so unergründlich wie immer, aber in seinen Augen glühte ein schwelendes Feuer.

Es war derselbe Blick, den sie im Hotel in seinen Augen gesehen hatte, nur war da jetzt keine Tür mehr zwischen ihnen, die sie schließen, kein Ort mehr, wo sie sich vor dem erhitzten Blick dieses gefährlichen, tödlichen Mannes verstecken konnte. Aber es war nicht Angst, die jetzt durch ihre Adern strömte, als Hunter sie so ansah. Es war etwas völlig anderes.

In diesem Augenblick sprang zwischen ihnen ein elektrischer Funke über, unerwartet und stark. Nur so konnte sie erklären, dass sie auf einmal die Hände nach ihm ausstreckte und ihre Handflächen auf seinen breiten Schultern zu liegen kamen. Nur so konnte sie den Impuls verstehen, der sie dazu brachte, die Wange an seine starke Brust zu legen und zu flüstern: »Tanz mit mir, Hunter. Nur einen Moment.«

Sie hielt sich an ihm fest und wiegte sich langsam zu Bessies Lied, das Ohr an Hunters dröhnendes Herz gepresst. Er tanzte nicht, aber das machte ihr nichts aus. Seine Hitze umgab sie und gab ihr das Gefühl, sicher und geborgen zu sein, auch wenn er wahrscheinlich die gefährlichste Person im ganzen Raum war.

Nach einem langen Augenblick legte er die Arme um sie, seine großen Hände legten sich leicht und zögerlich auf ihr Kreuz. Er bewegte sich steif, fast unbeholfen. Jetzt konnte sie ihn gar nicht mehr atmen hören, nur noch seinen Herzschlag, der immer lauter wurde, so intensiv, dass er fast jedes andere Geräusch übertönte.

Sie hob den Kopf und sah zu ihm auf, die Hände immer noch auf seinen mächtigen Schultern. Seine goldenen Augen sprühten bernsteinfarbene Lichtfunken, seine Pupillen hatten sich zu katzenartigen Schlitzen zusammengezogen. Er strahlte Verlangen aus, unverkennbar und heiß. Sie wich einen zögernden Schritt vor ihm zurück, brachte etwas Distanz zwischen sie, obwohl plötzlich auch ihr eigener Puls losraste.

Vor Begehren.

Die Intensität dieses Gefühls verblüffte sie. Verlangen war ihr fremd geworden. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, dachte sie, dass sie sich nie wieder nach der Berührung eines Mannes sehnen würde. Aber das tat sie jetzt. So unglaublich und so dumm es auch war, in diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von diesem steinernen, tödlichen Krieger berührt zu werden.

Sie zwang sich, einen weiteren Schritt zurückzuweichen. »Danke für den Tanz«, murmelte sie, verwirrt angesichts der Hitzespirale, die so plötzlich in ihr aufgestiegen war. »Danke für alles. Dass du mich heute Abend hierhergebracht hast. Ich dachte, ich hätte längst vergessen, wie es sich anfühlt … normal zu sein.« Sie sah zu Boden, fort von der sengenden Hitze seiner Augen. »Ich hatte schon gedacht, ich könnte … überhaupt nichts mehr fühlen.«

Als Antwort berührte er sie leicht, aber unnachgiebig unter ihrem Kinn. Er hob ihr Gesicht mit seinen Fingerspitzen an, bis sie sich wieder in die Augen sahen. Er senkte den Kopf.

Und dann küsste er sie.

Sanft und gemächlich streifte er ihre Lippen mit seinen. Er küsste sie fast zaghaft, als wüsste er nicht, wie er sich mehr nehmen sollte, als sie ihm freiwillig geben würde. So berauschend sein Mund sich auf ihrem anfühlte, es war auch liebevoll, das erste Mal, dass jemand sie so vorsichtig und voller Zärtlichkeit berührt hatte. Es verblüffte sie, dass ein so beeindruckender Mann wie Hunter solche Geduld und Selbstbeherrschung besitzen konnte.

Leicht fiel es ihm nicht. Das sah sie schon im nächsten Augenblick, als sich ihre Lippen voneinander lösten und sie in seine goldenen Augen aufsah, die sich transformiert hatten und sie mit ihrer bernsteinfarbenen Hitze versengten. Er hatte den Kopf tief gesenkt, sein Mund war ganz nah bei ihrem. Die Spitzen seiner Fänge glänzten weiß hinter seiner Oberlippe, und seine Dermaglyphen, die sich in eleganten Bögen und Schnörkeln seitlich über seinen Hals und um seinen Nacken zogen, füllten sich mit Farbe.

Er wollte sie.

Der Gedanke hätte sie eigentlich zu Tode ängstigen sollen. Stattdessen schmiegte sie sich enger an ihn, sah zu ihm auf und sehnte sich gegen alle Vernunft danach, dass er sie mit seinem sinnlichen Mund noch einmal küsste. Seine Hände zitterten auf ihrem Kreuz, wo er sie nach ihrem kurzen Tanz immer noch hielt. Als er eine Hand hob und ihr die Wange streichelte, war seine Berührung federleicht und trotz der rauen Schwielen seiner Waffenhand so sanft wie sein Kuss.

Corinne stieß den Atem aus, als er mit dem Daumenballen über ihre Unterlippe strich. Er hob ihr Kinn mit den Fingerknöcheln und senkte wieder den Kopf zu ihr …

Und dann erstarrte er.

Sein Körper spannte sich schlagartig an – er schaltete auf Kriegermodus um, kalt und kampfbereit, und blickte wachsam über die Menge. »Wir haben ein Problem«, sagte er. »Hier ist es nicht sicher. Ich muss dich hier rausbringen.«

»Was ist los, Hunter?« Sie versuchte, seinem Blick zu folgen, aber er war über einen Kopf größer als sie. »Was siehst du?«

»Vampire«, sagte er leise. »Eine ganze Gruppe kommt eben aus dem vorderen Teil des Restaurants herein. Es ist ein Gen Eins dabei. Einer von Dragos’ Killern.«

Corinnes Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. »Bist du sicher?«

»Absolut.«

Seine Antwort war so ernst, dass sie mühsam nach Atem rang. »Siehst du sie immer noch? Was machen sie?«

»Sie durchsuchen die Menge.« Seine Hand suchte ihre und schloss sich fest um sie. »Ich schätze, die suchen uns.«

Er zog sie tiefer in die Menge auf der Tanzfläche, schlängelte sich mit ihr zwischen den selbstvergessen tanzenden Paaren hindurch und ließ dabei den Eingangsbereich keine Sekunde aus den Augen.

»Warum sollten die uns suchen?«, fragte sie, als sie neben ihm hereilte und in ihrer Brust die Panik ihre dunklen Schwingen entfaltete. »Woher kann Dragos überhaupt wissen, dass wir hier in New Orleans sind?«

»Jemand wird ihm gesagt haben, wo er suchen soll«, antwortete Hunter knapp. »Jemand, den ich hätte töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«

Victor Bishop.

Oh Gott. Er hatte sie schon wieder verraten.

Wie dumm sie doch gewesen war zu denken, dass er es nicht tun würde. Und noch schlimmer, das alles war ihre eigene Schuld – sie hatte Hunter überredet, ihn zu verschonen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass dieser dumme Fehler sie beide nicht das Leben kosten würde.

Ihr war ganz elend bei diesem Gedanken. Voller Reue und wütend auf sich selbst hielt sich Corinne an Hunters Hand fest, als er sie durch die Menge in den dunklen hinteren Teil des Lokals zog.