KAPITEL DREIZEHN
Manchmal stoßen die Kinder Echnatons auf solche, die sie gern in ihren Reihen sehen würden, vor allem Offiziere mit strategischem Geschick und – sagen wir es ganz offen – Menschen mit erheblichen finanziellen Mitteln. Die Organisation und Geheimhaltung eines internationalen Netzwerks ist kostspielig. Die Reisekosten der einzelnen Mitglieder sind teils erheblich, ebenso die Ausgaben für Telegrafie, falsche Papiere, Waffen und Hinterbliebenenrenten gefallener Mitglieder. Die bei Weitem höchsten Kosten fallen jedoch für Bestechungen an, in erster Linie der von Gendarmen und Palastdienern. Letzteren ist es zu verdanken, dass die Kinder Echnatons Grundrisse sämtlicher Herrscherpaläste in Europa besitzen und über die Angewohnheiten der hochadligen Bewohner bestens informiert sind.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Es war, als hätte ein anderer die Kontrolle über ihren Körper übernommen. Sissi aß, ohne satt zu werden, trank, ohne etwas zu schmecken, redete, ohne die Unterhaltungen zu verstehen. Sie fühlte sich wie die Leute, die sich von einem Zauberer auf der Bühne in Hippose – so nannte man das doch? Sie war sich nicht sicher – versetzen ließen und auf einmal wie Hühner gackerten. Sie wusste nicht, was sie tat.
Sie saßen am Tisch des Kaisers, sie, ihre Mutter und Néné. Sissi bewunderte ihre Schwester mehr als je zuvor. Sie lachte, scherzte und flirtete mit den jungen Männern, die ab und zu neben ihrem Stuhl auftauchten, tanzte mit Gustav von Reitlingen und lauschte den alten Frauen am Tisch, wenn sie über ihre Gebrechen redeten. Nur mit dem Kaiser wechselte sie kein einziges Wort. Sie sah ihn noch nicht einmal an.
Sissi starrte hauptsächlich auf ihren Teller. Franz versuchte einige Male, sie in seine Gespräche einzubeziehen, aber sie tat stets so, als bemerke sie es nicht. Anfangs wurde sie ebenfalls von vielen Männern, darunter auch Gustav von Reitlingen, zum Tanz aufgefordert, doch irgendwann schien sich herumgesprochen zu haben, was an diesem Abend geschehen würde, denn ihre Tanzkarte blieb ziemlich leer, während die ihrer Schwester immer voller wurde. Man wilderte nicht im Revier des Kaisers.
Oh Götter, dachte Sissi, als das Orchester ein weiteres Mal aufspielte. Wenn dieser Abend nur schon vorbei wäre.
Während sie auf die Ballgäste wahrscheinlich nur schüchtern wirkte, musste jeder bemerken, wie angespannt ihre Mutter war. Seit ihrer Rede auf dem Balkon war sie blass wie ein ungeschminkter Vampir und fahrig. Ausgerechnet neben Sophie hatte sie Platz nehmen müssen. Gelegentlich wechselten die beiden ein paar Worte, aber Prinzessin Ludovika suchte meistens den Blickkontakt ihrer Töchter, versuchte sie zu ermuntern.
Sissi wird Franz-Josef heiraten, nicht du, Néné. So hatte sie ihre Rede begonnen. Sie hatte den Wunsch des Kaisers erklärt, ohne wütend zu werden oder Sissi zu beschimpfen. Am Ende hatte sie beide Töchter in die Arme genommen und geweint.
Ihr müsst stark sein. Du, Sissi, aber vor allem du, Néné. Feiere die Verlobung deiner Schwester und freue dich an ihrem Glück. Alle müssen es glauben.
Sissi hatte sich gesträubt, hatte darauf bestanden, Sophie und den Kaiser zu sprechen, doch schließlich war es Néné, die die entscheidenden Worte sprach: Wenn du dich ihm verweigerst, wird er mich trotzdem nicht erwählen. Dann wird alles scheitern, wofür wir ein Leben lang gearbeitet haben. Tu uns das nicht an, Sissi.
Und nun saß sie an einem Tisch mit dem Mann, den sie liebte und der gleichzeitig ein Vampir war, den sie töten musste. Darüber hätte Shakespeare schreiben sollen, dachte Sissi, nicht über Romeo und Julia.
Franz-Josef stand auf. Das Essen, das Sissi sich hineingezwungen hatte, ballte sich zu einem heißen Klumpen in ihrem Magen.
»Darf ich um diesen Tanz bitten?«, fragte Franz-Josef. Der Moment, den sie befürchtet hatte, war da.
Ruhig legte sie die Serviette beiseite und erhob sich. »Es wird mir eine Freude sein, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, Majestät.«
Die alten Frauen am Tisch sahen ihnen nach, als sie durch die Säulen schritten und sich zu den anderen Tänzern gesellten.
»Was für ein wunderschönes Paar«, sagte eine von ihnen.
»Und so jung«, antwortete eine andere. »Das ganze Leben liegt noch vor ihnen, wenn es keine Revolution gibt.«
»Agnes!«, tadelte die erste.
Die Musik wurde so laut, dass Sissi den Rest ihrer Unterhaltung nicht mehr verstehen konnte. Die Tänzer nahmen Aufstellung. Franz-Josef stand ihr gegenüber. Er trug seine kaiserliche Uniform und sah so glücklich aus, so zufrieden, als habe sich der größte Wunsch seines Lebens erfüllt.
Sissi wünschte, sie hätte das Gleiche empfinden können, doch sie spürte nichts außer einer betäubenden Leere. Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab.
Die Tänzer bewegten sich steif von einer Seite zur anderen, traten in exakt vorgeschriebenen Schrittfolgen vor und zurück. Nur wenigen gelang es, dem Rhythmus der Musik zu folgen. Die meisten konzentrierten sich auf ihre Bewegungen und zählten die Schritte lautlos mit. Nicht so Franz-Josef – wie ein Schwimmer ließ er sich von den Wellen der Musik tragen. Neben ihm kam Sissi sich wie ein Bauerntrampel vor.
Die Musik trug Franz-Josef auf sie zu. »Sie wird darüber hinwegkommen«, sagte er leise und meinte Néné. »Sie kennt mich ja noch nicht einmal.«
Sissi wollte antworten, aber die Musik trug ihn wieder davon. Als er sich ihr das nächste Mal näherte, sagte sie ebenso leise: »Es war feige, zu Sophie zu gehen. Du hättest mit mir reden müssen.«
Die Anschuldigung traf ihn, das sah sie ihm an. »Du hattest die Hände vor dem Gesicht. Ich musste schnell handeln.«
Erneut trennte sie die Musik. Als sie einander wieder begegneten, schwieg Sissi. Franz-Josef warf ihr mehrfach Blicke zu, sagte jedoch nichts. Als die Musik endete, verbeugte er sich vor ihr. Sie knickste und wollte sich von ihm zurück zu ihrem Tisch geleiten lassen, aber er hielt sie mit einem leichten Kopfschütteln auf. Einige andere Frauen blieben ebenfalls stehen, unter ihnen Néné. Man merkte ihr die Schande nicht an, im Gegenteil, sie wirkte glücklich und gelöst, so als genieße sie die Aufmerksamkeit all der Männer um sie herum.
Diener betraten den Raum. Sie schoben Wagen vor sich her, auf denen Vasen mit großen Blumensträußen standen. Gustav von Reitlingen wollte darauf zugehen, aber ein anderer ebenso junger Offizier hielt ihn zurück. Erst als der Offizier in Richtung des Kaisers deutete, schien Gustav zu verstehen. Ihm musste man die erste Wahl überlassen.
Franz-Josef ging zielstrebig auf den ersten Wagen zu und nahm einen Strauß roter Rosen aus seiner Vase. Wasser tropfte auf den hellen Marmorboden. Einer der Diener wischte es sofort auf und schlang ein großes Seidentuch um die Blumenstängel, während Franz-Josef sich bereits abwandte und Sissi ansah.
Die Musik hatte aufgehört zu spielen, die Unterhaltungen erstarben. Natürlich wusste der Hochadel von den Gerüchten über eine anstehende Heirat des Kaisers, aber kaum jemand hatte eine Ahnung, wen er erwählen würde. Sissi spürte die Blicke der Menschen und Vampire. Abschätzend glitten sie über die Gesichter der Frauen auf der Tanzfläche. Einige Adlige tuschelten. Sissi stieß die Trüffelsoße auf, als ihr klar wurde, dass sich schon bald all diese Blicke auf sie konzentrieren und alle Gespräche im Saal um sie kreisen würden. Ihr wurde übel.
Franz-Josef blieb vor ihr stehen. Es war so still im Saal, dass seine Schritte nachhallten.
»Elisabeth«, begann er mit fester Stimme, »würden Sie mir die Ehre erweisen, diese roten Rosen als Zeichen meiner Wertschätzung und Zuneigung anzunehmen?«
Sissi schluckte ihre Übelkeit herunter, lächelte gezwungen und nahm die Rosen entgegen. Die Stacheln waren entfernt worden, die Stiele lang und glatt. Frischer, süßer Duft stieg von den Blüten auf. Er erinnerte Sissi an die Schüssel mit Rosenwasser, in der sie sich das Fett von den Fingern gewaschen hatte. Die Übelkeit wurde so stark, dass sie nicht zu sprechen wagte. Also knickste sie tief, neigte den Kopf und hoffte, man würde ihr Schweigen als Schüchternheit auslegen.
Franz-Josef wirkte enttäuscht, als sie ihm keine Antwort gab, fasste sie aber dann sanft am Ellbogen und richtete sie wieder auf.
»Majestäten«, sagte er, »meine Damen und Herren: Prinzessin Elisabeth in Bayern.«
Die Gäste applaudierten, als hätte Sissi einen Teller auf der Nase balanciert. »Ich freue mich ja so für dich«, hörte sie Néné sagen. Es klang, als meine sie es ernst.
Es gibt kein Zurück mehr, dachte Sissi. Schon wieder bahnte sich die Trüffelsoße einen Weg aus ihrem Magen empor. Noch nie in ihrem Leben war ihr so übel gewesen.
»Lass uns in den Garten gehen«, sagte Franz-Josef leise. Hinter ihm nahmen Männer die restlichen Blumen vom Wagen und reichten sie den Damen, die sie erwählt hatten. Gustav von Reitlingen ging auf Néné zu, mehr sah Sissi nicht, denn Franz-Josef führte sie bereits aus dem Saal. Im Gang stank es nach Zigarrenrauch und Schweiß. Sehnsüchtig starrte Sissi auf die geöffnete Terrassentür. Nur noch wenige Meter trennten sie von frischer, kühler Luft.
»Ich kann es noch kaum fassen, dass wir zusammen sein werden«, sagte Franz-Josef. »Stell dir das nur vor, du und ich, dein … ein Leben lang.«
Sissi konnte nicht mehr. Sie übergab sich in die Rosen.