KAPITEL SECHSUNDDREISSIG

Nachdem ich über vampirische Propaganda gesprochen habe, muss ich natürlich auch die Frage erörtern, ob aufseiten der Kinder Echnatons ebenfalls Propaganda betrieben wird. Die Antwort ist vielschichtiger, als der Laie vermuten würde. Wird gelegentlich übertrieben, wenn es der Sache dienlich ist? Ja. Wird gelogen, um Rekruten zu werben und Hass auf unsere Sklaventreiber zu schüren? Ein klares Nein. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass alles, was ich hier geschrieben habe, der Wahrheit entspricht.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

Sissi schlief weder in dieser Nacht noch am nächsten Morgen. Bei Sonnenaufgang nahm sie das Fernglas in die Hand und begann die Ballons in ihrer Nähe zu beobachten. Franz-Josef hatte recht, nach zwei Tagen mit Alfons und Rudi kannte sie die Abläufe an Bord.

Das Feld war zusammengerückt, aber die Sechsergruppe, die sich anfangs davon gelöst hatte, lag immer noch vorn. Sissi sah zu, wie die Männer in den anderen Ballons die Feuer mit Kohle versorgten, Windgeschwindigkeit und Flugrichtung berechneten, aßen, tranken und Gegessenes und Getrunkenes wieder loswurden. Es war keine Frau unter ihnen. Sissi konnte sich den Grund dafür denken.

Da simmer janz diskret, hatte Alfons zu Beginn der Reise gesagt, was stimmte, aber nichts daran änderte, dass Sissi jedes Mal rot wurde, wenn sich jemand an Bord erleichtern musste.

Die Ballons um sie herum wirkten in dem klaren, sonnigen Winterwetter wie Gemälde auf einer blauen Leinwand. Solange sie nicht nach unten blickte und sah, wie schnell die Landschaft vorbeizog, schienen sie still zu stehen.

Gegen Mittag trat Alfons neben sie an die Reling und reichte ihr eine Tasse mit heißer Suppe.

»Et jibt nix Schöneres«, sagte er. Seine Geste schien die ganze Welt einzubeziehen. »Ävver leider is et schon balld widder vorbei.«

Sissi setzte das Fernglas ab. Sie hatte den Ballon beobachtet, den sie wegen des riesigen Sonnengesichts auf der Hülle Sonnenballon nannte. »Was meinen Sie damit?«

»Dat wir, wenn nix dozwische kütt, hück Naach in Wien ankumme.« Er kratzte sich im Nacken, dort, wo Franz-Josef ihn in der Nacht gebissen hatte.

»Das ist ja wundervoll«, flötete Sissi, obwohl sich ihr Magen verkrampfte. Sie fiel Alfons um den Hals und dann, als sie Rudis Blick sah, umarmte sie auch ihn. Er war so still, dass man ihn leicht vergaß.

Es wurde rasch dunkel, an diesem Nachmittag. Irgendwann begannen Sissis Augen vor Anstrengung zu tränen. Nur noch die Kohlefeuer in den Körben der anderen Ballons und die Laternen, in deren Licht die Männer arbeiteten, ermöglichten ihr, sie zu beobachten. Doch sie fand nichts. Alle taten das Gleiche wie sie. Frustriert setzte sie sich neben dem Schrankkoffer auf den Boden des Korbs.

»Franz-Josef«, flüsterte sie. Sissi wusste, dass er sie hören konnte. »Ich kann nichts finden. Wir sind nur noch ein paar Stunden von Wien entfernt und ich habe nichts, keinen Verdacht, gar nichts.«

»Versuch es weiter«, flüsterte er dumpf zurück. »Gib nicht auf. Etwas muss irgendwo anders sein.«

Sie antwortete nicht, aber nach einigen Minuten raffte sie sich auf und trat wieder an die Reling. Den Sonnenballon hatte sie zuletzt beobachtet, zu ihm kehrte sie zurück. Die beiden Männer an Bord wirkten hektischer als zuvor. Sie schienen irgendetwas auszupacken. Sissi nahm das Fernglas zu Hilfe, aber die Reling des Sonnenballons war so hoch, dass sie nicht sehen konnte, was sich dahinter abspielte. Sie sah nur die Männer, die von einer Seite des Korbs zur anderen eilten.

Sissi drehte sich um. »Alfons?« Sie reichte ihm das Fernglas und zeigte auf den Sonnenballon. »Was machen die da?«

Er beobachtete die Männer einen Moment, dann ließ er das Fernglas sinken und hob die Schultern. »Dat Üblische. Sie üvverprüfe ihre Usssrüstung vür dä Landung.«

Sissi warf einen Blick auf Rudi, der vor einem der Kohlefeuer saß und Spielkarten mischte.

»Und wieso tun wir das nicht?«, fragte sie.

»Weil mer net lande wede. Mer krache in dä Stephansdom.«

»Ah.« Sissi nickte. Das war logisch. Wenn sie landeten, würde ja die Maschine, die im Korb lag, nicht platzen und ihre Ladung freigeben. Wieso hatte sie vorher nicht daran gedacht?

Sie legte das Fernglas auf den Boden, stieg über den dunklen Metallzylinder hinweg, so wie sie es schon hundertmal zuvor getan hatte, und setzte sich neben Rudi. Alfons stellte drei Tassen mit Tee ab, dann begannen sie Skat zu spielen.

Irgendwann kam Franz-Josef zu ihnen. Sie lachten, als ihnen klar wurde, dass sie ihn in dem Schrankkoffer vergessen hatten. Er nahm es ihnen nicht übel.

Den ganzen Abend spielten sie Karten. Ab und zu hörte Sissi Rufe von den anderen Ballons. Sie wurden gefragt, wieso sie ihren Anker nicht ausgepackt hätten und ob sie über das Ziel hinausschießen wollten.

Sissi fand das komisch. »Hoch hinaus«, rief sie zurück, während sie innerlich schrie und gegen die Gitterstäbe im Gefängnis ihres Geistes hämmerte …

Er kämpfte.

Franz-Josef warf sich gegen die Fesseln, die seinen Verstand gefangen hielten, immer und immer wieder, während sein Körper ruhig auf dem Metallzylinder saß und einem Kartenspiel zusah, das er nicht einmal verstand.

Er sah das Entsetzen in Sissis Blick und die stumpfe Gleichgültigkeit in dem der beiden Männer. Sie lachten und unterhielten sich, aber es war nur eine Rolle, die Seine Eminenz ihnen zugeteilt hatte.

Sissi weiß es, dachte Franz-Josef, die anderen beiden nicht.

Wahrscheinlich wehrte sie sich innerlich, so wie er es auch tat, aber er gab sich nicht der Illusion hin, dass sie viel ausrichten konnten. Franz-Josef spürte die fremde Kontrolle bei jeder Bewegung.

Warum tust du das?, fragte er in seinen Gedanken.

Seine Eminenz antwortete nicht. Franz-Josef glaubte zu spüren, dass ihn die Frage langweilte. Die Verbindung, die zwischen ihnen bestand, war nicht einseitig.

Du siegst, dachte Franz-Josef. Wir haben keine Chance gegen dich. Wirst du uns wenigstens zusehen lassen, wie du die Welt veränderst, oder müssen wir weiter auf dieses dämliche Spiel starren?

Wieder keine Antwort. Er versuchte aufzustehen und war überrascht, als es funktionierte. Mit langsamen Schritten trat er zur Reling.

Vor ihm leuchteten die Lichter Wiens. Franz-Josef presste die Lippen zusammen, als er sah, wie nahe sie der Stadt bereits waren. In den anderen Ballons um sie herum erloschen die Kohlefeuer. Es sah aus, als würden sich rote Drachenaugen schließen.

Nach einer Weile stand auch Rudi auf und kippte Sand in zwei der fünf Feuer. Langsam ging der Ballon tiefer und begann sich zu drehen. Franz-Josef spürte eine Brise auf seiner Wange.

Kontrollierst du etwa auch den Wind?

Keine Antwort. Er erwartete auch keine.

Die Konturen der Häuser kamen näher. Der spitze Turm des Stephansdoms ragte zwischen ihnen empor. Von den anderen Ballons klangen Lieder und aufgeregte, freudige Rufe zu Franz-Josef herüber. Die Ballonfahrer schienen kaum glauben zu können, wie genau sie ihr Ziel anvisiert hatten.

Aus den Augenwinkeln sah Franz-Josef, wie Sissi die Spielkarten zur Seite legte und aufstand. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, die Jacke, die sie unter der Decke um ihre Schultern trug, war durchnässt. Sie rang um jeden Schritt.

Sie kämpft so hart, dachte Franz-Josef. Woher nimmt sie nur diese Kraft?

Sein Blick kehrte zu der Stadt unter dem Ballon zurück. Er konnte jetzt den Platz vor dem Dom sehen. Tausende standen dort im Licht der Gaslaternen, zeigten auf die Ballons und winkten. Ein Banner mit der Aufschrift: Ein kaiserliches Willkommen in Wien!, hing vor dem Dom. Dessen Türen standen offen. Orgelmusik mischte sich in den Jubel des Volkes. Soldaten standen vor dem Eingang Spalier. Kutschen bildeten eine Schlange, die über den Platz bis in die Seitenstraßen reichte.

Es sind alle gekommen, dachte Franz-Josef entsetzt. Sie flogen bereits so niedrig, dass er die Gesichter der Menschen unter ihm erkennen konnte. Weniger als hundert Meter trennte sie noch vom Boden.

Die anderen Ballons wurden langsamer, man warf Seile über Bord, die in der Luft hinter ihnen hergezogen wurden. Helfer am Boden liefen darauf zu und warteten, dass die Ballons so tief gingen, dass man sie zu fassen bekam.

Nur aus Alfons’ Ballon wurde kein Seil geworfen.

Die ersten Ballonfahrer bemerkten das, begannen zu rufen und zu winken.

Franz-Josef sah nach unten. Irgendwo durch die Straßen, die zum Dom führten, musste Seine Eminenz laufen, schneller als jeder Mensch, verborgen im Körper eines anderen.

Wer bist du heute? Wieder ein wilder Vampir? Wissen sie eigentlich, was du ihnen antust?

Im gleichen Moment sah er die nackte, ausgemergelte Gestalt, die unter ihm durch die Gasse rannte. Die Menschen, die ihn bemerkten, drückten sich gegen die Wand, glaubten wohl, einem Geisteskranken begegnet zu sein.

Erlaubst du mir, dich zu sehen? Fragte Franz-Josef. Bist du dir so sicher, dass ich nichts mehr tun kann?

Du könntest vieles tun, aber du wirst es nicht. Die Stimme kratzte und knisterte in seinen Gedanken – ein Geräusch, so unangenehm, dass Franz-Josef wünschte, es nie wieder zu hören.

Sissi schrie.

Er fuhr herum und sah sie neben einem der noch brennenden Feuer stehen. In einer Hand hielt sie eine glühende Kohle. Ihr Gesicht war verzerrt.

»Franz-Josef!«, schrie sie. »Hilf mir!«

Der Schmerz hat sie befreit. Mein Gott …

Sie ließ die Kohle fallen, Rauch stieg von ihrer geschwärzten Handfläche auf. Trotzdem griff sie mit beiden Händen nach Seilen und Werkzeug und warf alles über Bord.

Seine Eminenz verschwand plötzlich aus seinem Geist. Franz-Josef sah, wie der wilde Vampir in der Gasse stehen blieb und nach oben blickte.

Sissi schrie, als sie von einer unsichtbaren Kraft zu Boden geworfen wurde. Franz-Josef wollte ihr helfen, wollte den kurzen Moment der Freiheit nutzen, um sie vor Seiner Eminenz zu bewahren, doch dann erkannte er, dass es nur eines gab, was er zu tun hatte.

Er hatte zu sterben.

Franz-Josef sprang aus dem Ballon.

Der Sturz schien nicht enden zu wollen. Er sah Seine Eminenz unter sich, blickte in Augen, die seine Seele zerstören konnten, und schloss die Lider.

Der Aufprall zerschmetterte seinen Körper.

Sissi - Die Vampirjägerin
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