KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG

Meine Zeilen dürften dem Leser gezeigt haben, dass es innerhalb der Organisation, die man als Kinder Echnatons bezeichnet, mehrere Gruppierungen gibt. So unterscheidet man zwischen den sogenannten Lämmern, Anhängern einer friedlichen Koexistenz, und den Wölfen, die sich geschworen haben, ihre Waffen erst niederzulegen, wenn der letzte Vampir von unserer Welt getilgt wurde. Dass ich mich der zweiten Gruppierung verbunden fühle, dürfte den Leser nicht wundern, und doch glaube ich, dass meine Überzeugungen der Objektivität meines Werkes nicht geschadet haben.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

»Franz!«

Sissi beobachtete, wie er über die Reling sprang, und schrie. Nur Sekunden später verschwand die Macht, die sie zu Boden gedrückt hatte. Erschöpft blieb Sissi liegen. Ihre Hand pochte im Rhythmus ihres Herzschlags.

Hinter ihr standen die beiden Männer auf. Rudi betrachtete die Karten in seiner Hand, als wisse er nicht, wie sie dort hingekommen waren.

Alfons kratzte sich am Kopf. »Dat klingt jetz viellleisch beklopp, ävver wor hä jrad einer?«

Sissi zwang sich auf die Beine. Sie verdrängte die Sorge um Franz-Josef, den Schmerz in ihrer Hand, alles außer dem Dom vor ihr. Sie zeigte darauf.

»Alfons!« Mehr brachte sie nicht heraus.

Er fuhr herum. »Scheiße!« Im nächsten Moment stolperte er bereits über den Metallzylinder am Boden. »Wat is dat dann?«

»Fass ihn nicht an. Er ist gefährlich.«

Rudi begann Eimer und Sandsäcke aus dem Ballon zu werfen, Sissi öffnete den Schrankkoffer, schnallte sich ihr Katana um und warf den leeren Koffer über Bord. Währenddessen schaufelte Alfons den Sand aus den erloschenen Kohlefeuern.

Der Ballon ging immer tiefer. Schon ragte die Turmspitze des Doms über ihm auf, die breite steinerne Front war direkt vor ihm. Sissi sah die in den Stein gehauenen Dämonenfratzen über dem Eingang. Sie schienen sie zu verhöhnen.

Unter ihnen kreischten Menschen.

»Dat reischt nit!«, schrie Alfons.

Sissi schluckte. Der Metallzylinder neben ihr durfte nicht platzen, egal, was geschah. Franz-Josef hatte gehandelt, nun war sie an der Reihe. Sie lief zur Reling, nahm Anlauf und … wurde an der Lederschnur ihres Katana zurückgerissen. Sie stolperte, sah auf und blickte in Rudis Gesicht.

»Is nit so schlimm«, sagte er ruhig und sprang.

Der Ballon stieg. Sissi sah die Säulen und Kirchenfenster, die rasch an ihr vorbeizogen. Alfons stocherte in den Kohlefeuern, hustete und fluchte.

Sissi sprang auf, wurde aber in der nächsten Sekunde zu Boden geworfen, als ein Schlag den Korb wie ein Hammer traf.

Der Metallzylinder hüpfte in seiner Halterung. Sissi hielt den Atem an und stieß ihn dann langsam wieder aus. Unter ihr knirschte es. Der Korb wurde über das spitze Dach des Doms gezogen, rutschte an seiner Seite entlang und drehte sich.

Sissi hörte Stricke reißen. Verzweifelt klammerte sie sich an der Reling fest. Die ständigen Drehungen drohten sie aus dem Korb zu schleudern.

»Rudi!«, schrie Alfons. Er hielt sich mit beiden Händen an einem Strick fest. »Wir …« Erst jetzt schien er zu bemerken, dass er und Sissi allein waren. Seine Schultern sackten einen Lidschlag lang nach unten, dann fing er sich wieder.

Er wollte etwas sagen, aber das entsetzlich laute Geräusch, mit dem die Stoffhülle aufriss, unterbrach ihn. Luft entwich mit einem beinah menschlich klingenden Seufzen. Der Korb begann über das Dach zu rutschen, schlitterte auf eisigen Ziegeln dem Rand entgegen. Sissi sah den Abgrund kommen. Sie wollte nicht schreien, aber sie tat es trotzdem.

Dann glitt der Korb auch schon über den Rand. Eine steinerne Spitze bohrte sich nur Zentimeter neben Sissi durch die geflochtene Wand. Es klirrte, als eine zweite neben dem Metallzylinder aus dem Boden schoss.

Mit einem Ruck blieb der Korb hängen. Sissi verlor den Halt und stürzte. Neben ihr stöhnte Alfons, dann hörte sie nur noch das Knarren der Seile. Der Metallzylinder saß sicher in seiner Halterung. Sissi atmete auf.

Sie rappelte sich hoch und blickte über den Rand des Korbs. Keine fünf Meter trennten sie mehr vom Boden. Die Schneeverwehungen, die der Wind gegen den Dom gedrückt hatte, reichten fast bis zu ihr herauf.

Sissi drehte sich zu Alfons um. »Es wird gleich jemand kommen. Sagen Sie ihnen, dass der Metallröhre nichts passieren darf, sonst sind wir alle tot.«

»Wat?«

Sie sprang. Der Schnee dämpfte ihren Sturz. Prustend und spuckend kam sie auf und kämpfte sich durch den Schnee bis zum Boden hinunter. Menschen wollten ihr helfen, aber sie schüttelte sie ab, lief stattdessen über den Platz und sah sich suchend um.

Sie fand ihn in einer Gasse. Er lag auf dem zerquetschten Körper eines wilden Vampirs und sah sie aus Augen, die in schwarzem Blut schwammen, an. Seine Beine waren unnatürlich gekrümmt, eine dunkle Pfütze schmolz den Schnee unter ihm.

Sissi ging in die Knie. »Franz …«, begann sie.

»Er ist noch in ihm«, flüsterte er.

Sie verstand erst, was er meinte, als er es wiederholte.

»Ich war zu schnell. Er ist noch in ihm.«

Sissi sah dem wilden Vampir ins Gesicht. Seine Haut wurde bereits zu Pergament, doch seine Augen loderten so hell, dass Sissi den Kopf abwenden musste.

»Wir kümmern uns später um ihn. Erst …«

»Nein, jetzt. Tu es jetzt.«

Seine Worte waren so eindringlich, dass sie nicht widersprach. Sie zog das Katana, drehte es in beiden Händen und stach zu.

Die Klinge glitt vom Hals des Vampirs ab und bohrte sich in den Stein. Klirrend und Funken sprühend zerbrach sie.

»Das wird nicht ganz einfach«, meinte Sissi.

Aus den Augenwinkeln sah sie Menschen in die Gasse laufen. Dass jemand vom Himmel gefallen war, konnte nicht unbemerkt geblieben sein.

Sissi beugte sich zu Franz-Josef hinunter. »Du brauchst Hilfe. Alles andere ist unwichtig.«

Er antwortete nicht. Seine Haut war so weiß, dass sie durchscheinend wirkte.

»Lass mich dir helfen.«

»Nein.« Er hustete. Schwarzes Blut quoll aus seinem Mund.

Sissi zog den Ärmel ihrer Jacke hoch und führte das gebrochene Katana mit einem kurzen Ruck über ihren Unterarm.

Einer der Menschen, die um sie herumstanden, stöhnte. Ein Mädchen fragte: »Papa, was macht die Frau da?«

Sissi beachtete niemanden, nur Franz-Josef. Sie hielt den Arm über sein Gesicht. Blut tropfte auf seine Haut. »Trink.«

»Das ist falsch.« Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum noch verstand. Sein Körper knisterte wie Papier. »Wir finden jemand anderes.«

Sie presste ihren Arm auf seine Lippen. »Trink!«, schrie sie ihn an. Sissi sah sein Zögern. Sie beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du mich liebst, dann trink. Ich will nicht ohne dich sein.«

Die Zeit schien quälend langsam zu vergehen, doch dann spürte Sissi, wie er seine Zähne in ihr Fleisch schlug. Sie zuckte zusammen. Der Schmerz war scharf und seltsam süß.

Die Menschen um sie herum sahen sich an. Manche hoben die Schultern, andere wichen zurück, als wollten sie nicht sehen, was sich in der Gasse abspielte.

Im Hintergrund hörte Sissi das Geräusch schwerer Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster. Die Soldaten standen wohl schon bereit, um die Menge zu betören.

Franz-Josef löste sich von ihrem Arm. Sein Körper knisterte nicht mehr, sein Gesicht wirkte voller.

»Trink ruhig weiter«, sagte Sissi. »Ich bin nicht armenisch.«

»Anämisch«, flüsterte Franz-Josef und schloss die Augen.

Nach einer Weile tauchten Soldaten mit einer Trage auf, um Franz-Josef in die Hofburg zu bringen. Sissi blieb an seiner Seite, bis sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.

»Sissi?«

Sie drehte sich um. »Vater?«

Wie die meisten anderen Besucher der Mitternachtsmesse hatte er den Dom verlassen, als er den Lärm auf dem Dach hörte.

Sissi bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sie umarmte Herzog Max und trat dann zurück, um sein Gesicht zu sehen.

»Du glaubst nicht, was ich erlebt habe«, begann sie. »Dies…«

Herzog Max packte ihre Arme und drückte sie gegen ihren Körper, bis es schmerzte. »Wie konntest du das tun?« Seine Stimme war ein heiseres Zischen. Wut brannte in seinen Augen. »Wie konntest du ihm das Leben retten?«

»Er hat uns allen das Leben gerettet.« Verstört und überrascht wand sie sich in seinem Griff. »Uns allen.«

»Das ist mir egal. Wir retten keinen wie ihn. Hast du denn gar nichts gelernt? Du denkst, er liebt dich, aber du bist nur seine Gebärma…«

Ihr Tritt traf seinen Magen. Sein Griff lockerte sich. Sie schlug seine Arme weg und wandte sich ab. »Lass mich in Ruhe.«

Mit langen Schritten ging sie davon. Hinter ihr schloss sich die Menge.

Sissi - Die Vampirjägerin
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