KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
Ich habe anfangs geschrieben, dass der erste den Kindern Echnatons bekannte Vampir Ramses II. von Ägypten war. Doch wie weit die Geschichte dieser Spezies tatsächlich zurückgeht, kann bis heute niemand genau sagen. Würde man mir diese Frage in einer geselligen Runde stellen, so würde ich darauf antworten, dass ich an eine parallele Entwicklung zur Menschheit glaube und deshalb das Alter der Vampire weder höher noch niedriger einschätze als das unseres eigenen Volkes.
Doch in der Stille dieser Kammer und allein mit dem Papier, das vor mir liegt, fällt es mir leicht, zu schreiben, was ich wirklich denke: dass sie ewig sind und dass sie mit Anbeginn der Welt entstanden, so wie der Fels und der Sand. Kein Schöpfer hat ihnen das Leben geschenkt, um uns für unsere Sünden zu bestrafen, und kein Dämon führte sie aus der Hölle empor, um uns zu verderben. Im Gegenteil, wir wurden geschaffen, um die Welt von ihnen zu befreien. Sie sind die Sünde und wir ihr Verderben.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Sissi zog die altrosa Vorhänge zurück. Die Gärten wirkten grau und trostlos im ersten Licht des Tages. Sie hatte geglaubt, dass ihre Gedanken sie wach halten würden, war jedoch eingeschlafen, bevor sie ihr viel zu großes Kopfkissen zurechtklopfen konnte. Ihr Körper litt anscheinend noch unter den Verletzungen.
Das Bad befand sich hinter einer schmalen Tür rechts neben dem altrosa Grauen, in dem Sissi wohl die nächsten Jahre nächtigen würde. Eine Wanne stand in der Mitte des Raums, eine Kommode mit Handtüchern und duftenden Ölen an der Wand. Sissi ging auf den mannshohen Spiegel zu, der daneben hing, und zog sich ihr langes Unterhemd aus. Sie hatte darin geschlafen, ihr Gepäck war noch nicht aus Possenhofen eingetroffen.
Vorsichtig löste Sissi den Verband und verdrehte den Kopf, um im Spiegel einen Blick auf ihren Rücken werfen zu können. Der Anblick fühlte sich an wie eine eisige Faust in ihrem Magen. Vier wulstige lange Striemen zogen sich von ihrer Schulter über den ganzen Rücken. Es sah aus, als habe eine Raubtierpranke ihr die Haut aufgerissen.
Meine Götter, dachte Sissi. Sie konnte den Blick nicht abwenden, obwohl er sie entsetzte. Einerseits bemerkte sie, dass die Wunden gut verheilten und sie keinen Verband mehr benötigte, viel mehr beschäftigte sie jedoch die Frage, was sie nun anziehen sollte. Die Ballkleider, die sie besaß, waren schulterfrei – natürlich, sie war ja keine alte Frau – doch tragen konnte Sissi sie nicht mehr.
Franz-Josef hatte die Wunden sofort mit einem Vampir in Verbindung gebracht und er würde sicherlich nicht der Einzige sein, der auf diese Idee kam. Und was sollte sie sagen, wenn man sie danach fragte? Dass sie von einem Tiger angefallen worden war?
Ich brauche neue Kleider, dachte Sissi, am besten welche, über die sich auch eine Nonne freuen oder – sie schüttelte sich bei dem Gedanken – die Sophie sich aussuchen würde.
Erst der Anblick ihrer Haare brachte sie dazu, sich von den Wunden auf ihrem Rücken loszureißen. Meine Haare! Die sehen ja aus, als würden Eichhörnchen darin nisten.
Sie schüttete Wasser aus einer Karaffe in eine Schüssel und begann, ihr Haar darin auszuwringen und mit Seife zu waschen. Dann knotete sie sich ein Handtuch um den Kopf und schlüpfte in die Kleidung, die sie am Vorabend achtlos neben das Bett geworfen hatte. Die Schlammspritzer und Strohhalme störten sie nicht, die Risse im Rücken ihrer Bluse verdeckte sie mit ihrem Umhang.
Weder im Schlafzimmer noch in dem kleinen Salon schien es eine Klingel zu geben. Sissi fragte sich, wie man in diesem Palast Dienstboten zu sich rief, wenn man etwas benötigte. Aber sie fand keine Antwort auf diese Frage, nur eine weitere Tür halb versteckt hinter einem Vorhang, die zu einem großen, prunkvoll eingerichteten Arbeitszimmer führte. Auch dort gab es keine Klingel.
Dann werde ich wohl fragen müssen, dachte Sissi. Mit knurrendem Magen verließ sie ihre Privatgemächer.
Die Gänge der Hofburg lagen im Halbdunkel. Vorhänge bedeckten Fenster, die so hoch wie Scheunen waren. Ab und zu hörte Sissi Schritte durch die Gänge hallen, manchmal sogar Stimmen, aber sie sah niemanden außer den alten Männern auf den Gemälden an den Wänden, die ihr ernst und weise nachsahen.
Ob sie alle Vampire waren oder noch sind?, fragte sie sich. Sie wusste, dass Vampire Menschen ein anderes Aussehen als das eigene vorgaukeln konnten und oft jahrhundertelang auf dem gleichen Thron saßen. Der Gedanke versetzte ihr einen plötzlichen Stich. Sah Franz-Josef wirklich so aus, wie sie glaubte, oder trug auch er nur eine Maske? Sie hatte ihn noch nicht danach gefragt.
Sie ging eine breite Treppe hinunter in ein Stockwerk, das sich in nichts von dem unterschied, das sie gerade verlassen hatte. Einmal glaubte sie, einen uniformierten Dienstboten in einem Zimmer verschwinden zu sehen, aber als sie dort anklopfte, antwortete niemand.
Ich will doch nur frühstücken, dachte Sissi.
Dass sie die Türklinke in einer der tapezierten Wände entdeckte, überraschte sie selbst. Fast unsichtbar ragte sie zwischen goldbraunen Mustern hervor. Sissi drückte sie und zog die Tür auf. Dahinter lag ein schmales, hölzernes Treppenhaus, von dem Gänge über und unter ihr in die einzelnen Stockwerke abzweigten.
Deshalb sehe ich keine Dienstboten, dachte Sissi. Sie haben ihren eigenen Palast neben dem unseren.
Es kam ihr vor, als hätte sie eine eigene, verborgene Welt entdeckt. Der Geruch von frischem Brot zog durch das Treppenhaus, irgendwo unter ihr schepperte Geschirr. Stimmen unterhielten sich laut. Jemand lachte.
Sissi lief die Stufen hinunter. Als Kind hatte sie in Possenhofen oft den Köchen bei der Arbeit zugesehen, wenn das Wetter zu schlecht zum Spielen war. Man hatte sie Kartoffeln schälen lassen, als ihre Mutter ihr noch verbot, ein Messer zu benutzen, und ihr auch vom frischen Kuchenteig gegeben. An keinem anderen Ort hatte sie sich lieber aufgehalten. Vielleicht würde die Küche auch in der Hofburg zu ihrer Zuflucht werden, wenn die Anforderungen ihrer Position zu viel für sie wurden.
Sissi drängte sich an einigen Dienern vorbei, die ihr mit Tabletts in den Händen entgegenkamen. Einige blieben stehen und drehten sich nach ihr um.
Sie bog in einen Gang ein und hielt an der Tür zur Küche inne. »Grüß Gott«, sagte sie. »Kann ich bitte etwas Brot und Konfitüre haben und vielleicht eine Tasse Tee, wenn es keine Mühe macht?« Die letzten Worte sprach sie in die einsetzende Stille hinein. Wie erstarrt standen Köche, Diener und Küchenhilfen vor ihr, manche wurden ganz grau im Gesicht. Eine alte Köchin schlug sich eine mehlbedeckte Hand vor den Mund.
Die Küche war groß. Backöfen und Herde standen in langen Reihen an den Wänden, auf den Tischen in der Mitte wurde das Frühstück für die menschlichen Bewohner der Hofburg zubereitet. Sissi sah Tabletts mit Teekannen, Gebäck, frischem Brot und kleinen Tellern voll Konfitüre. Wasser dampfte in Töpfen, in denen niemand mehr rührte. Die Blicke aller waren auf Sissi gerichtet.
Sie schluckte und lächelte unsicher. »Vielleicht einen Zwieback stattdessen und etwas Milch?«
Niemand sagte etwas.
»Einen Apfel?«
Im Hintergrund, dort, wo die Mahlzeiten auf langen Arbeitsplatten vorbereitet wurden, seufzte eine junge Küchenhilfe und fiel in Ohnmacht. Eine andere fing sie auf.
Sissi wurde klar, dass sie es nur noch schlimmer machte, je länger sie blieb, was auch immer es war. Sie lächelte noch einmal und zog eines der Tabletts vom Tisch. »Ich nehme das dann mal, wenn’s recht ist«, sagte sie, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne eine zu bekommen. Dann verließ sie die Küche und machte sich auf den langen Weg zurück zu ihren Gemächern.
Franz-Josef würde erst am Abend erwachen. Bis dahin würde sie entscheiden, ob sie ihm von Edgars Besuch erzählte. Ihr wurde klar, dass es ihr bereits leichter fiel, an Franz-Josef als Vampir zu denken. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie es schon bald als normal betrachten, dass er die Tage verschlief und in den Nächten Blut trank.
So weit darf es nicht kommen, dachte sie. Bei aller … Sie zögerte, bevor sie das Wort verwendete … Liebe werde ich nie vergessen, weshalb ich hier bin.
Der Gedanke drohte ihre Stimmung zu ruinieren, also verdrängte sie ihn, dachte stattdessen an all das, was sie an ihrem ersten Tag in der Hofburg unternehmen würde.
Die Papiere, die Edgar ihr gegeben hatte, fielen ihr erst ein, als sie sie auf dem Tisch liegen sah. Sie sprang auf und lief damit zur Tür. Dreimal musste sie auf dem Weg eine Zofe fragen, bevor sie Franz-Josefs Arbeitszimmer fand. Die Mädchen waren so eingeschüchtert, dass sie selbst kaum mehr den Weg kannten. Sissi wusste nicht, weshalb.
Das Arbeitszimmer war ein gewaltiger, unpersönlicher Raum, dem man ansah, dass niemand dort viel Zeit verbrachte.
Das ist sein Langweilzimmer, dachte Sissi, als sie die Papiere auf den Stapel legte, vor dem ein Zettel mit dem Wort »Wichtig!« lag. Sie war sicher, dass Franz-Josef sie unterschreiben würde. Das ungute Gefühl, das sie dabei hatte, ignorierte sie.
Zuerst Frühstück, dann Giraffen.