KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

Die vampirische Herrschaft scheint sich allein auf Europa und die daraus entstandenen Kolonien zu beschränken. Gesicherte Erkenntnisse sind aufgrund der komplizierten Quellenlage zwar schwer zu erlangen, jedoch findet man in den Aufzeichnungen der großen Entdecker keinen Hinweis auf Begegnungen mit Vampiren. So glaubt man mittlerweile ausschließen zu können, dass sie in Afrika, Nord-und Südamerika oder Australien vor der Kolonisierung durch die Europäer gesichtet wurden. Asien stellt einen Sonderfall dar, da bereits Marco Polo von Kreaturen sprach, die er als Vampire bezeichnete, die aber nichts mit den uns vertrauten Bluttrinkern zu tun haben. So beschreibt er hüpfende, manchmal spinnenartige Wesen, die auch die Gestalt von Menschen annehmen können und ihr Blut trinken. Die Kinder Echnatons sind diesen Hinweisen sorgfältig nachgegangen, doch in all den Jahrhunderten seit Marco Polos Aufzeichnungen wurde nie auch nur eine dieser Kreaturen gesichtet.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

Sissi erwachte. Eine Weile blieb sie ruhig liegen, starrte zur schmutzig braunen Zimmerdecke hinauf und versuchte sich daran zu erinnern, wo sie war. Irgendwann gab sie frustriert auf. Sie wusste es einfach nicht.

Ihr Mund war trocken, ihre Kehle rau. Als Kind wäre sie beinah an den Masern gestorben. Aufzuwachen, nachdem das Fieber heruntergegangen war, hatte sich genauso angefühlt wie dieser Moment. Nur dass ihre Mutter an ihrer Seite gesessen und ihr eine Schüssel mit Hühnerbrühe unter die Nase gehalten hatte.

Hühnerbrühe, dachte Sissi. Ihr Magen knurrte. Sie wollte sich aufsetzen, bekam aber ihre Hände nicht auseinander. Verwirrt hob sie die Arme und sah, dass ihre Handgelenke mit Stricken zusammengebunden waren. Sie versuchte ihre Beine unter dem Umhang, der sie bedeckte, zu bewegen und spürte groben Hanf. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Einen Moment lang konnte sie nicht atmen. Sie zwang sich zur Ruhe und sah sich um. Außer ihr befand sich niemand in dem großen Zimmer. Die aufgereihten Betten erinnerten sie an ein Internat oder ein Kloster, vielleicht auch ein Lazarett. Doch die Menschen, die einmal an diesem Ort gelebt hatten, schienen ihn längst verlassen zu haben. Es gab kein Fenster in dem Zimmer, nur einen Schrank an der Wand und eine geschlossene Tür. Ein schmaler Lichtstreifen war unter der Tür zu sehen, ansonsten war es dunkel.

Mein Rücken, dachte Sissi, als die Erinnerung plötzlich einsetzte. Die Verletzung hatte sich nur einen halben Tag nach dem Angriff entzündet. Die Schmerzen und das Fieber waren schon bald so schlimm geworden, dass sie kaum noch einen Gedanken hatte fassen können. Sie hatte gewusst, dass sie keinen Arzt aufsuchen konnte, und gehofft, dass der Cousin in Wien ihr helfen würde. War sie so weit gekommen? Hielt sie sich in seinem Versteck auf? Aus irgendeinem Grund bezweifelte sie das.

Sissi setzte sich auf. Ihr Rücken schmerzte und brannte, aber längst nicht mehr so schlimm wie in der Kutsche. Wie lang war das her? Sie spürte Stoff. Jemand hatte sie verbunden.

Sie schwang die Beine über die Bettkante, stand auf und blieb neben dem Bett stehen, bis das Zimmer aufhörte zu schwanken. Sie trug nur noch ihre Bluse, den Rock hatte jemand zum Kopfkissen zusammengefaltet und auf ihr Bett gelegt. Sie wünschte, sie hätte ihn anziehen können, doch die Fesseln saßen zu eng. Hüpfend bewegte sie sich durch das Zimmer.

Was hat man mit mir gemacht? Die Frage war beängstigend, also verdrängte Sissi sie.

Ihre Stiefel fand sie in einer Ecke, unmittelbar neben dem ausgewickelten Katana. Sie klemmte es zwischen ihre Knie und zog es mit den Zähnen am Griff aus der Schwertscheide. Die Klinge blitzte selbst im Halbdunkel des Zimmers. Jemand musste es gesäubert haben.

War ich das? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Rasch schnitt sie die Stricke an ihren Handgelenken durch, dann die an den Füßen. Sie zog Rock und Umhang an, schlüpfte in ihre Stiefel und ging zur Tür. Einen Moment lang lauschte sie am Holz, dann zog sie die Tür vorsichtig einen Spalt auf. Sie knirschte auf dem schmutzigen Boden. Sissi wand sich durch den Spalt, versuchte, so leise wie möglich zu sein.

Der Gang war ebenso leer und still wie ihr Zimmer. Sämtliche Türen waren geschlossen. Die Wände waren übersät mit faustgroßen Löchern, als habe jemand mit einem Hammer hineingeschlagen. Überall lagen tote Ratten. Den meisten fehlte der Kopf, andere sahen aus, als seien sie zerquetscht worden.

Wer immer in diesem Haus lebte, war nicht normal.

Sie öffnete die Haustür. Frische, kühle Luft strich über ihr verschwitztes Gesicht. Die Abendsonne hing tief über den Bäumen.

Ich will gar nicht wissen, wie meine Haare aussehen, dachte Sissi.

Mit dem Katana in den ausgestreckten Händen trat sie vor das Gebäude. Vorhof und Gärten waren verwildert; ein schmaler Pfad führte durch Gestrüpp zu einem Weg. Neben ihr baumelte ein Bündel an einem Haken. Neugierig nahm Sissi es ab und öffnete den Knoten. Ihr Rücken schmerzte bei jeder Bewegung. Im Innern des Beutels fand sie einen halben Brotlaib und eine Flasche mit Milch. Sie stellte das Katana nach einem weiteren prüfenden Blick in die Runde ab, entkorkte die Flasche mit den Zähnen und trank. Dann biss sie in das alte, trockene Brot. Jemand hatte die Lebensmittel wohl an den Haken gehängt, um sie vor Ungeziefer zu schützen.

Sissi warf die Kruste des Brots ins Gestrüpp, trank die Milch aus und nahm ihr Katana wieder in die Hand. Mit jedem Schritt fühlte sie sich besser und sicherer. Sie schien ganz allein auf dem Grundstück zu sein. Vielleicht war der verrückte Rattenfänger auf Maulwürfe umgestiegen und schlich jetzt durch die Felder in der Umgebung. Beinah hätte sie über diese Vorstellung gelacht, obwohl sie wusste, dass das nur an der Anspannung lag.

Vorsichtig ging sie um das Haus herum. Alles war verfallen und zugewachsen. An diesem Ort lebte niemand, das spürte sie. Doch dann sah sie das Pferd. Abrupt blieb Sissi stehen. Jemand hatte es hinter dem Haus angebunden. Es graste und hob nur kurz den Blick, als es sie sah.

Das ist kein Ackergaul, dachte Sissi, sondern ein edles Tier. Das Pferd eines reichen Mannes.

Sie sah sich um. Das beklemmende Gefühl kehrte zurück. Niemand ließ ein solches Pferd einfach stehen und machte sich davon. Einen Moment lang dachte sie daran, es zu stehlen, doch dann kamen ihr Zweifel. Der Besitzer hatte sie gepflegt und ihre Wunden verbunden. Er hatte sie zwar auch gefesselt, aber sie wusste nicht, ob er das aus unlauteren Motiven getan hatte oder aus Vorsicht. Menschen konnten seltsam werden, wenn sie im Fieber lagen. Als Sissi an den Masern erkrankt war, hatte ihre Mutter sie nur mühsam davon abhalten können, Kuchen zu backen. Sie hatte geweint und geschrien, weil sie in die Küche wollte, aber ihre Eltern hatten sie nicht gelassen.

Wie peinlich, wenn sich das wiederholt hat, dachte sie. Sollte ich nicht wenigstens versuchen, dem Menschen zu danken, der mich gepflegt hat, bevor ich sein Pferd stehle? Wer weiß, ob er diesen Ort nicht schon genauso vorgefunden hat wie ich gerade.

Sie gab sich einen Ruck und ging zurück zum Eingang. Das Katana in ihren Händen gab ihr Sicherheit.

»Hallo?«, rief sie in den dunklen Flur hinein. »Ist jemand hier? Ich bin wach.«

Niemand antwortete. Sie hörte kein Geräusch außer einem entfernten Kratzen und Scharren in den Wänden. Sissi öffnete die Tür zu dem Zimmer, in dem sie gelegen hatte. Das Licht reichte nicht bis zu ihrem Bett, erhellte den Raum aber ausreichend, um die Gestalt darunter zu erkennen.

Oh Götter, dachte sie entsetzt. Er war die ganze Zeit unter meinem Bett. Es war die unheimlichste Vorstellung, die sie je gehabt hatte.

Die Gestalt bewegte sich nicht. Sissi sah Stiefel, eine dunkle Hose und Hände, die wie bei einem Toten über der Brust gefaltet waren. Die Vorstellung, das Zimmer mit einer Leiche geteilt zu haben, ließ ihr fast das Brot wieder hochkommen. Mühsam schluckte sie ihren Ekel herunter.

Das Gesicht des Mannes – sie nahm zumindest an, dass es ein Mann war – konnte sie nicht erkennen. Es wurde vom Bettpfosten verdeckt.

Vorsichtig trat Sissi näher, das Katana hoch erhoben, bereit, bei der geringsten Bewegung zuzuschlagen. Dann ging sie in die Knie und warf einen Blick unter das Bett.

Der Mann, der dort mit geschlossenen Augen lag, war groß, kräftig und hatte kurzes blondes Haar. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

Sissi - Die Vampirjägerin
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