KAPITEL NEUNZEHN
Unter den Kindern Echnatons, besonders unter den neu hinzugekommenen Mitgliedern, herrscht große Verwirrung über die Fähigkeiten und Eigenheiten des Vampirs. An dieser Stelle sollen in aller Kürze die häufigsten aufgezählt werden.
Vampire sind gestorbene Menschen! Das ist falsch. Sie kommen bereits als Vampire zur Welt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie aus Menschen entstehen. Sie sind auch nicht im biologischen Sinne tot. Darauf soll jedoch in einem anderen Kapitel ausführlicher eingegangen werden.
Vampire können fliegen! Nein.
Vampire sind übermenschlich stark! Das ist richtig. Man schätzt, dass ein erwachsener Vampir viermal so stark ist wie ein ausgewachsener kräftiger Mann – und zehnmal so schnell.
Man kann einen Vampir nur töten, indem man sein Herz durchbohrt, seinen Kopf abtrennt, ihn verbrennt oder dem Sonnenlicht aussetzt! Das ist unseres Wissens nach korrekt. Der Vampir verfügt zwar über Organe wie Lunge, Leber, Nieren und Magen, doch sie spielen für seinen Organismus keine Rolle und liegen brach. Nur Herz und Gehirn sind aktiv und müssen durch eine regelmäßige Blutzufuhr mit Nährstoffen versorgt werden. Darauf deuten zumindest unsere Obduktionen hin, die aus offensichtlichen Gründen am lebenden, beziehungsweise existierenden Objekt vorgenommen werden mussten.
Vampire zerfallen zu Asche, Schleim und Staub, weil sie Dämonen sind, die aus der Hölle kommen! Wir wissen nicht, weshalb Vampire auf diese Weise verenden, aber die Kinder Echnatons lehnen übernatürliche Erklärungen grundsätzlich ab.
Vampire können Menschen manipulieren und ihnen ihren Willen aufzwingen! Das ist richtig. Je nach Alter sind Vampire in der Lage, Menschen eine andere Umgebung, ein anderes Aussehen, sogar eine andere Geisteshaltung zu suggerieren. Sich dagegen zu wehren, ist schwer. Es hilft jedoch, wenn man sich die Manipulation bewusst macht, indem man auf Anzeichen dafür achtet. Mehr dazu in einem anderen Kapitel.
Vampire benötigen Menschen nicht nur als Nahrungsquelle, sondern auch als Lustobjekt! Das ist falsch, und wenn ich denjenigen pfählen könnte, der erotische Vampirliteratur in Umlauf gebracht hat, würde ich es tun.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Schmerz riss Sissi aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie spürte, dass sie sich von der Stelle bewegte, obwohl ihr Rücken den Boden berührte. Ihr ganzer Körper brannte und pochte, doch am schlimmsten, sogar noch schlimmer als die tiefe Wunde in ihrer Schulter, schmerzte ihr Kopf.
In Panik begann Sissi, um sich zu schlagen. Durch die Tränen in ihren Augen sah sie Baumwipfel über sich und einen kalten schwarzen Himmel. Jemand stapfte vor ihr über den Waldboden, eine Hand in ihr Haare gekrallt, und zog sie hinter sich her. Sissi spürte die Klauen auf ihrer Kopfhaut.
Meine Haare!, dachte sie entsetzt.
Sie griff nach dem Handgelenk, das sie festhielt. Die Gestalt blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Ein Gesicht tauchte in Sissis Blickfeld auf. Es war eine Frau, verdreckt, übergewichtig und mit hängenden Brüsten, die sich an einem fetten Bauch rieben.
Voller Ekel musste Sissi würgen.
Die Vampirin fauchte sie an. Es war klar, was sie sagen wollte: Noch einmal und es gibt Ärger!
Sissi ließ das Handgelenk los und biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien, als die Vampirin sich wieder umdrehte und weiterstapfte, in der freien Hand das Katana. Getrockneter Schleim bedeckte die Klinge. Sie hatte es noch nicht einmal gereinigt, wusste wahrscheinlich nicht, welchen Schatz sie bei sich trug.
Ungebildete alte Schl… Selbst in Gedanken wagte Sissi es nicht, das Wort auszusprechen. Es war einfach zu unanständig.
Der Waldboden war weich, trotzdem litt Sissi bei jedem Schritt ihrer Entführerin. Kleine Äste bohrten sich in ihren Rücken, die Wunden, die ihr die Vampirin mit ihren Klauen gerissen hatte, brannten und sandten stechende Schmerzen bis in ihren Kopf. Jede Baumwurzel wurde zu einer Prüfung. Aber Sissi schrie nicht, auch wenn der Schmerz ihr fast die Besinnung raubte. Die Vampirin hatte sie nur aus einem Grund nicht betört, sie wollte ihr Opfer leiden sehen.
Aber das wirst du nicht, dachte Sissi. Egal, was du auch tust.
Der Boden unter ihr wurde plötzlich felsig, die Umgebung dunkler. Sie hatten eine Höhle erreicht. Die Decke hing so tief, dass die Vampirin sich unter ihr ducken musste. Dann ließ sie Sissi endlich los.
Es war ein erlösender Moment. Sissi drehte sich auf die Seite, um ihren schmerzenden Rücken zu entlasten, und presste die Wange gegen den Fels. Die Kälte verscheuchte ihre Benommenheit.
Sie wird sich Zeit damit lassen, mich zu töten, dachte Sissi. Ich habe ihren Was-auch-immer-ich-will-gar-nicht-darüber-nachdenken getötet. Dafür wird sie sich rächen wollen.
Sie hörte, wie die Vampirin sich einige Schritte von ihr entfernte, und drehte langsam den Kopf. In der Höhle war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Trotzdem spürte sie die Anwesenheit anderer Menschen. Sie war nicht allein mit der Vampirin.
»Hallo?«, flüsterte sie.
Niemand antwortete. Die Vampirin, die sie gehört haben musste, beachtete sie nicht weiter, sondern hockte sich an eine der Wände und drehte das Katana in der Hand. Sie schien zu finden, wonach sie gesucht hatte, denn einige Lidschläge später führte sie die Klinge mit der stumpfen Seite zum Mund und begann, sie abzulecken.
Bei allen Göttern, dachte Sissi, wie kann ein Wesen nur so widerlich sein.
Jemand seufzte in einer der dunklen Ecken im hinteren Teil der Höhle.
Sissi hob den Kopf, sah jedoch niemanden. War das eines der Mädchen?, fragte sie sich.
Die Vampirin legte die Klinge schließlich beiseite und stand auf.
Sissi wusste, dass sie noch vor Sonnenaufgang zuschlagen würde, denn sie konnte es sich nicht erlauben, ihr Opfer bei Tageslicht unbeobachtet zu lassen, während sie schlief. Selbst wenn die Vampirin sie betörte, konnte etwas schiefgehen. Nach dem Tod ihres Denk-nicht-darübernach würde sie kein Risiko eingehen.
Vorsichtig setzte Sissi sich auf. Ihr Rücken und ihre Schulter fühlten sich an, als würde die Haut bei jeder Bewegung reißen. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie die Wunde aussah.
Das Katana lag keine fünf Schritte von ihr entfernt auf einem Felsvorsprung. Die Vampirin schien sich nicht mehr dafür zu interessieren, aber Sissi war überzeugt, dass es nur eine Falle war. Die Vampirin wollte, dass ihr Opfer versuchte, sich zu wehren, wollte, dass es nach seinem Scheitern in tiefe Verzweiflung stürzte. Das war Teil des Spiels. Ihr Vater hatte oft genug ähnliche Geschichten vorgelesen.
Nicht mit mir.
Sissi kam in die Hocke. Immer noch stand die Vampirin reglos in der Mitte der Höhle. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie das Katana schon jetzt nicht mehr vor Sissi erreichen können, doch sie war ein Vampir und wäre schneller als ein Gedanke dort.
Ihre Anspannung war selbst in der Dunkelheit unübersehbar. Auch Sissi spannte sich, verdrängte den Schmerz und schnellte hoch. Die Vampirin griff bereits nach dem Katana, bevor sie den ersten Schritt getan hatte, aber Sissi lief nicht zu dem Schwert, sondern drehte sich um und rannte auf die Stelle zu, an der sie das Seufzen gehört hatte. Knochen knackten unter ihren Stiefeln, hinter ihr fauchte die Vampirin, vor ihr tauchten zwei Gestalten in der Dunkelheit auf. Sie hockten am Boden und nagten an etwas, was Sissi im ersten Moment für Äste hielt, aber im zweiten als Knochen erkannte. Sie riss einer der beiden den Knochen aus der Hand und fuhr herum.
Die fauchende Fratze der Vampirin war keine Armeslänge mehr von ihr entfernt. Das Katana hing als dunkler Schatten in der Luft.
Sissi stieß zu. Das Fauchen wurde zum Schrei, dann regneten Schleim und Asche zu Boden. Die Gestalt, der Sissi ihre Waffe entrissen hatte, griff ungerührt nach einem anderen, kleineren Knochen. Sie schien nicht zu bemerken, was um sie herum geschah. Die andere sah jedoch auf. Im Sternenlicht, das durch den Höhleneingang fiel, erkannte Sissi, dass es ein Mädchen mit schmutzigen Haaren und großen dunklen Augen war. Es trug eine Bluse und einen verdreckten, zerrissenen Rock.
»Des san nette Leud. De ham uns a no’ wos zum ess’n geb’n«, bemerkte es.
Die zweite Gestalt, ebenfalls ein Mädchen, nickte. »Hier schmeckt’s so vui guat, vui besser ois wia bei da Muatta.«
Sie waren betört worden, hatten den Vampiren wahrscheinlich als Festmahl dienen sollen, wenn denen die Lust auf Wild verging. Der Effekt würde noch einige Stunden anhalten, vielleicht bis zum Morgen. Sie würden sich an nichts erinnern, wenn sie erwachten, sich nur fragen, wieso sie zwischen alten Knochen in einer Höhle saßen. Wenn sie klug waren, würden sie bei ihrer Rückkehr ins Dorf behaupten, sich verlaufen zu haben. Ob ihnen das jemand glauben würde – zwei Mädchen, die getrennt voneinander verschwunden waren, aber gemeinsam den Weg nach Hause gefunden hatten, klang nicht gerade wahrscheinlich –, aber ein paar Wochen Dorfklatsch war besser als ein Leben hinter den Mauern einer Anstalt oder eines Klosters.
»Dann noch guten Appetit«, sagte Sissi und wandte sich ab. Die Mädchen wären nicht mit ihr gekommen, selbst wenn sie versucht hätte, sie dazu zu zwingen.
Der Weg zurück ins Dorf war eine Tortur. Einige Male stolperte sie über Baumwurzeln und stürzte, aber sie zwang sich jedes Mal, wieder aufzustehen, obwohl Schmerz und Erschöpfung ihr die letzten Kräfte raubten. Das Katana hatte sie in seine Scheide gesteckt. Sie stützte sich darauf, wenn der Weg zu uneben wurde.
Es war noch kein Streifen Rosa am Horizont zu sehen, als sie das Gasthaus erreichte. Mit letzter Kraft kämpfte sie sich die Treppe hinauf und betrat ihr Zimmer. Auf dem Bett brach sie zusammen.
Sie erwachte erst, als jemand an ihre Zimmertür klopfte.
»An schena guat’n Morg’n, Ho… griaß Eahna Gott.« Es war Buckel. »’s Frühstück wär jetzat serviert.«
Sissi setzte sich mit einem Ruck auf, fiel zurück und musste sich die Bettdecke gegen den Mund pressen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Das Katana polterte zu Boden.
»Passt ois?«, ertönte es besorgt von draußen.
Sie wartete einen Moment, bis der Schmerz in ihrem Rücken nachließ, dann nahm sie die Decke von den Lippen. »Ja, alles in bester Ordnung«, flötete sie. »Ich mache mich nur gerade etwas zurecht. Frühstücken Sie ruhig, ich habe keinen Hunger.«
Es stimmte. Der Schmerz nahm ihr jeden Appetit.
»Wia’s woin.« Schwere Schritte stapften davon und die Treppe hinunter. Erst als Sissi Buckels Stimme unten in der Schankstube hörte, wagte sie es, sich ein zweites Mal aufzusetzen. Sie wollte niemanden mit einem Schrei auf die Idee bringen, ihre Zimmertür einzutreten, um sie zu retten.
Sissi schrie nicht, dafür schien ihr Magen in ein Loch zu fallen, als sie das Blut auf den Laken bemerkte. Es war längst geronnen und fast schwarz. Wäre Sissi von diesem Anblick in einem fremden Zimmer überrascht worden, sie hätte geglaubt, jemand sei aufs Brutalste ums Leben gekommen.
Langsam stand sie auf. Blut verklebte ihren Rücken. Sie musste den Stoff ihres Kleids mit dem Katana – dem schmutzigen, ungereinigten Katana, wie sie mit schlechtem Gewissen bemerkte – aufschneiden, sonst hätte sie es nicht ausziehen können.
So viel Blut, dachte sie. Wo kommt das nur alles her?
Sie ahnte es natürlich, war aber gleichzeitig froh, die Wunden, die ihr die Vampirin gerissen hatte, nicht sehen zu müssen. Mit der Klinge schnitt sie ein sauberes Stück Laken ab und tauchte es in das Wasser des Waschkrugs. Es war schwierig, die Wunden auf ihrem Rücken zu reinigen. Die Seife im Wasser stach, aber sie nahm an, dass das ein gutes Zeichen war.
Dann schüttete sie das blutige Wasser aus dem Fenster, zog ein frisches Kleid aus ihrer Tasche und stopfte stattdessen die Laken und das alte Kleid hinein. Der Wirt würde sich wahrscheinlich fragen, warum ein Mädchen, das sich eine Kutsche und zwei Fahrer leisten konnte, Laken stahl, aber das war ihr egal.
Sissi benutzte den Stoff, in den ihr Vater das Katana eingeschlagen hatte, um ihre Wunden zu verbinden. Dann wusch sie sich die Haare und verließ das Zimmer. Die Klinge verbarg sie unter ihrem Umhang.
Lautes Stimmengewirr empfing sie, als sie hinunter in die Schankstube kam. Trotz der frühen Stunde wimmelte der Raum von Menschen und diesmal waren es nicht nur Männer, sondern auch Frauen.
»Aber wenn i doch sog«, begann Gustl, der Bauer, den sie am Vorabend kennengelernt hatte, »dass i die zwoa selber gseg’n hob. Alle beide san’s wiada do.«
Stimmen antworteten, einige ungläubig, andere erleichtert.
»Des is wohl wahr.« Eine ältere Frau bahnte sich einen Weg in die Mitte des Raums. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. »’s Marei hat mia verzählt, dass die zwoa Madl si verlauf’n ham und dann san’s zufällig im Woid aufeinandertroff’n und so ham’s dann z’ruck gfund’n.«
»So a Bledsinn«, mischte sich der Loisl ein. »Da steckt oana von dene Buam dahinter, des sog i euch.«
Sissi lächelte und nickte Buckel und Xaver zu, um sie wissen zu lassen, dass sie bereit zur Abfahrt war. Die beiden verließen die Schankstube nur ungern, das sah man ihnen an. Je mehr sie von den Ereignissen erfuhren, desto besser würden sie zu Hause davon erzählen können. Nur zögernd standen sie auf. Xaver nahm Sissi die Tasche aus der Hand, Buckel hielt ihr die Tür auf.
»Jetzt seid’s doch froh, dass unser lieber Herrgott da drob’n die Kinder guad hoamg’führt hod!«, meinte die ältere Frau.
»Guad?«, fragte Loisl. »Des wer’ma in neun Monat dann scho sehn.«
Die Leute in der Schankstube lachten und Buckel schloss hinter Sissi die Tür.