KAPITEL DREIUNDZWANZIG
Vampire lieben Geschichten. Natürlich ist das eine Verallgemeinerung, doch man findet Vampire deutlich häufiger in Theatern und Bibliotheken als Menschen. Nur selten trifft man einen Vampir, dem die großen Dichter Europas nicht vertraut sind, und gelegentlich überraschen sie den menschlichen Zuhörer sogar mit intelligenten und klugen Interpretationen ihrer Werke. Auf der anderen Seite sei jedoch zu bemerken, dass ich in all meinen Jahren noch nie einem Vampir begegnet bin, der ein Buch geschrieben hat.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Zwölf Stunden zuvor
Mit einem Knall flog die Tür gegen die Wand. Franz-Josef fuhr hoch und schlug mit der Stirn gegen den Querbalken des Bettes.
Nicht schon wieder …
»Du gottverdammter Idiot!«
Franz-Josef schob sich unter dem Bett hervor und runzelte die Stirn. »Edgar?«
Der Vampir stand im Türrahmen. Dampf stieg von seiner Kleidung auf. Putz rieselte wie Schnee von der Decke und sammelte sich auf seinen Schultern.
»Was machst du denn hier?«, fragte Franz-Josef, während er aufstand und einen Blick auf Sissi warf. Sie lag ruhig unter ihrem Umhang und hatte die Augen fest geschlossen.
»Was machst du denn hier?«, äffte Edgar ihn mit viel zu hoher Stimme nach. Dann fuhr er in seinem normalen rauen Tonfall fort: »Was wohl? Nach dir suchen, du Depp! Und wenn man den Verwesungsgestank deiner Rattenmahlzeiten nicht schon meilenweit riechen könnte, wäre ich wahrscheinlich immer noch dabei.« Er klopfte sich den Putz von den Schultern und trat ein.
Franz-Josef sah, dass seine Augen tief in den Höhlen lagen und sich die Haut dünn über seine Knochen spannte. Er musste seit Tagen weder richtig geschlafen noch gegessen haben. Beinah tat er Franz-Josef leid.
»Ich habe dich nicht gebeten, das zu tun.«
»Das weiß ich.« Edgar kam näher. »Und es wäre mir persönlich auch scheißegal, wenn man mit deiner Asche die Felder düngen würde, aber da der ganze Palast in Aufruhr ist, musste ich leider so tun, als wäre ich um dein Wohlergehen besorgt. Dabei ist es mir, um das noch mal ganz klar zu sagen …«, er streckte das Kinn vor, die Sehnen in seinem Hals spannten sich, »… scheißegal.«
»Das sagtest du schon.« Franz-Josef achtete darauf, zwischen ihm und Sissi zu bleiben. Er merkte, dass Edgar Sissi immer wieder musterte, und versuchte ihn abzulenken. »Wieso macht man sich denn im Palast Sorgen? Ich hatte Ludwig doch eine Notiz hinterlassen.«
»Die aussah, als habe ein Dreijähriger sie mit den Fingern gemalt. Jeder hätte sie schreiben können: Anarchisten, Ungarn, Kinder Echnatons …«
Fiel sein Blick nur zufällig auf Sissi? Franz-Josef war verunsichert. Er kann es nicht wissen, dachte er dann. Selbst Sophie weiß es nicht.
»Was ist mit den Kutschern? Ich hatte sie doch zum Palast geschickt?«
»Du hast sie in das Kaff, aus dem sie kamen, zurückgeschickt, und als sie dort eintrafen, wussten sie nicht mehr, wo und warum sie Sissi abgesetzt haben.« Edgar genoss jedes Wort, das war ihm anzusehen. »Die Panik kannst du dir ja vorstellen.« Er deutete mit dem Kinn auf Sissi. »Und was ist mit ihr? Warum sagt sie kein Wort?«
Franz-Josef wollte antworten, aber Edgar fiel ihm ins Wort. »Betört hast du sie jedenfalls nicht, sonst würde sie schon schreiend umherrennen.« Er grinste.
»Sie ist krank«, antwortete Franz-Josef, ohne auf die Bemerkung einzugehen, obwohl Wut ihm fast die Kehle zuschnürte. »Ich wollte ihr helfen.«
Edgar zog die Nase hoch. »Schlechtes Blut, hm?«
»Sie ist fast geheilt.« Franz-Josef verspürte Stolz bei dem Gedanken, versuchte ihn aber nicht zu zeigen. Edgar hätte ihn nur verhöhnt. Noch mehr verhöhnt, korrigierte er sich.
Das tat er auch so. »Franz, der Bergdoktor. Ich glaube, ich habe im Wald eben ein Reh gesehen, das lahmte. Vielleicht kannst du dem ja auch helfen.« Er betrachtete Sissi einen Moment lang. »Das ist also deine Braut, ja? Ich würde das natürlich wissen, wenn ich auf dem Ball gewesen wäre, aber nach der kleinen … Feierlichkeit am Tag davor wollte Sophie Pierre und mich dort nicht sehen. Ich frage mich immer noch, wie sie davon erfahren hat.«
Franz-Josef hob die Schultern. »Keine Ahnung.«
Stille senkte sich über das Zimmer.
Sogar die Ratten in den Mauern schwiegen.
Er räusperte sich. »Da du mich gefunden hast, kannst du ja jetzt zurück zur Hofburg reiten und den anderen sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen und dass Sissi und ich nachkommen werden, sobald es ihr besser geht.«
»Es ist Tag.«
»Oh. Natürlich.« Franz-Josef fluchte innerlich, rang sich dann aber ein Lächeln ab. »Du bist hier willkommen. Der Keller ist dunkel und sehr bequem. Du kannst ihn gern haben.«
Edgar nickte und trat zur Seite. »Zeig mir den Weg.«
Etwas stimmte nicht. Franz-Josef spürte es, ohne erkennen zu können, was es war. Er wollte an Edgar vorbeigehen, doch der packte ihn plötzlich an den Schultern und schleuderte ihn gegen die Wand. Dann setzte er nach, presste den Arm gegen Franz-Josefs Kehle und drückte dessen Kopf nach hinten.
»Was ist hier los?« Seine Stimme war ein Zischen, sein Gesicht nur eine Handlänge von Franz-Josefs entfernt. »Deine Braut ist sterbenskrank, aber du bringst sie nicht zu einem Arzt, sondern versuchst selbst, ihr zu helfen.«
Franz-Josef stemmte sich gegen ihn, aber Edgar war älter und stärker als er. »Sie wollte in diesem Zustand nicht im Palast ankommen.«
»Es gibt andere Ärzte.«
»Die sie vielleicht erkannt hätten. Du weißt doch, wie gefährlich die Lage im Moment ist. Ich wollte nicht riskieren, dass sie entführt wird.«
»Hat sie deshalb ein Schwert dabei?«
Franz-Josef schluckte. Edgar drückte stärker zu. Putz bröckelte, ein Balken begann zu knarren.
»Lüg mich nicht an, Franz. Ich weiß, dass es ihr Schwert ist. Ihr Geruch hängt daran.«
Hätte ein anderer als Edgar vor ihm gestanden, wäre Franz-Josef versucht gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen. Seit Nächten dachte er an kaum etwas anderes als an das Schwert und was es bedeutete. Doch es war Edgar, der eine Antwort forderte, und er hätte Sissi ohne zu zögern getötet.
»Das Schwert ist ein Familienerbstück«, sagte er schließlich. »Ihr Vater hat es ihr mitgegeben, weil Sissi sehr daran hängt.«
»Du lügst.« Edgar rammte ihm das Knie in den Magen. Franz-Josefs Beine gaben nach. Er wäre zusammengebrochen, wenn Edgar ihn nicht gehalten hätte. »Wir reden heute Abend darüber.« Der ältere Vampir zog ihn hinter sich her in den Flur, sah sich kurz um und ging dann zielsicher auf die Tür zu, die in den Keller führte. »Ich werde bei deiner Braut bleiben. Vielleicht hat sie mir ja etwas zu erzählen, wenn sie zu sich kommt.«
»Nein!« Franz-Josef wusste nicht, woher er die Kraft nahm, mit der er sich losriss. Er rammte Edgar den Ellenbogen in die Rippen, fuhr herum und war mit einem Satz an der Tür zu Sissis Zimmer. Das Katana war seine einzige Chance.
Edgar tauchte vor ihm auf, bevor er den Türrahmen passieren konnte.
Mein Gott, ist er schnell, dachte Franz-Josef, noch während er zurückgeschleudert wurde und zwischen Rattenkadavern zu Boden ging. Er trat nach Edgar, doch der wich mühelos aus, schoss vor und hob Franz-Josef an der Kehle hoch. »Dann eben so«, sagte er.
Franz-Josef verstand erst, was er meinte, als er bereits durch die Luft flog. Mit dem Rücken voran durchschlug er die Tür zum Keller, er sah Steinstufen unter sich, rollte sich ein und biss die Zähne zusammen. Der Aufprall raubte ihm fast das Bewusstsein. Er überschlug sich, prallte gegen eine Wand und rutschte den Rest der Treppe hinunter. Knochen knirschten, als er versuchte, sich zu bewegen.
»Gute Nacht!«, rief Edgar in den Keller hinab, dann schlug er die kaputte Tür zu. Franz-Josef hörte, wie etwas davorgeschoben wurde. Seine Augen schlossen sich, ohne dass er es wollte.
Nein …
»Hallo? Ist jemand hier?«
Sissis Stimme! Franz-Josef kämpfte sich durch den Nebel seiner Benommenheit. Sein ganzer Körper schmerzte, doch die schlimmsten Verletzungen schienen geheilt zu sein. Die beiden Otter, die er am Vorabend leer getrunken hatte, mussten genügt haben. Am Treppengeländer zog er sich auf die Beine.
Über sich hörte er Schritte. Sie waren zu leicht, um Edgars zu sein, also mussten sie von Sissi stammen. Die Erleichterung riss ihn vollends aus dem Schlaf. Irgendwie musste es ihr gelungen sein, sich zu befreien.
Franz-Josef erreichte das Ende der Treppe. Die zersplitterte Tür wurde von außen von einem Möbelstück verdeckt, wahrscheinlich einem Schrank. Er drückte gegen die Rückwand. Sie war so dünn, dass sie unter seinen Fingerspitzen nachgab.
Nein, sie gibt nicht nach, dachte er dann, als er die Scharniere bemerkte. Es war eine Tür, keine Rückwand. Irgendwann einmal hatte sie zu einem Geheimnis geführt.
Was ist das nur für ein Haus?, fragte er sich.
Er schob sie auf und sah durch die offene Schranktür in den Gang. Sissi verschwand gerade in ihrem Zimmer. Er wollte sie rufen, hielt aber im letzten Moment den Mund. Wenn Edgar noch schlief, wovon auszugehen war, durfte er ihn nicht wecken. Alte Vampire schliefen länger und tiefer als junge, aber laute Rufe weckten auch sie.
Franz-Josef stieg aus dem Schrank und ging durch den Gang zur Zimmertür. Mit einem Blick nahm er das Bild auf, das sich ihm bot.
Edgar lag unter dem Bett und schlief, Sissi stand davor und hatte das Katana erhoben. Die Spitze zeigte auf die Matratze. Das Schwert würde sie durchdringen, wenn sie zustieß, und sich ins Herz des Vampirs darunter bohren. Sissi wirkte so ruhig, so konzentriert, als habe sie das schon hundert Mal getan. Sie bot einen verstörenden Anblick, jung, hübsch und tödlich.
Franz-Josef zögerte. Es wäre so einfach gewesen, nichts zu tun, sie zustoßen zu lassen und sein Problem in einer Pfütze aus Asche und Schleim verschwinden zu sehen. Doch als sich ihre Muskeln spannten und sie den Atem anhielt, machte er einen Satz nach vorn und packte ihre Hände.
»Nein!«, sagte er. Franz-Josef sah den Schreck in ihrem Gesicht, spürte den Widerstand gegen seinen Griff.
»Er ist ein Vampir«, flüsterte sie, als sei damit alles gesagt.
»Das bin ich auch.«
»Ich weiß.«
Sie sahen sich an. Sissi hatte die Augen eines Rehs, weich und warm. Der harte Stahl in ihren Händen wirkte auf Franz-Josef wie ein Verrat an dem, was sie war, was sie hätte sein können.
»Was hat man mit dir gemacht, dass du uns so hasst?«, fragte er leise.
Die Frage schien sie zu verwirren, als habe sie noch nie in Betracht gezogen, dass es noch etwas anderes als Hass in ihrem Leben geben könnte.
»Wirst du mich ihn töten lassen?«
Er schüttelte den Kopf. »Komm. Er wird bald aufwachen.«
Franz-Josef ließ ihre Hände nicht los, selbst dann nicht, als sie das Schwert senkte. Er führte sie aus dem Zimmer, schloss die Tür und sie blieben im Flur stehen. Draußen verschwand die Abendsonne gerade hinter den Bäumen. Eine halbe Stunde noch, schätzte Franz-Josef, dann konnten sie aufbrechen. Er hoffte, dass Edgar nicht vorher aufwachte. Die Chancen standen gut, denn der Vampir war erschöpft und brauchte den Schlaf.
Stumm standen sie sich gegenüber. Einige Male setzte Franz-Josef dazu an, etwas zu sagen, aber schließlich war es Sissi, die das Schweigen brach.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
Franz-Josef erklärte es ihr, froh darüber, etwas Unverfängliches sagen zu können. Er holte zu weit aus und redete zu lang, doch Sissi schien das nicht zu stören, als sei auch sie froh, den großen Themen aus dem Weg gehen zu können.
»Dann hast du mir das Leben gerettet«, sagte sie, als er nach einer Weile beim besten Willen nichts mehr hinzufügen konnte.
»Du hättest dasselbe getan«, antwortete er, ohne nachzudenken, und sah, wie Sissi die Lippen zusammenpresste.
Das Schweigen kehrte in den Flur zurück und machte es sich bequem. Franz-Josef warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster des anderen Zimmers, aber die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Er wünschte, er hätte etwas tun oder sagen können, doch nichts wollte ihm einfallen. Jede Bemerkung, jede Geste konnte missverstanden werden. Es war, als liefe man mit geschlossenen Augen über eine Weide und hoffte, in keinen Kuhfladen zu treten.
Er räusperte sich.
Sissi sah ihn erwartungsvoll an, aber er wich ihrem Blick aus und sagte nichts.
Sissi holte Luft. »Ist es …?«, begann sie.
»Ja? Was denn?« Er kam sich vor wie ein Hund, der darauf wartete, dass man ihm einen Knochen zuwarf.
»Ist es schon dunkel genug für dich?«
»Ja, ich meine, nein … fast.« Er sah wieder aus dem Fenster. Regentropfen benetzten die zersprungene Scheibe. »Ein paar Minuten noch. Kannst du reiten?«
»Natürlich kann ich reiten.« Ihre Vehemenz überraschte ihn. »Denkst du, so ein niederes Geschöpf wie ich könne kein Pferd beherrschen. Wo lebst du eigentlich?«
»Ich meinte nur, ob du dich stark genug dafür fühlst.«
»Oh.« Sie blinzelte, schluckte und atmete durch. »Ja, ich kann reiten.«
»Gut.«
»Dann … äh …« Sissi rang nach Worten. »Dann ist das dein Pferd da draußen?«
»Ja.«
»Schönes Tier, sehr … edel.«
»Ja.« Franz-Josef wusste, dass er mehr als nur dieses eine Wort sagen musste. »Und es ist schnell.«
»Das … äh … glaube ich. Es sieht auch schnell aus.«
»Sehr schnell.« Franz-Josef sah wieder aus dem Fenster. Es war noch etwas zu hell, aber selbst Kopfschmerzen waren besser, als noch länger in diesem Flur herumzustehen. »Wir können dann los.«
Sissi war so schnell an der Tür, dass man hätte glauben können, sie sei selbst ein Vampir. »Ich sattle schon mal.«
Er lauschte noch kurz in das Zimmer hinein, in dem Edgar – hoffentlich – immer noch schlief, dann folgte er ihr.
Das Licht stach in seinen Augen und die Wärme brannte auf seiner Haut, aber dank des Regens waren die Schmerzen erträglicher, als er erwartet hatte. Sissi hatte den Hengst bereits die Decke auf den Rücken gelegt, als er zu ihr trat. Gemeinsam sattelten sie das Pferd, dann stieg Franz-Josef auf und reichte Sissi die Hand. Dass sie zögerte, schmerzte ihn mehr als das Licht. Schließlich ließ sie sich doch auf den Pferderücken ziehen. Quer saß sie vor ihm. Ihre Schulter berührte seine Brust. Er konnte nicht erkennen, ob ihr das unangenehm war, denn sie hatte den Blick nach vorn gerichtet.
»Wird er uns nicht folgen?«, fragte Sissi, als sie das Anwesen verließen und auf den Weg einbogen, der zur Straße führte.
»Wozu? Er kann sich denken, wohin wir reiten.«
»Kann er das?«
Franz-Josef runzelte die Stirn. »Es gibt doch nur eine Möglichkeit. Den Palast.«
Mit einem Ruck schlug sie die Kapuze ihres Umhangs hoch. Der Stoff klatschte Franz-Josef ins Gesicht.
»Und was ist, wenn ich nicht will?«, fragte Sissi, ohne ihn anzusehen. »Ich meine das als eine rein theretische Frage.«
»Rein theoretisch«, sagte Franz-Josef, »kannst du natürlich nach Possenhofen zurückkehren, dann müssten deine Eltern allerdings Sophie erklären, weshalb du den Kaiser verschmähst. Egal, wie die Antwort ausfiele, ein Skandal wäre unausweichlich. Vielleicht gäbe es sogar Krieg.«
»Krieg?« Nun wandte ihm Sissi doch das Gesicht zu. »Wegen mir, der Sissi aus Possenhofen?«
Ihre Naivität erschien ihm aufgesetzt. »Ja«, sagte er beißend. »Weil sich die Sissi aus Possenhofen und der Franzl aus Bad Ischl nicht mehr verstehen, schlachten sich ganze Armeen gegenseitig ab.« Er schüttelte den Kopf. »Herrgott, Sissi, du weißt doch genau, wer ich bin, und ich weiß, wer du bist.«
»Wer bin ich denn?«
Ihre Frage überraschte ihn, doch dann wurde ihm klar, dass Sissi das von Anfang an vorgehabt hatte. Sie wollte herausfinden, wie viel er über sie wusste.
Franz-Josef lenkte sein Pferd auf die Straße. Seine Stimme war ruhig, als er antwortete: »Der Feind.«
Sie wandte sich ab von ihm. Regentropfen sammelten sich auf ihren Schultern und liefen wie Tränen über ihren Rücken.
»Wir sind der Feind des Bösen«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn du uns als den Feind betrachtest, dann musst du böse sein.«
»Glaubst du das wirklich?« Franz-Josef wünschte, sie hätte ihn angesehen. »Könntest du jemanden lieben, der böse ist?«
»Du trinkst das Blut von Menschen!«
»Und du isst Fleisch!«
Sissi fuhr herum. Das Pferd schnaubte ungehalten. »Das willst du doch nicht wirklich vergleichen, oder? Einem Menschen in den Hals zu beißen und sein Blut auszusaugen, ist etwas vollkommen anderes, als eine Frikadelle zu essen.«
»Frag mal eine Kuh.«
Sissis Augen blitzten. »Ich kann keine Kuh fragen, weil sie zu dumm ist, mich zu verstehen. Aber du könntest einen Menschen fragen, was er davon hält, ausgesaugt zu werden, und er würde dir sagen, dass er das nicht will.«
»Aha! Dann esst ihr also nur das, was dümmer ist als ihr. Etwas anderes tun wir auch nicht.«
»Du hältst mich für dumm?«
Für dümmer als einen Vampir, wollte Franz-Josef sagen, schluckte die Worte aber im letzten Moment herunter.
Sissi schien sein Schweigen als Zustimmung zu werten, denn sie verschränkte die Arme vor der Brust und schnauzte ihn an. »Ich bin nicht dumm!«
»Grüaß Gott.«
Franz-Josef fuhr herum und sah einen Bauer, der eine Kuh an einem Strick führte und aus einem Feldweg trat. Er wusste nicht, wie viel der Mann von der Unterhaltung mitbekommen hatte.
»Du hast nichts gesehen und nichts gehört«, fuhr er den Bauern mit seiner betörenden Stimme an.
Der Mann nickte. Sein Blick wurde glasig. »I hob nix g’seahn und nichts g’heart.« Dann ging er weiter.
»Genau das meine ich«, erklärte Sissi wütend, als er außer Hörweite war. »Du hast keinen Respekt vor den Menschen. Für dich und deinesgleichen sind wir nur Vieh.« Franz-Josef öffnete den Mund, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es bringt euch um den Verstand, dass sich das Vieh nicht alles bieten lässt, dass es zurückschlägt wie in Frankreich und Amerika und euch mit jeder Revolution weiter in die Ecke drängt. Eines Tages werden wir den Letzten von euch pfählen und die Menschheit in die Freiheit führen.«
»Und wenn ich der Letzte wäre, würdest du mich dann pfählen?«
Das ließ sie verstummen. Ihr Blick ging ins Leere, sie hielt den Kopf gesenkt.
Er respektierte es, dass sie tatsächlich über die Antwort nachdachte.
»Ich wünschte, ich könnte Ja sagen.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. Das Feuer war aus ihren Augen verschwunden. »Aber nein, nein, ich würde es nicht tun und ich weiß einfach nicht, weshalb.«
Franz-Josef brachte das Pferd zum Stehen. »Weil du mich liebst?«, fragte er leise.
Sie sagte nichts und legte nur stumm den Kopf an seine Schulter.
Als der Morgen nahte, suchten sie Unterschlupf in einer leeren Scheune. Franz-Josef deckte Sissi mit Stroh zu, damit es sie wärmte, er selbst legte sich ein Stück von ihr entfernt auf den Boden. Er war erschöpft, aber wenn er die Augen schloss, drehten sich seine Gedanken wie wild im Kreis. Was würde Edgar tun, wenn er in den Palast zurückkehrte, was Sissi?
»Kannst du nicht schlafen?«, erkundigte sie sich auf einmal, gedämpft durch das Stroh.
»Nein.«
Sie zögerte. »Willst du zu mir kommen?«, fragte sie dann unsicher.
Franz-Josef setzte sich ruckartig auf. Das Stroh raschelte, als er sich neben sie legte.
»Hast du je …?«, begann sie, aber er verschloss ihren Mund mit einem Kuss.
Und wieder röhrte irgendwo in der Ferne ein Hirsch.