KAPITEL VIERUNDZWANZIG

Es gibt Gerüchte, die besagen, dass das, was ich mit diesen bescheidenen Zeilen versuche, längst vollendet worden ist, dass eine vollständige und unzensierte Geschichte unserer Welt in den Geheimarchiven des Vatikans liegt und von jedem Papst erweitert wird. Das mag stimmen, obwohl ich meine Zweifel daran habe, aber selbst wenn dieses Buch existiert, welchen Nutzen hätte es für uns, wenn niemand außer den Verfassern je einen Blick darauf werfen kann?

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

Am späten Abend erreichten sie den Kaiserpalast.

Sissi ließ sich von Franz-Josef durch Gärten führen, die größer waren als Städte. Der Palast ragte wie ein gewaltiges, breites Bergmassiv vor ihr empor.

»Mehr als zweitausend Räume«, sagte Franz-Josef. Er klang so stolz, als habe er jeden einzelnen selbst eingerichtet. »Ein Diener allein würde einen Monat brauchen, um sie alle zu reinigen.«

»Dann ist es ja gut, dass ihr mehr als einen Diener habt.« Sissi versuchte, sich nicht beeindrucken zu lassen, aber es fiel ihr schwer, auch wenn sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief, dass das alles mit dem Blut von Menschen errichtet worden war – und zwar nicht nur metaohrisch.

Die Reise, anders konnte Sissi den Weg durch die Hofburg nicht beschreiben, dauerte Stunden. Franz-Josef wurde von Dutzenden Höflingen angesprochen, größtenteils unterwürfig, teilweise sogar ein wenig vorwurfsvoll. Besonders sein Leibdiener Ludwig wirkte verkniffen in seiner Freundlichkeit. Sissi wurde niemandem vorgestellt, obwohl alle sie verstohlen musterten.

»Es gehört sich nicht, die zukünftige Kaiserin auf dem Gang anzusprechen«, erklärte Franz-Josef, als sie ihn danach fragte. »Die Vorstellung muss bei einem offiziellen Anlass erfolgen.«

»Es ist höflicher, so zu tun, als sei ich nicht da?«

»So ist es.«

Sie hatten in Wien noch in einem Gasthaus angehalten, damit Sissi etwas essen konnte, aber sie war schon wieder hungrig, als sie nach dem kilometerlangen Marsch durch die Hofburg endlich vor dem Trakt stehen blieben, den Franz-Josef als ihre Privatgemächer bezeichnete.

Sissi sah sich um. Die Heerscharen der Diener, denen sie immer wieder begegnet waren, schienen noch nicht bis zu diesem Gang vorgedrungen zu sein.

»Gibt es hier Wölfe?«, fragte sie.

Franz-Josef schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir haben einen Tierpark hinter dem Palast, da gibt es Giraffen, Lamas …«

Sie unterbrach ihn. »Das meine ich nicht.«

»Wieso fragst du … oh, die Wölfe.« Er runzelte die Stirn.

Ihr gefielen die kleinen Falten, die sich dabei über seiner Nasenwurzel bildeten. Sie ließen ihn älter wirken, als er war. Du weißt nicht, wie alt er ist, meldete sich eine Stimme in ihrem Hinterkopf.

Nun sah auch Franz-Josef sich um. »Wer hat dir von den Wölfen erzählt?«, fragte er leise.

»Bei uns weiß jeder davon.«

Das schien ihm nicht zu gefallen, aber er hakte auch nicht nach. »Es gibt sie weder in deinem noch in meinem Trakt.« Er zeigte den Gang hinunter auf eine Tür, die so hoch und breit war, dass man ein Haus darunter hätte bauen können. »In diesem ganzen Bereich bist du sicher. Halte dich nur von allen anderen nicht öffentlichen Gemächern fern.«

»Auch von Sophies?«, fragte Sissi, obwohl sie die Antwort kannte. Sie wollte herausfinden, wie ehrlich er zu ihr war.

»Vor allem von Sophies.« Er nahm ihre Hand in seine.

Seine Haut war kühl und trocken, viel angenehmer, als sie es sich vor der gemeinsamen Nacht vorgestellt hatte. Sie genoss seine Berührung.

»Wir haben beide viel erlebt«, sagte er so leise wie zuvor. »Wir müssen über einiges nachdenken, aber ich bin sicher, dass wir alles bewältigen können, wenn wir einander nur vertrauen. Niemand soll sich zwischen uns stellen – von keiner Seite.« Er reichte ihr das Katana, das er in eine Satteldecke eingeschlagen hatte. »Hier. Versteck es gut.«

Franz-Josef wollte sich abwenden, aber Sissi ließ seine Hand nicht los. »Möchtest du nicht reinkommen?«

Er lachte. »Natürlich möchte ich das, aber hier am Hof läuft nun mal nicht alles so, wie ich es möchte.«

Du bist doch der Kaiser, dachte Sissi. Kannst du nicht tun, was du willst?

Sie fürchtete, dass die Frage zu naiv klingen würde, also sprach sie sie nicht aus. Stattdessen stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte Franz-Josef einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht.«

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern betrat ihre Gemächer und schloss die Tür hinter sich. So machten das die Konturbinen in den Romanen, von denen ihre Mutter nichts wissen durfte, auch immer. Sie dankte den Göttern, dass sie die Geschichten trotz des Verbots gelesen hatte. In der Scheune war sie dadurch vor mancher Peinlichkeit bewahrt worden.

Es war dunkel in ihren Gemächern. Alles roch neu, nach Farbe und frischem Holz. Sissi tastete nach einer Kerze. Ihre Hand glitt über eine Wand und einen kleinen Tisch, aber sie spürte nur glatte Flächen unter ihren Fingern.

»Wenn Sie erlauben«, sagte eine unbekannte dunkle Stimme.

Sissi zuckte zusammen. »Wer ist da?«

Ein Streichholz wurde angerissen, dann sah sie eine kleine Flamme, die an einen Kerzendocht gehalten wurde. Es knisterte und im nächsten Moment sprang die Flamme über. Schlagartig wurde es heller. Ein Gesicht, das sie kannte, schälte sich aus der Dunkelheit.

Edgar.

Sie fuhr herum, wollte die Tür aufreißen, aber er war bereits bei ihr, bevor ihre Hand die Klinke berührte, und schob sie weiter in den Raum. Aus den Augenwinkeln sah Sissi tiefe Polstersessel, Sofas und künstliche Blumengestecke. Sie war in einem Salon.

»Ich werde schreien«, stieß sie hervor, während sie hektisch versuchte, das Katana auszuwickeln.

»Ich werde dich betören, wenn du das versuchst«, sagte Edgar. »Oder wenn du das Schwert ziehst.«

Sie ließ es sinken und schloss den Mund. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich wollte die Wahrheit, aber nach dem, was ich da draußen gehört habe, erübrigen sich weitere Fragen.« Er trat einen Schritt zurück. »Ist dir eigentlich klar, was sie mit ihm machen würde, wenn sie herausbekäme, dass er weiß, was du bist?«

Er musste nicht erklären, wer mit sie gemeint war. Sissi wusste es auch so. Abwartend und stumm blieb sie stehen, während ihre Gedanken von einer schrecklichen Vorstellung zur nächsten rasten. Noch keine Stunde war sie in der Hofburg und schon hatte man sie enttarnt. Ein solches Fiasko hatte wohl selbst ihre pessimimistische Mutter nicht erwartet.

Edgar zündete noch einige Kerzen an, dann legte er die Streichhölzer beiseite. Er ließ ihr Zeit, um über alles nachzudenken.

»Ich mag Franz-Josef nicht«, sagte er nach einem Moment. »Er ist ein schwacher Kaiser und ein lausiger Vampir. Aber er hat mich nicht getötet, als er die Gelegenheit dazu hatte, obwohl er wissen musste, dass ich ihm Probleme bereiten würde.«

Er setzte sich in einen der Sessel und sank so tief darin ein, dass seine Knie über seinen Kopf ragten. Sissi hätte beinah gelacht, als sie die Überraschung in seinem Gesicht bemerkte. Sie beherrschte sich mühsam.

Edgar kämpfte sich aus dem Sessel hoch und begann, auf und ab zu gehen.

»Das zeugt von Ehre«, fuhr er fort, »unerwartete, aber dennoch vorhandene Ehre. Ich erwarte nicht, dass du die Bedeutung des Wortes verstehst. Ihr Menschen konntet noch nie sehr viel damit anfangen.«

»Ich weiß sehr wohl, was Ehre ist«, erklärte Sissi.

Edgar ging nicht darauf ein. »Daher werde auch ich mich ehrenhaft zeigen. Niemand soll erfahren, was ich weiß, solange du keine Schritte unternimmst, die diesen Hofstaat gefährden könnten. Ein falsches Wort, eine falsche Tat und Franz-Josefs Existenz wird in einer Hölle aus Qual und Leid enden. Und deine selbstverständlich auch, aber ich nehme an, das ist dir bewusst.«

»Und wenn ich nichts tue, was dann?«

Edgar blieb stehen und sah sie an. Er hatte kalte, hässliche Augen. »Aber du sollst ja etwas tun. Du sollst Franz-Josef nach bestem Wissen und Gewissen beraten, ihn Sophies Einfluss entziehen und ihn zu dem Kaiser machen, der er sein sollte, wenn er nicht so eine Memme wäre.« Sie wollte widersprechen, aber er hob die Hand. »Und als Allererstes, gleich morgen, wenn du die Akten für ihn sortierst und sie in einen wichtigen und einen unwichtigen Stapel einteilst, wirst du diese …«, er öffnete seine Jacke und zog einige mit einem breiten Stoffband umwickelte Papiere hervor, »… auf dem wichtigen Stapel ganz nach oben legen. Sorge dafür, dass er sie unterschreibt.«

»Was steht da drin?« Sissi rechnete nicht damit, dass er es ihr sagen würde, aber er tat es doch.

»Das Papier enthält die Bitte an den Kaiser, ein Heißluftballonrennen zu genehmigen. Wenn er das tut, werde ich dich nie wieder um einen Gefallen bitten.«

Sissi nickte und versuchte, ihre Erleichterung nicht zu zeigen. Ein Heißluftballonrennen klang harmlos. Er hätte sie mit weit Schlimmerem erpressen können.

»Wieso ist Ihnen das Rennen so wichtig?«, fragte sie trotzdem.

»Heißluftballons sind mein Hobby.« Es war gelogen, das hörte sie. »Hast du verstanden, was du zu tun hast?«

»Alles verstanden und geistig notiert«, sagte sie.

Sein Blick wurde noch kälter. »Verkauf mich nicht für dumm.«

»Nein.« Sie schüttelte rasch den Kopf. »Das tue ich nicht.«

»Gut.«

Einen Lidschlag später war er verschwunden. Leise fiel die Tür des Salons hinter ihm ins Schloss.

Sissi atmete tief durch und lehnte sich an die Wand. Ihr Rücken begann zu schmerzen, aber sie brauchte die Kühle der Mauer unter den Tapeten, um wieder klar denken zu können.

Wenigstens kann mich heute nichts mehr überraschen, dachte sie, als sich ihr Herz wieder beruhigt hatte.

Sie nahm den Leuchter mit den Kerzen, die Edgar angezündet hatte, und ging auf wackligen Knien zur nächsten Tür. Sie musste schlafen und sich ihren Gedanken am Morgen mit neuer Kraft stellen. Sie öffnete die Tür und sah das Bett, die Tapeten, Teppiche und Möbelstücke, die das Kerzenlicht aus dem Verborgenen riss.

»Ach du sch…«

Sissi - Die Vampirjägerin
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