KAPITEL SIEBEN
Neue Rekruten stellen den Kindern Echnatons stets die gleichen Fragen: »Wieso weiß die Welt nichts von dem, was ihr tut? Warum sagt ihr den Menschen nicht die Wahrheit?«
Die Antwort darauf ist einfach: »Wer sagt dir, dass wir es nicht schon hundertmal getan haben?«
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Das Donnerwetter, mit dem ihre Mutter sie empfing, schien erst nach einigen Stunden zu verhallen. Immer wenn Sissi glaubte, der Wortschwall fände ein Ende, setzte ihre Mutter zu einem weiteren an. Es wurden die üblichen Geschütze aufgefahren, von: »Wieso straft mich der Herrgott mit einer solchen Tochter?«, über: »Wir hätten dich ins Internat schicken sollen, wie Großmutter es wollte«, bis hin zu »Dein Vater hat dich nie richtig erzogen.« Irgendwann verließ Néné weinend und: »Das wird auch auf mich zurückfallen«, murmelnd das Zimmer, während Sissi in sich zusammengesunken sitzen blieb und gelegentlich nickte. Die Worte ihrer Mutter sausten wie Geschosse an ihr vorbei, ohne sie jedoch zu treffen.
Zwei Tage war sie durch Österreich geirrt, hatte unter Bäumen geschlafen und sich ohne einen Pfennig in der Tasche von Nüssen und Beeren ernähren müssen. Sie war erschöpft, hungrig und so müde, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Wenn es ihr dann doch gelang, dachte sie an Franz. Sie spürte seine kühle, trockene Hand immer noch in der ihren, sah seine hellen, klaren Augen vor sich und hörte seine sanfte, aber dennoch kräftige Stimme. Er war der bestaussehende Mann, dem sie je begegnet war, und der netteste. Sie dankte den Göttern dafür, dass er erst aufgetaucht war, nachdem sie den wilden Vampir erledigt hatte. Was wäre in ihm vorgegangen, wenn er sie mit einem Pflock in der Hand über einer Pfütze aus Schleim und Asche hätte stehen sehen? Wahrscheinlich hätte er sie für eine Anarchistin gehalten oder Schlimmeres, wenn es denn etwas Schlimmeres gab. Doch es war gut gegangen; er hatte nichts bemerkt.
Sissi spürte ein Kribbeln im Bauch, als sie daran dachte, dass sie Franz noch an diesem Abend wiedersehen würde. Bis dahin musste sie Néné davon überzeugen, ihr etwas Vernünftiges zum Anziehen zu leihen. Sie musste schlafen, baden und vor allem, dringender als alles andere, ihre Haare waschen. Der angetrocknete Schleim des Vampirs juckte immer noch auf ihrer Kopfhaut.
»Sissi?«
Sie schrak zusammen. Ihre Mutter stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem kleinen Sessel, auf dem sie saß. Sophie hatte ihnen einen ganzen Trakt im Besucherhaus zugewiesen, doch Sissi hatte bisher nur dieses eine Zimmer gesehen.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Natürlich, Mutter, und ich schwöre, dass ich so etwas nie wieder tun werde. Es war dumm und selbstsüchtig.«
Ob Néné mir wohl ihren grünen Rock leiht?, dachte sie währenddessen. Er passt so gut zu der kleinen braunen Weste, die ich mitgenommen habe.
»… sicher nichts ausmachen, deine Reue zu beweisen, indem du den Rest unseres Aufenthalts auf deinem Zimmer verbringst.«
Prinzessin Ludovikas Worte bohrten sich wie Pfeile in ihr Bewusstsein. Sissi sprang auf. »Aber das geht doch nicht! Ich muss …«
»Du musst überhaupt nichts. Du bist weder eingeladen noch erwünscht. Niemand wird dich vermissen.«
»Doch! Ich …« Sissi biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie von ihrer Begegnung im Wald erzählte, würde ihre Mutter sie mit großer Wahrscheinlichkeit in ein Kloster stecken und enterben. Also schwieg sie lieber und senkte den Kopf.
»Gut.« Prinzessin Ludovika wandte sich ab. »Dann geh jetzt auf dein Zimmer. Ich wünsche, dich erst bei unserer Abfahrt wiederzusehen.«
»Mutter?«
»Keine Widerworte!«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wo mein Zimmer ist.«
»Dritte Tür links, neben Nénés«, erwiderte ihre Mutter ungeduldig.
Ohne ein weiteres Wort verließ Sissi den Raum und wandte sich nach links. Dicke Teppiche bedeckten den Boden des Gangs. An den Wänden hingen Porträts von ernst dreinsehenden Männern, die sie nicht kannte. Sie zählte die Türen ab und wollte gerade ihr Zimmer betreten, als sie die Zofe bemerkte, die ihr entgegenkam. Sie war kaum älter als Sissi, bewegte sich jedoch langsam und schleppend. Ihre Haut war blass, fast schon durchscheinend. Trotz des warmen Sommertags trug sie einen Schal um den Hals. In den Händen hielt sie ein Tablett mit Gebäck und einigen Tellern. Es schien zu schwer für sie zu sein.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Sissi, als sie auf gleicher Höhe waren.
Die Zofe bemerkte sie erst, als sie ihre Worte wiederholte. Es war, als erwache sie aus einem tiefen Schlaf. Ihr trüber Blick klärte sich.
»Nein«, sagte sie mit dünner Stimme. »Das ist nicht nötig.«
Sissi sah ihr nach, bis sie um eine Biegung verschwand, dann öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer, lief zum Fenster und sah hinaus. Erleichtert entdeckte sie keinen Meter unter ihr ein Vordach und ein massiv wirkendes Holzgitter, an dem sich Efeu emporrankte. Es würde ihr nicht schwerfallen, das Zimmer heimlich zu verlassen und auch wieder zu betreten.
Eine Weile blieb sie am geöffneten Fenster stehen und betrachtete das Haupthaus auf der anderen Seite des großen Innenhofs. Dort hielt sich der Kaiser mit seinem kleinen Hofstaat auf. Allen anderen war es verboten, das Haus ohne seine Erlaubnis zu betreten. Die meisten glaubten, er wolle sich auf diese Weise vor Attentätern schützen, aber Sissi kannte die Wahrheit. Jeder, der in diesem Haus seine Gemächer hatte, war ein Vampir. Sie blieben unter sich, um ungestört ihren abscheulichen Riten nachgehen zu können. Die fast leer getrunkene Zofe war nur ein Indiz dafür, was sich hinter den hohen, verschlossenen Türen und verhangenen Fenstern abspielte. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Sissi das ganze Haus gesprengt, mit allen, die sich darin aufhielten.
Es würde kein Falscher in den Flammen verbrennen, dachte sie. Und Mutter könnte endlich mit der Schande, die ihre Familie seit Generationen wie ein dunkler Schatten verfolgte, abschließen.
Der Name dieser Schande lautete Sophie. Vor Jahrhunderten hatte das damalige Oberhaupt der Familie sich bereit erklärt, ihr seinen Namen zu geben und sie als sein Kind anzunehmen. Warum, wusste mittlerweile niemand mehr. Vielleicht hatte Sophie ihm die Unsterblichkeit versprochen, vielleicht hatte sie ihn auch bedroht oder bestochen.
Seitdem begleitete Sophie die Familie, zwang sie zu politischen Allianzen, zu Ehen, zu Kriegen. Mal war sie Mutter, dann wieder Tante und in dieser Generation die Schwester von Prinzessin Ludovika. Die Familie bewahrte ihr Geheimnis und durfte dafür an ihrer Macht teilhaben. Gemeinsam beherrschten sie fast den gesamten Deutschen Bund, Österreich und Ungarn. Doch hinter den Adelstiteln, dem Geld und den Schlössern stand stets Sophie. Sie befahl, die Familie folgte und lebte dabei in ständiger Angst vor den Gefallen, die sie gelegentlich einforderte.
Gefallen wie die Buben zum Beispiel, dachte Sissi, als sie sich auf das viel zu weiche Bett legte und die Augen schloss. Sie fragte sich, wie viele Adelsfamilien den gleichen Fehler begangen hatten und wussten, wer in Wahrheit über fast ganz Europa herrschte. Auf den Festen lachten und scherzten sie miteinander, aber wie sah es aus, wenn sich die Türen ihrer Gemächer schlossen? Wer bot dann den Hals dar und wer biss hinein? »In was für einer kranken, irren Welt leben wir nur«, murmelte Sissi und gähnte. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Als sie erwachte, fiel der Schatten des Fensterkreuzes bereits lang in ihr Zimmer. Erschrocken setzte sie sich auf. Es war schon später Nachmittag; sie hatte fast den ganzen Tag verschlafen.
Franz, dachte sie und dann als Nächstes: meine Haare!
Sissi sprang aus dem Bett und versuchte, ihr Aussehen wenigstens einigermaßen in Ordnung zu bringen. Den Gürtel mit den Pflöcken versteckte sie im Schrank, dann lief sie in das zum Glück leere Zimmer ihrer Schwester, fischte den grünen Rock, auf den sie aus war, aus einem der drei Schrankkoffer, die Néné dort stehen hatte, und wusch sich die Haare gleich viermal in einer Waschschüssel. Auf das Bad musste sie verzichten, auch wenn sie immer noch nach Wald und ein wenig nach Schleim roch. Sie wollte keine Zofe rufen. Gerade mal eine Stunde später, als die Sonne bereits tief über dem Anwesen stand, stieg sie aus dem Fenster und kletterte an dem Efeugitter herab. Niemand bemerkte sie. Der Hof war verlassen.
Sie hatte sich mit Franz an einer kleinen Jagdhütte am Rand des Waldes verabredet. Kurz nach Sonnenuntergang, hatte er gesagt, wenn seine Geschäfte erledigt seien.
Sie hatte ihn noch nicht einmal nach der Art dieser Geschäfte gefragt, aber es war ihr egal, welchem Gewerbe er nachging oder aus welcher Familie er stammte. Sie hätte sich sogar mit ihm getroffen, wenn er Schauspieler gewesen wäre oder einer dieser Scharlatane, die Tränke gegen die Schwindsucht verkauften.
Sissi war außer Atem, als sie die Hütte erreichte. Sie hatte damit gerechnet, dass Franz bereits auf sie wartete, aber es war niemand zu sehen. Sie war allein. Einen Moment lang fragte sie sich, was sie tun würde, wenn er nicht kam, doch dann schüttelte sie den Gedanken ab. Er würde kommen, sie hatte es in seinen Augen gelesen.
Die Hütte war abgeschlossen, die Fenster vernagelt, also setzte sie sich auf eine schmale Holzbank neben der Tür und fuhr sich mit dem Holzkamm durchs Haar, den sie zur Sicherheit eingesteckt hatte. Es war immer noch feucht. Sie wollte nicht, dass es sich verknotete.
»Ich war mir nicht sicher, ob Sie wirklich kommen würden«, ertönte plötzlich neben ihr eine Stimme.
Sissi zuckte zusammen, fuhr mit erhobenem Kamm herum und lächelte dann. »Franz. Ich habe Sie gar nicht gehört.«
Er trug ein weißes Hemd, eine eng anliegende dunkle Hose und hohe Stiefel. Ein Gewehr hing über seiner Schulter, in seinem Gürtel steckte ein Jagdmesser.
»Habe ich Sie etwa erschreckt?«, fragte er. »Das würde mir leidtun.«
Sissi bemerkte, dass sie den Kamm immer noch in der erhobenen Hand hielt und ließ ihn sinken. »Nein, ich war nur in Gedanken.«
»Schöne Gedanken, hoffe ich.«
»Ja. Schöne Gedanken.«
Sissi zögerte, als Franz auf einen Weg zuging, der in den Wald hineinführte. Erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, wie ungeheuerlich es war, mit einem fremden Mann allein in den Wald zu gehen. Wenn sie jemand sah und erkannte, war ihr Ruf ruiniert. Dann würden ihre Eltern sie mit niemandem mehr verheiraten können, außer vielleicht mit einem Schauspieler oder Scharlatan.
Aber ich will doch keinen anderen als ihn, dachte Sissi und schluckte, als ihr klar wurde, dass das tatsächlich stimmte. Ich will nur ihn.
Franz drehte sich zu ihr um. »Ist alles in Ordnung?«
Sie nickte. »Ja, alles in bester Ordnung.«
Dann folgte sie ihm in den Wald, während sich der Himmel langsam schwarz zu färben begann.