KAPITEL VIERZEHN
Die Französische Revolution war nicht nur der größte Erfolg der Kinder Echnatons, sondern gleichzeitig auch ihr größter Fehlschlag. Sie hatten gehofft, durch die Öffentlichkeit der Hinrichtungen und die spektakuläre Art und Weise, mit der Vampire ihre Existenz beenden, würde die breite Masse endlich erkennen, wer wirklich über sie herrschte, doch das passierte nicht. Wer sich in diesem Herbst 1789 in Paris aufhielt (und überlebte), beobachtete stattdessen Merkwürdiges: Vampire, die im Sonnenlicht zu Staub zerfielen, wenn sie zu ihrer Hinrichtung gebracht wurden, und Guillotinen, neben denen Henker auf dem Schleim der Getöteten ausrutschten, ohne sich etwas dabei zu denken. Alles spielte sich vor den Augen des johlenden Volkes ab, doch kein einziger Mensch, nicht einer von den Zigtausenden, die sich auf den Plätzen von Paris drängten, schien die Vampire tatsächlich zu sehen. Es ist oft darüber spekuliert worden, warum das so war. Manche gehen von einem bisher noch unerklärten Phänomen aus, das uns möglicherweise angeboren ist und es uns erschwert, die Wahrheit zu erkennen, andere unter den Kindern Echnatons glauben, dass Vampire das Land betörten, um ihre Enttarnung zu verhindern. Letztere Theorie ist allerdings umstritten, denn die Gedankenkraft, die dazu nötig wäre, ist kaum vorstellbar.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Es traf Sissis Vater härter, als sie gedacht hatte. Zwei Tage lang schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein, verließ es nur nachts und redete mit niemandem ein Wort. Selbst die Hunde gingen ihm aus dem Weg. Am Morgen des dritten Tages hörte Sissi schließlich, wie er den Schlüssel umdrehte und durch das Treppenhaus nach unten ging. Wenig später ritt er davon.
Sissi schlug die Bettdecke zurück und sah sich in ihrem Zimmer um. Sophie hatte sie für den fünfzehnten September nach Wien in den Palast bestellt, was bedeutete, dass ihr weniger als drei Wochen für die Vorbereitungen blieben. Bisher hatte jedoch nur ihre Mutter damit begonnen. Von ihr wurde Sissi in die komplizierten Eigenheiten des Spanischen Hofzeremoniells eingeführt. Ihre Schwester und ihr Vater, diejenigen, die ihr hätten erklären sollen, was sie bei Hof zu tun hatte, hielten sich fern und ihre Mutter sagte nur, sie wolle sich in die Belange ihres Gatten nicht einmischen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben, dachte Sissi, während sie aufstand und sich einen Morgenmantel überzog. Sie fühlte sich allein gelassen.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schlug die ungarische Grammatik auf, die sie aus Nénés Zimmer entwendet hatte. Drei Stunden lang versuchte sie, darin zu lesen, aber die Worte verschwammen vor ihren Augen. Stattdessen drängte sich Franz-Josef in ihre Gedanken. Er trug seine Kaiseruniform und hielt den Strauß roter Rosen in der Hand.
Wenn er nur nicht so gut aussehen würde, dachte Sissi, und so nett wäre … Wenn ich ihn nur nicht lieben würde.
Sie schlug das Buch zu, als Hufschlag im Hof erklang, und trat ans Fenster. Ihr Vater stieg gerade von seinem Pferd und reichte die Zügel einem Knecht. Die beiden Männer unterhielten sich einen Moment, dann sah Herzog Max plötzlich zu ihrem Fenster hinauf. Sissi wäre beinah unwillkürlich zurückgewichen, als täte sie etwas Verbotenes, doch dann winkte sie ihrem Vater zu.
Er erwiderte die Geste und zeigte zur Eingangstür. Ich will mit dir reden, schien er sagen zu wollen.
Sissi zog sich rasch an. Ihr Herz schlug schneller. Als sie unten ankam, standen ihr Vater und ihre Schwester bereits an der Tür zum Keller.
»Kommt«, sagte Herzog Max.
Hintereinander stiegen sie die Treppe hinunter, gingen durch lange Gänge, vorbei an Apfel-und Kartoffelkisten, und blieben vor einer Wand stehen. Néné bückte sich und drückte einen der Ziegel hinein. Sissi hörte, wie der Mechanismus in der Mauer zu knirschen und zu quietschen begann, dann schwang die Wand auf. Der große Raum, der dahinter lag, war Sissi so vertraut wie ihr eigenes Zimmer. Schwerter, Äxte und Dolche hingen an den Wänden, auf dem Boden lagen einige Matratzen, auf denen sie gelernt hatte, zu fallen und Gegner über die Schulter zu werfen. In einer Ecke hingen schwere silberne Ketten. Sie hatte immer gehofft, dass sie eines Tages einen Vampir gefangen nehmen würden, doch das war nie geschehen.
Herzog Max öffnete eine schmale Tür am Ende des Raums. Der Geruch nach altem Papier schlug Sissi entgegen. Bücher und Schriftrollen stapelten sich in den Regalen, auf dem Schreibtisch lag eng beschriebenes Papier. Herzog Max nannte den Raum: Das Zimmer der Legenden, Sissi nannte es: Das Zimmer der Langeweile. Hier hatte sie das Gebet auswendig lernen und sich all die Geschichten anhören müssen, die ihr Vater über Vampire zusammengetragen hatte. Néné hatte sehr viel Zeit auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch verbracht. Sissi hatte sie nicht darum beneidet.
Früher einmal war das anders gewesen. Damals, als sie und Néné Kinder gewesen waren, hatte Sissi oft darum gebeten, mit in das Zimmer gehen zu dürfen, um an all den Dingen teilzuhaben, die Néné dort erfuhr. Doch ihr Vater hatte es stets verboten.
»Du bist eine Soldatin«, hatte er gesagt, wenn Sissi nach dem Grund fragte, »und Néné eine Spionin. Jede von euch erfährt, was sie auf ihrem Weg brauchen wird.«
Und so hatte Néné Ungarisch und Spanisch, Französisch, Englisch und Serbisch gelernt, während Sissi vor der Tür den Schwertkampf übte. Néné wurde beigebracht, wie man sich bei Hof benahm, wie man redete, mit fünf verschiedenen Bestecken aß und sich über Themen wie Philosophie, Geografie, Geschichte und Kunst unterhielt; Sissi dagegen lernte den Umgang mit Beidhändern, Degen und Dolchen.
Manchmal hatte sie während Nénés stundenlangen, ihr endlos erscheinenden Übungseinheiten heimlich an der Tür gelauscht, um wenigstens etwas von der fremden Welt, die sich dahinter auftat, zu erfahren. Doch irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass diese Welt in ihrem Leben keine Rolle spielen würde, und sich stattdessen darauf konzentriert, die beste Soldatin zu werden, die ein Vater sich nur wünschen konnte.
Sie erinnerte sich noch an den Nachmittag, an dem sie sich endgültig von dem Zimmer, durch das unbekannte Worte wie seltsame exotische Vögel flatterten, abgewandt hatte. Dann bleibe ich eben ungebildet und dumm, hatte sie damals gedacht. Aber all der schöngeistige Quatsch wird Néné nicht retten, wenn die Vampire kommen. Ich werde das tun.
Mittlerweile erschien ihr diese Reaktion trotzig, aber wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber war, musste sie sich eingestehen, dass sie auch heute noch so empfand.
Herzog Max schloss die Tür hinter sich. »Setzt euch«, sagte er.
Sissi räumte ein paar Bücher von einem Hocker und nahm darauf Platz. Néné blieb stehen. Seit dem Abend in der Sommerresidenz hatte sie abgenommen, ihr Gesicht wirkte hohlwangig, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, als leide sie an Schwindsucht. Nachts hörte Sissi sie oft auf und ab gehen. Sie schien nicht gut zu schlafen.
Herzog Max lehnte sich an die Schreibtischkante, verschränkte die Arme vor der Brust und unterdrückte ein Gähnen. Er war unrasiert.
»Ich habe dem Cousin in Wien telegrafiert«, sagte er.
Johannes Reinisch war nicht wirklich ein Cousin, sie hatten es sich nur angewöhnt, ihn so zu nennen, um Fragen aus dem Weg zu gehen. Wie alle anderen Cousins, die man Sissi vorgestellt hatte, gehörte er zu den Kindern Echnatons.
»Er wird ein Treffen anberaumen, damit wir die veränderte Sachlage …«, Néné senkte den Kopf, »… besprechen können. Für dich, Sissi, ist es natürlich zu spät, aber wir werden dafür sorgen, dass du alles erfährst, was wir dort beschließen.«
»Und wenn ich auch etwas beschließen will?«, fragte Sissi, aber ihr Vater ignorierte es. Er wirkte angespannt, als habe er Angst vor dem, was er als Nächstes sagen musste.
»Unser ursprünglicher Plan sah vor, Néné in den Palast einzuschleusen. Wir wissen, dass Sophie in unregelmäßigen Abständen die hochrangigsten Vampire Europas zu sich bittet, um weitab von allem aristokratischen Pomp die Geschicke der Länder zu bestimmen. Néné sollte dieses Treffen sprengen.« Er lächelte knapp. »Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Niemand hatte Sissi je die Einzelheiten des Plans verraten. Bis zu dieser Stunde hatte sie nur gewusst, dass Néné zur Attentäterin werden sollte und wahrscheinlich dabei sterben würde.
»Mit einer Bombe?«, fragte sie. Die Überraschung in ihrer Stimme schien Néné zu ärgern.
»Ich habe schon mit vier Jahren Bomben gebaut«, erklärte sie.
»Warum habe ich das nicht gewusst?«
»Weil jeder nur das erfährt, was nötig ist.« Ihr Vater begann im Zimmer hin und her zu gehen. »Das schließt dich ein.«
Sissi öffnete den Mund, verzichtete dann jedoch auf Widerworte. Ihr Vater war in einer seltsamen Stimmung.
»Dann bringt mir eben bei, wie man eine Bombe baut. So schwer kann es nicht sein.« Wenn sogar Néné es gelernt hat, fügte sie in Gedanken hinzu. Ihre Schwester war nicht gerade das, was man geschickt nennen würde.
»Ich wünschte, das wäre unser einziges Problem.« Ihr Vater blieb stehen und sah Néné an, fast so, als bitte er um ihre Erlaubnis, fortzufahren. »Die Vampire leben im Wiener Palast in ihrem eigenen Trakt, der von Wölfen abgeriegelt wird.«
»Die mit Fell?«, unterbrach Sissi ihn.
»Nein, ich meine die Selbstschussanlagen. Néné hätte sie überwinden können, du nicht.« Er sprach nicht weiter, als sei damit alles gesagt.
Sissi runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«
»Weil du nach Mensch riechst«, sagte Néné. Sie klang nervös.
»Und wonach riechst du?«, fragte Sissi. »Nach Wildschwein?« Es sollte ein Scherz sein, aber niemand lachte.
»Nein.« Néné faltete die Hände im Schoß. »Ich rieche nach gar nichts.«
Ihre Worte hingen in der Luft. Herzog Max trat neben seine Tochter und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie drückte sie mit einem Lächeln.
Sissi fuhr sich durchs Haar und freute sich darüber, wie glatt und glänzend es im Kerzenlicht des Zimmers aussah. Ich sollte mich nur noch bei Kerzenlicht zeigen, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass sie noch nichts erwidert hatte.
»Was soll das heißen?«, fragte sie. »Wieso riechst du nach …«
Ihr Vater schnitt ihr das Wort ab. »Herrgott noch mal, Sissi, weil sie so ist wie die Buben!«
Etwas schien plötzlich in Sissis Kehle zu stecken, ihr Magen begann zu schmerzen. »Sie ist …«, es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen, »… sie ist zur Hälfte Vampir?«
Néné nickte.
Sissi kam es vor, als säße plötzlich eine Fremde vor ihr. »Dann sind wir nicht verwandt?«, fragte sie. »Bist du aufgenommen worden, so wie die Buben?«
»Ihr habt dieselbe Mutter«, erklärte Herzog Max, »nur nicht denselben Vater.«
»Dann …« Sissi wagte es kaum, den Gedanken zu Ende zu führen. Dass ihre Mutter mit einem Vampir … verkehrt hatte, erschien ihr unglaublich. »Wer ist der Vater?«, fragte sie schließlich, weniger aus Interesse als aus dem Bedürfnis heraus, die Stille zu beenden.
»Das wurde mir bislang nicht mitgeteilt«, sagte Néné gepresst. Das Thema schien ihr unangenehm zu sein.
Verständlich, dachte Sissi. Ihre Augen weiteten sich plötzlich. »Aber es ist nicht Franz-Josef, oder?«
»Natürlich nicht.« Empört schüttelte Herzog Max den Kopf. »Glaubst du wirklich, ich würde meine eigene Tochter zur Heirat mit ihrem Vater …« Er unterbrach sich. »Ach, ihr wisst schon, was ich meine.«
Néné sah Sissi an. »Verstehst du jetzt, weshalb ich dir sagte, ich könnte Dinge, die du nicht kannst?«
»Ja.« Mehr brachte sie nicht heraus. Sissi war zu verwirrt, zu schockiert, um alles verarbeiten zu können, was sie hörte. Mit weichen Knien stand sie auf. »Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen und ungarische Vokabeln lernen.«
Ihr Vater und ihre Schwester warfen sich einen kurzen Blick zu.
»Soll ich dich nachher abhören?«, fragte Néné.
»Vielleicht, ich weiß nicht.« Sissi schloss die Tür hinter sich. Einen Moment lang blieb sie an das kühle Holz gelehnt stehen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie Blätter in einem Herbststurm. Erst Franz-Josef, nun auch noch Néné. Je mehr Sissi von der Welt erfuhr, desto weniger gefiel sie ihr. Am liebsten hätte sie sich auf ihr Pferd geschwungen, wäre losgeritten und nie wieder zurückgekehrt.
Ihre Schwester die Tochter eines Vampirs, eine Missgeburt, so wie die Buben, die sie so argwöhnisch belauerten. Vielleicht hatte Prinzessin Ludovika sie deshalb bei sich aufgenommen, als Sophie sie ihr brachte. Schwächlich und zurückgeblieben, nicht reif für das Leben in einem Palast, hatte man sie beschrieben, dabei war jedem klar gewesen, dass die Buben aus unheiligen Verbindungen entstanden waren. Sie trugen den Keim eines Ungeheuers in sich, der sich eines Tages vielleicht entfalten würde. So wie bei ihrer Schwester.
Sie ist immer noch der gleiche Mensch … die gleiche Person, zwang sich Sissi zu denken. Sei nicht ungerecht zu ihr.
Sie drehte sich um, schluckte und öffnete die Tür. Ihre Schwester und ihr Vater unterbrachen ihr Gespräch.
»Néné«, sagte Sissi. Sie war froh über den ruhigen Klang ihrer Stimme. »Ich würde mich freuen, wenn du mich nach dem Mittagessen abhören würdest.«
Néné lächelte.