KAPITEL SIEBZEHN

Gibt es einen Einzelnen, der über die Kinder Echnatons herrscht? Nein, obwohl viele Mitglieder wünschten, es wäre so. Wir neigen dazu, hierarchisch zu denken, eine Angewohnheit, die wir von den Vampiren übernommen haben. Bei ihnen ist es unüblich, das Wort eines Höherstehenden infrage zu stellen, während die Kinder Echnatons versuchen, genau das zu fördern. Jedes Mitglied gilt als gleichwertig, keine Idee ist besser als eine andere, nur weil sie von jemandem mit dem richtigen Namenszusatz ausgesprochen wurde. Diese Prinzipien wurden von der Französischen und der Amerikanischen Revolution aufgegriffen, aber wie tief der hierarchische Ansatz im Menschen verankert ist, erkennt man daran, dass nach der siegreichen Amerikanischen Revolution viele Kinder Echnatons darum baten, George Washington zum lebenslangen Kaiser Amerikas zu ernennen.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

Es war immer dunkel, dort, wo er jetzt lebte. Er hatte alles, was er brauchte, aber nichts, was er liebte. Sein Bett war weich, das Essen gut, die Gesellschaft gebildet und klug. Und doch gab es keinen Morgen, wenn das Wort denn angebracht war, an dem er nicht mit einer Sehnsucht in seinem Herzen erwachte, die er an diesem Ort niemals würde stillen können.

Sorgfältig strich er die Bettdecke glatt und zog den Vorhang auf der anderen Seite des Raums zur Seite. Dahinter befand sich ein Waschtisch mit Schüssel, Rasierzeug und frischen Handtüchern, eine Badewanne, die er nur selten nutzte, und ein Klosett. Er wusch sich schweigend und putzte sich die Zähne mit einer Bürste aus Rosshaar. Sein kurzes graues Haar feuchtete er nur an.

Als er das Handtuch neben der Schüssel zusammenfaltete, hörte er, wie die Tür zu seinem Privatbereich geöffnet wurde. Sie war nicht abgeschlossen. Weshalb auch, schließlich war er freiwillig an diesen Ort gekommen.

»Professor?« Es war die Stimme eines seiner Assistenten, eines jungen Mannes – auch bei diesem Begriff zögerte er, denn er war nur zum Teil korrekt – namens Gunther von Riebsfelde-Treuhass. »Ihr Paket ist eingetroffen.«

»Danke, Gunther. Stellen Sie es auf den Labortisch an der Wand.«

Professor Friedrich von Rabenholde warf einen letzten Blick in den Spiegel, richtete die Manschettenknöpfe an seiner Jacke und wandte sich ab. Er hätte auch im Morgenmantel arbeiten können, aber es war ihm wichtig, sein Äußeres zu pflegen. Wer sich gehen ließ, erreichte nichts im Leben.

»Ich habe über unser Isolierungsproblem nachgedacht«, sagte er, als er seinen Privatbereich verließ und durch die geöffnete Tür das Labor betrat. »Ich glaube, die Lösung liegt näher, als wir vermutet haben, und mit dem neuen Instrument werden wir das auch beweisen.«

»Guten Morgen, Professor.« Gunther schlug die Hacken zusammen und neigte den Kopf. Er hatte tadellose Manieren.

»Guten Morgen, Gunther.« Seine Worte hallten von den Wänden des Labors wider. Es war ein gewaltiger höhlenartiger Saal, den man wohl aus dem Stein herausgesprengt hatte. Werkbänke standen an der linken Seite, Schränke voller Glasbehälter und Phiolen an der Rückwand. Labortische zogen sich bis zur Treppe, die hinauf in ein Gebäude führte, das Friedrich noch nie gesehen hatte. Über den Tischen hingen Zeichnungen, Berechnungen und Formeln. Die großen Schiefertafeln, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, reichten längst nicht mehr aus.

Wie jeden Morgen – wieder dieses unpräzise Wort – spürte Friedrich einen Moment des Stolzes, als er die Maschine betrachtete, die einen Großteil des Labors einnahm. Kupferrohre, Ventile, Hebel und hinter Glas liegende Anzeigen bedeckten einen riesigen schwarzen Metallzylinder. Eine Seite war geöffnet. Davor lagen Röhren, Glaskugeln und Teile einer Dampfmaschine.

Friedrich nannte die Maschine bescheiden sein Projekt, die anderen hatten ihm den Namen Weltveränderer gegeben.

»Um auf unser Problem zurückzukommen«, fuhr er fort, während er zu einem der Labortische trat und den Deckel der Holzkiste, die dort stand, abnahm. Beiläufig bemerkte er, dass Gunther sämtliche Hinweise auf den Ort, für den sie bestimmt gewesen war, entfernt hatte, so wie immer.

Friedrich wusste nicht, wo er sich aufhielt. Weder die Stadt noch das Land, nicht einmal den Kontinent konnte er mit Sicherheit bestimmen. Von draußen drang kein Laut zu ihm und kein Licht. Seine Assistenten trugen stets die gleiche Kleidung und ihre Schuhe waren nie schmutzig oder nass. Es war zu einem Spiel zwischen ihnen geworden: Er versuchte herauszufinden, wo er war, sie versuchten es zu verhindern. Bislang hatte er noch keinen Erfolg gehabt.

Friedrich packte das Mikroskop aus, das speziell nach seinen Vorgaben für ihn in London gefertigt worden war, und wog es in der Hand.

»Entspricht es Ihren Vorstellungen?«, fragte Gunther.

»Das tut es.« Er setzte das Mikroskop vorsichtig auf dem Labortisch ab. Sein Herz schlug schneller, als er sich vorstellte, wie kurz vor dem Durchbruch er vielleicht stand. »Ich werde vielleicht noch eines herstellen lassen, wenn die Zeit reicht. Wie lange hat das Paket hierher gebraucht?«

Gunther lächelte. »Sie sprachen über die Isolation, Professor.«

»Danke, dass Sie mich daran erinnern.« Friedrich ließ sich den fehlgeschlagenen Versuch nicht anmerken. Auch das war Teil des Spiels. Nie hätte er direkt gefragt, an welchem Ort er war, nie hätte er verlangt, dass man ihm zeigte, was an der Oberfläche lag. Er hätte es als impertinent empfunden, den Mann, den er seinen Gönner nannte, in eine solche Verlegenheit zu bringen, auch indirekt durch einen seiner Helfer.

»Wird Seine Eminenz heute Abend mit mir dinieren?«, fragte er, während er eine der Schiefertafeln mit einem Lappen säuberte.

»Selbstverständlich. Sie wissen doch, wie sehr er die Unterhaltungen mit Ihnen schätzt.« Gunther reichte ihm ein Stück Kreide und trat zurück, als Friedrich begann, die Formeln, die er in den schlaflosen Stunden, die er Nacht nannte, entwickelt hatte, niederzuschreiben.

Es erfüllte ihn mit Stolz, dass sein Gönner den Gedankenaustausch mit ihm suchte. Sie waren nicht immer einer Meinung, doch selbst in der Uneinigkeit respektierten sie einander. Man traf nur selten solche Men… Er unterbrach sich innerlich, schalt sich für seine überholten Begriffsvorstellungen. Ein Wissenschaftler wie er, ein Mediziner und Biologe musste die Welt in ihrer wahren Form betrachten und sich ihr anpassen, egal, wohin dieser Weg führte.

Er legte die Kreide beiseite, öffnete einen Manschettenknopf und schob seinen linken Hemdsärmel nach oben. Sein Handgelenk war vernarbt und wulstig.

»Sie können ein wenig von mir trinken, wenn Sie durstig sind«, sagte er, während er fortfuhr, seine Formeln niederzuschreiben. »Ich möchte nicht, dass Sie wieder bei der Arbeit einschlafen wie vor ein paar Tagen.«

»Sehr aufmerksam, vielen Dank.« Gunther ging neben ihm in die Knie und schlug seine Fänge in Friedrichs Fleisch.

Sissi - Die Vampirjägerin
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