KAPITEL ZWANZIG

Laien fällt es häufig schwer, einen Vampir von einem Menschen zu unterscheiden, und selbst die Kinder Echnatons irren gelegentlich. Vampire sind in der Lage, ihre Fangzähne nach Belieben zu verstecken, ähnlich einer Wespe, die ihren Stachel nur zeigt, wenn sie ihn zu benutzen gedenkt. Die Behauptung, Vampire müssten zubeißen, wenn die Fänge einmal ausgefahren sind, da sie sonst nicht wieder im Zahnfleisch verschwinden könnten, ist jedoch falsch. Sie sind durchaus dazu in der Lage und haben das auch immer wieder unter Beweis gestellt. Die Fänge wachsen außerdem bei Verletzungen innerhalb kürzester Zeit nach, solange der Vampir über genügend Blut im Körper verfügt. Wie wir an anderer Stelle sehen werden, ist Blut die Triebfeder des gesamten Vampirorganismus. Ohne Blut verdorrt er wie eine Pflanze ohne Wasser.

Woran erkennt man also einen Vampir, wenn die Fänge, sein offensichtlichstes Merkmal, sich so leicht verbergen lassen?

Zum einen an der Blässe seiner Haut, was allerdings mit Schminke kaschiert werden kann. Zum anderen dann doch an seinen Zähnen, die zumeist makellos sind, egal, welches Alter er auch angenommen hat.

Dass man ihn nie bei Tag sieht, sollte ein herausstechendes Merkmal sein, doch Vampire sind sehr gut darin, den Anschein zu erwecken, nicht nur nachtaktiv zu sein. Sie betören Menschen und suggerieren ihnen auf diese Weise, dass man sie beim gemeinsamen Picknick oder einer anderen Festivität im prallen Sonnenlicht gesehen habe.

Ein subtilerer Hinweis ist die Kleidung, die ein Vampir trägt, und die Kombination der Farben. Aus Gründen, die uns unbekannt sind, aber wahrscheinlich mit dem Leben in Dunkelheit zusammenhängen, fällt es Vampiren schwer, Farben korrekt zu erkennen und miteinander zu kombinieren. Ein Vampir schreckt weder vor grellen noch seinem Geschlecht unangemessenen oder schlichtweg schrecklichen Farben zurück. Viele sind sich dieser Schwäche jedoch bewusst und lassen sich von menschlichen Helfern einkleiden.

Die geheime Geschichte der Welt von MJB

»Ist sie wirklich sicher, dass der Prinzessin ihre Gemächer gefallen werden?«, fragte Franz-Josef. Er stand in der Tür des Raums, der schon bald als Sissis Schlafzimmer dienen würde, und sah sich um.

Lena, die alte Zofe, die Sophie bereits seit Jahren begleitete, nickte. »Ich hatte damals die Ehre, gemeinsam mit Ihrer Frau Mutter, der Erzherzogin, die Einrichtung für das Zimmer von Prinzessin Elisabeth in Possenhofen aussuchen zu dürfen, und sie hat danach mehrfach in Briefen betont, wie sehr ihr die Farben gefielen. Es wird ihr gefallen, Majestät, davon bin ich überzeugt.«

»Wenn sie meint.« Auf Franz-Josef wirkte das gewaltige altrosa Himmelbett auf dem altrosa Teppich eher bedrohlich als angenehm, aber der Geschmack von Menschen war etwas, was Vampire nur schwer einschätzen konnten, außer es ging um den Geschmack ihres Blutes. Menschen schienen Farben anders wahrzunehmen. Was ihnen gefiel, wirkte auf Vampire meistens grell und übertrieben. Ferdinand hatte einmal, als er bei Verstand war, darüber sinniert, ob ihre Augen vielleicht durch das ständige Sonnenlicht abgestumpft seien. Franz-Josef hatte noch keine bessere Erklärung gehört.

»Sie kann gehen«, sagte er.

Die Zofe knickste und verließ das Zimmer durch eine zweite Tür, die zu einem von Sissis Bädern und einem kleinen Salon führte. Er ließ die Gemächer jeden Tag von den menschlichen Dienstboten reinigen und schmücken. Kein Staubkorn und keine verwelkte Rose in einer Vase sollte Sissis Glück trüben.

Er selbst betrat das Schlafzimmer nicht. Es erschien ihm falsch, dies ohne ihre Erlaubnis zu tun. Franz-Josef drehte sich um, schloss die Tür und ging durch den großen Empfangsbereich zum Fenster. Die Sonne war bereits vor mehreren Stunden untergegangen. Auch in dieser Nacht würde Sissi wohl nicht eintreffen.

Ihre Kutsche war zwar überfällig, doch noch war ihre Verspätung nicht besorgniserregend und ließ sich durch das Regenwetter und die schlechten Straßenverhältnisse erklären. Er hatte auf seiner Rückreise nach Wien Ähnliches erlebt und sogar Sophie gefragt, ob er als Kaiser nicht für bessere Straßen und Brücken sorgen sollte, die nicht beim ersten Hochwasser davongerissen wurden. Aber sie hatte nur geantwortet, früher seien die Menschen in ihren Dörfern geblieben und hätten gearbeitet, aber seit es die Eisenbahn gebe, glaube jeder, er müsse die Welt kennenlernen. Daraufhin hatte Franz-Josef nicht mehr darüber gesprochen.

Wenn sie morgen noch nicht hier ist, werde ich Husaren nach ihr suchen lassen, dachte er. Vor Sophie würde er diese Entscheidung nicht verantworten müssen, denn sie hielt sich für einige Wochen am spanischen Hof auf. Er wünschte, sie würde den Aufenthalt um einige Jahrzehnte verlängern, wie sie es schon einmal in Sankt Petersburg getan hatte, als Bauernaufstände für reichhaltige Mahlzeiten sorgten. Aber Spaniens Bauern waren friedlich und Sophies Kontrollzwang zu groß. Sie würde es nicht ertragen, dass Sissi und er allzu lang allein regierten.

Franz-Josef blieb nachdenklich stehen. Wozu auf die Husaren warten?, fragte er sich. Warum suche ich Sissi nicht selbst?

Es war nicht so, dass nur ein Weg zur Hofburg führte, aber wenn sie auf direktem Weg aus Possenhofen kam, gab es nur wenige Straßen, die infrage kamen. Und falls er die falsche erwischte und Sissi bereits auf ihn wartete, wenn er in den Palast zurückkehrte, hatte er wenigstens mehr getan, als nur zu warten.

Mit langen Schritten verließ er das Zimmer und bog in den öffentlichen Trakt ein. Die Hofburg hatte mehr als zweitausend Zimmer, viele davon wurden nur selten benutzt. Von einem Trakt in den nächsten zu gelangen, kostete Zeit. Franz-Josef erinnerte sich an eine Geschichte über einen Vampir, der auf dem Weg vom Eingang zu seinen Gemächern verdurstet war. Er wusste nicht, ob sie stimmte, aber sie wurde immer wieder erzählt.

In seinen eigenen Gemächern herrschte Stille. Ludwig, sein Assistent, hatte die Fenster geöffnet, um frische Nachtluft ins Zimmer zu lassen. Die Vorhänge bauschten sich im Wind.

»Ludwig?«, rief Franz-Josef.

Es blieb still. Ludwig musste trinken gegangen sein.

Franz-Josef ging zu seinem Schreibtisch, tauchte eine Feder in Tinte und schrieb eine kurze Notiz.

Bin unterwegs, komme irgendwann wieder. Sagen Sie meine Termine ab. – FJ

Das würde Ludwig natürlich verärgern, aber da er sich nicht bei Sophie beschweren konnte, störte es Franz-Josef nicht weiter. Bis zu ihrer Rückkehr war das längst vergessen.

Er zog seine Uniform aus und einfache Reisekleidung über, dann verließ er die Hofburg durch einen Seiteneingang, der ihn direkt zu den Stallungen brachte. Wenige Minuten später ritt er bereits hinaus in die Nacht. Er schätzte, dass ihm noch sechs Stunden bis Sonnenaufgang blieben, genügend Zeit, um einige Herbergen außerhalb Wiens nach Sissi abzusuchen. Sie würde nicht unter ihrem eigenen Namen reisen, das war zu gefährlich, aber ein so hübsches Mädchen fiel auf. Man würde wissen, wer gemeint war, wenn er nach ihr fragte.

Die Nacht war wolkenverhangen und grau. Sein Pferd trabte durch feuchtes Herbstlaub aus der Stadt hinaus. Es hatte fast den ganzen Abend geregnet und die Straßen waren leer. Nur zwei Menschen traf er in den ersten Stunden und eine Vampirin namens Danielle, die ihn höflich grüßte, aber nicht stehen blieb.

Franz-Josef war froh darüber. Seit er Kaiser war, hatte er das Alleinsein schätzen gelernt. Fast immer war er von anderen umgeben, von Leibwächtern, Bittstellern, Freunden und solchen, die sich dafür ausgaben. Allein war er nur, wenn er sich zum Schlafen unter sein Bett zurückzog.

Vielleicht wird sich das schon bald ändern.

Er hatte sich noch nicht entschieden, ob er Sissi die Wahrheit über seine Existenz sagen würde. Trotz allem, was Karl gesagt hatte, erschien es ihm falsch, etwas so Grundlegendes vor ihr zu verheimlichen. Derjenige, der ein Geheimnis vor anderen verbarg, stellte sich über sie, doch er wollte, dass Sissi ihm ebenbürtig war – soweit sie das als Mensch sein konnte.

Und wenn Karl recht hat und sie sich wirklich verändert?, fragte er sich. Wenn ich sie verderbe, ohne es zu wollen?

Er wusste nicht, wie er damit existieren sollte.

Franz-Josef war erleichtert, als Hufschlag ihn aus seinen Gedanken riss. Er hörte das Rumpeln von Wagenrädern und die Unterhaltung zweier Männer. Sie klangen besorgt, aber er konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen.

Wenig später sah er die Kutsche unter grauen Wolken auftauchen. Sie fuhr schnell, fast zu schnell für die schlechten Sichtverhältnisse. Franz-Josef roch zwei, nein, drei Menschen. Ein schwerer, bitterer Geruch mischte sich in die süße Leichtigkeit, die ihm so vertraut war. Seine Augen weiteten sich. Er trieb sein Pferd an und galoppierte der Kutsche entgegen.

»Halt!«, rief er, als er sicher sein konnte, dass die Menschen auf dem Kutschbock ihn verstehen konnten. »Haltet an!«

Die Pferde wurden nicht langsamer.

»Im Namen des Kaisers!«, schrie Franz-Josef.

Einer der beiden Kutscher trat auf die Bremse, nahm die Zügel kurz und brachte die Pferde zum Stehen.

»Wer red da im Namen vom Kaiser?«, fragte er.

Franz-Josef sprang neben ihm aus dem Sattel. »Der verdammte Kaiser! Was ist mit ihr?«

Die beiden Männer sahen sich an. Einer von ihnen war bucklig. »Woher woin Sie wissen …?«, begann er, dann erst schien er zu begreifen, was Franz-Josef gesagt hatte. Hastig zog er den Hut. Der andere versuchte sich im Sitzen zu verbeugen. »Majestät.«

»Was ist mit der Sissi, soll er mir sagen.«

»Krank is’«, sagte der Bucklige. »Vor a paar Dog hat’s o’gfanga.«

Franz-Josef riss die Tür der Kutsche auf. Der bittere Geruch wurde stärker.

Schlechtes Blut, dachte er. Jeder Vampir kannte den Geruch. Es war wie eine Warnung, nicht vom Blut eines Menschen zu trinken.

Sissi lag mit angezogenen Beinen auf der breiten Sitzbank. Sie hatte sich in ihren Umhang gewickelt, zitterte und stöhnte. Franz-Josef hatte nicht den Eindruck, dass sie ihn überhaupt bemerkte.

»Jeden Dog is’ schlechter beinand«, sagte der zweite Kutscher. »Mia woitn sie so schnell wia möglich zur Hofburg bringa.«

»Er hätte sie lieber zum Arzt bringen sollen.« Franz-Josef stieg in die Kutsche.

»Wer?«, fragte der Bucklige.

»Di moand er«, sagte der andere Mann.

Franz-Josef beachtete sie nicht. Er legte seine Hand auf Sissis Stirn. Sie war so heiß und trocken, dass er erschrak. Er nahm an, dass diese Temperatur nicht normal für Menschen war, aber er konnte die Kutscher schlecht fragen, ob seine Vermutung zutraf. Der bittere Geruch schien von Sissis Rücken auszugehen. Franz-Josef zog ihr vorsichtig den Umhang von den Schultern und erschrak, als er die tiefen Wunden sah, die teils von blutigem Stoff verdeckt waren. Kein Tier hatte sie gerissen, das roch er sofort. Sie mussten von einem Vampir stammen.

Was ist dir nur zugestoßen?, fragte er sich entsetzt.

»Mia woitn sie zum Doktor bringa«, sagte der Bucklige auf dem Kutschbock, »aber des hat’s uns verbotn. Sie woit sich nur im Palast behandeln lassn.«

Keine gute Idee! Franz-Josef wurde übel bei dem Gedanken, was hätte geschehen können, wenn Sissi in diesem Zustand in einem Palast voller Vampire aufgetaucht wäre. Jeder hätte ihr schlechtes Blut gerochen und der eine oder andere vielleicht sogar die richtige Schlussfolgerung daraus gezogen – ein Todesurteil, denn Vampire schätzten es nicht, wenn das Wissen um ihre Existenz sich unkontrolliert ausbreitete wie eine Krankheit. Sophie hätte keine andere Wahl gehabt, als Sissi umbringen zu lassen.

Franz-Josefs Gedanken überschlugen sich. Er durfte sie nicht in die Hofburg bringen, es musste einen anderen Weg geben.

Er legte seine Arme um Sissi und hob sie vorsichtig hoch. Sie stöhnte. Etwas rutschte von der Sitzbank und polterte zu Boden – ein länglicher, in Stoff eingeschlagener Gegenstand. Ohne nachzudenken, klemmte Franz-Josef ihn sich unter den Arm. Sissi war so leicht, dass er sie mit einer Hand halten konnte. Trotzdem benutzte er beide, als er die Kutsche verließ. Die Männer sollten ihn nicht für ein Wunder an Kraft halten.

»Sie ist zu schwach«, sagte er. »Es gibt einen Arzt ganz in der Nähe. Dorthin bringe ich sie.«

Die beiden Kutscher zögerten. Sie wagten nicht zu widersprechen, aber er sah ihnen an, dass sie sich fragten, weshalb er den Wagen nicht einfach zu diesem Arzt führte, anstatt Sissi einen Ritt zuzumuten.

»Vergesst den Arzt«, sagte Franz-Josef, als ihm die Ungereimtheiten in seiner Geschichte klar wurden. Sein Blick richtete sich abwechselnd auf die Männer. Er beschwor dieses seltsame Gefühl in seinem Innern, für das es keinen Namen gab. Er hatte die Kutscher nicht betören wollen, weil es Kraft kostete und er nur wenig getrunken hatte, aber sie ließen ihm keine andere Wahl.

»Sissi muss nicht zum Arzt«, fuhr er fort. Seine Stimme klang anders, wenn er jemanden betörte, tiefer und – wenn er ehrlich war – ein wenig gruselig. »Seht doch, es geht ihr wieder gut. Sie hat den ganzen Tag in der Kutsche geschlafen und sich erholt. Ihr müsst euch keine Sorgen mehr um sie machen.«

Er wiederholte die Worte einige Male, spürte, wie die Verbindung zwischen ihm und den Männern stärker wurde. Es war, als steche man eine Nadel durch Leder. Zuerst spürte man Widerstand, aber wenn die Spitze erst einmal hindurch war, ging alles ganz leicht.

»Do samma froh«, sagte der Bucklige schließlich. »Mia ham uns nämlich scho große Sorgen um sie g’macht.«

Franz-Josef konzentrierte sich auf den anderen. »Und gerade, als es ihr wieder besser geht, taucht ihr Verlobter auf, was für eine Überraschung. Die beiden wollen einige Tage allein verbringen, bevor sich Sissi dem ganzen Hofstaat stellen muss.«

»Des Madl is zu bedauern«, sagte der Kutscher. »Meim ärgsten Feind dad i so was niemals net wünschn.«

Unangebrachte Ehrlichkeit war eine Nebenwirkung des Betörens.

»Ihr werdet jetzt zur Hofburg fahren und den Wachen dort mitteilen, dass der Kaiser und seine Verlobte ungestört bleiben wollen und zurückkehren werden, wenn es ihnen passt. Danach fahrt ihr nach Possenhofen. Sagt allen dort, wie romantisch Kaiser Franz-Josef seine Sissi begrüßt hat.«

Der Kutscher nickte. »Da Kaiser hod sei Sissi sehr romantisch begrüßt. Des wern ma in Possenhofen verzoih’n. Und dene Posten in der Hofburg werma sogn, dass der Kaiser und sei Sissi hoamkomma werdn, wann’s eahna beliebt.«

Die Wachen in den Außenbereichen des Palastes waren Menschen. Sie würden nicht bemerken, dass die Männer betört worden waren. Selbst Vampire konnten den Unterschied zwischen einem normalen und einem betörten Menschen nicht immer feststellen.

Franz-Josef trat einen Schritt zurück. »Dann fahrt jetzt. Ihr müsst euch nicht beeilen.«

Der bucklige Kutscher schnalzte ohne ein weiteres Wort mit der Zunge. Die Pferde legten sich ins Geschirr und die Kutsche rumpelte langsam an Franz-Josef vorbei die Straße hinunter. Er sah ihr nach, bis sie hinter der nächsten Kurve verschwand.

Sissi stöhnte leise in seinen Armen.

Und was jetzt?, dachte er.

Dass ein Arzt in der Nähe wohnte, war eine Lüge. So weit vor den Toren Wiens gab es nur Felder, Weiden, Wald und kleine Dörfer. In den Palast zurückzukehren und Sissi dort zu verstecken, war zu riskant. Er musste einen Unterschlupf irgendwo in der Nähe finden und das, bevor die Sonne aufging.

Vorsichtig setzte Franz-Josef Sissi auf sein Pferd und stieg dann selbst in den Sattel. Den länglichen Gegenstand schnallte er hinter sich fest. Er musste Sissi mit einer Hand festhalten, damit sie nicht herunterfiel. Selbst durch den Stoff ihrer Kleidung spürte er, wie heiß ihre Haut war.

Er ritt zuerst langsam, doch als er sicher war, dass Sissi ihm nicht entgleiten konnte, ließ er das Pferd traben. Ab und zu warf er einen Blick zum Himmel. Noch war es dunkel, aber er wusste, dass die Sonne bald aufgehen würde. Die innere Uhr eines Vampirs täuschte sich nie.

Franz-Josef bog von der Hauptstraße in einen schmaleren Weg ein. In der Ferne sah er Bauernhöfe und kleine Dörfer, deren Häuser sich dicht aneinanderdrängten. Dort konnte er sich nur verstecken, wenn er alle Einwohner umbrachte und davor schreckte er noch zurück. Er ahnte jedoch, dass sich das ändern würde, wenn der Morgen nahte und seine Verzweiflung und sein Hunger wuchsen.

Ein halb verfallenes, hinter Gestrüpp und hohen Bäumen verborgenes Haus bewahrte ihn schließlich vor dieser Entscheidung. Franz-Josef lenkte sein Pferd auf den Weg, der dorthin führte, und hielt vor dem Eingang an.

Das Haus war größer, als er vermutet hatte, und zweistöckig. An einigen Stellen war das Dach eingestürzt, aber die Mauern wirkten stabil. Über der Tür hing ein Schild in einer verwitterten, nicht mehr lesbaren Schrift. Das Glas in den kleinen Fenstern war zerbrochen, Efeu rankte sich über die Wände bis zum Dach.

Franz-Josef stieg vom Pferd und ließ Sissi in seine Arme gleiten. Eine Kette, die von einem schweren, längst verrosteten Schloss zusammengehalten wurde, sicherte die Tür. Mit einem Tritt sprengte er sie auf. Die Tür krachte gegen die Wand und flog aus den Angeln. Staub wirbelte auf. Sissi stöhnte leise und murmelte etwas, was Franz-Josef nicht verstand.

Das Haus roch alt und verlassen. Er betrat den Raum hinter der Tür und sah sich um. Eine breite Holztreppe führte hier in den ersten Stock. Rechts und links von ihm lagen Zimmer, deren Türen offen standen. Unter den Sohlen seiner Stiefel knirschten Scherben und Schmutz. Überall lag der Kot von Mäusen und Ratten. Er hörte es in den Mauern rascheln, roch aber keine größeren Tiere.

Was soll hier auch schon sein?, fragte er sich. Seine Vorsicht erschien ihm lächerlich. Vielleicht ein Löwe?

Etwas knurrte über ihm. Franz-Josef hätte Sissi vor Schreck beinah fallen lassen, bevor ihm klar wurde, dass es nur ein Fenster war, das im Wind knarrte.

Ich bin so ein Idiot, dachte er.

Das erste Zimmer, das er betrat, war leer bis auf ein großes Holzkreuz, das an der hinteren Wand hing, und einen kaputten Stuhl unter dem Fenster. Im zweiten und dritten Zimmer standen mehrere Betten unter Kreuzen. Schimmel bedeckte Wände und Decke, Wasser hatte sich in Pfützen am Boden gesammelt. In einer lag eine tote Ente.

Erst im vierten Zimmer, auf der anderen Seite der Treppe, wurde Franz-Josef fündig. Das Dach musste an dieser Stelle noch intakt sein, denn der Raum war trocken und staubig. Vier Pritschen standen nebeneinander, über jeder hing ein Holzkreuz. Es gab weder Bettlaken noch Kissen und die strohgefüllten Matratzen stanken, aber zumindest waren sie nicht feucht. Das kleine Fenster war irgendwann einmal vernagelt worden, von wem und warum, konnte Franz-Josef nicht erkennen.

Er nahm Sissi den Umhang von den Schultern und breitete ihn auf einem der Betten aus. Sie begann zu zittern, als er sie seitlich darauf legte, also zog er seine Jacke aus und deckte sie damit zu.

Ob das reicht?, fragte er sich. Über kranke Menschen wusste er nur, was er zufällig beim Lesen aufgeschnappt hatte. Man heilte Schlangenbisse, indem man das Gift aus der Wunde saugte, man bekämpfte Skorbut mit Sauerkraut und ließ den Patienten auf ein Stück Holz beißen, bevor man sein Bein amputierte.

Sophie hat recht, dachte Franz-Josef frustriert. Ich hätte nicht nur Piratenromane lesen sollen.

Er schob einen alten Kleiderschrank vors Fenster, warf einen kurzen Blick auf die zitternde und stöhnende Sissi, dann durchsuchte er den Rest des Hauses. Die Treppe nach oben war morsch, aber begehbar. Fast alle Zimmer, abgesehen von einer Küche und etwas, was wie ein Büro aussah, standen voller Betten. Kreuze hingen an den Wänden. Auf den vergilbten und verschimmelten Gemälden, die im Büro hingen, waren religiöse Motive zu erkennen. Jesus, der eine Schafherde segnete; Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß; Engel, die einen Sonnenstrahl zur Erde schickten und ein im Schnee sitzendes Mädchen damit wärmten. Franz-Josef wusste nicht, ob er an Engel glauben sollte, aber er hoffte, dass sie sich, wenn es sie tatsächlich gab, vorher darüber informierten, ob ein Mensch oder Vampir im Schnee saß.

Vielleicht helfen sie ja Sissi, dachte er.

Bei dem Gebäude schien es sich um ein altes Kloster zu handeln. Vielleicht wachte Gott ja noch darüber und bemerkte das Leid, das sich darin abspielte.

Franz-Josef warf einen Blick aus dem Fenster. Das Grau des Himmels wurde am Horizont bereits ein wenig heller. In spätestens einer Stunde konnte ein Vampir draußen nicht mehr ungeschützt überleben.

Aber wir brauchen Hilfe, dachte Franz-Josef. Ich kann nicht bis zum Abend warten.

Sissi lag in unveränderter Haltung auf dem Bett, als er durch ihre Zimmertür blickte. Es gefiel ihm nicht, sie allein zu lassen, aber er hatte keine andere Wahl. Er zog die Tür zu, hängte die Kette ein und hoffte, dass niemand vorbeikommen und das zerstörte Schloss bemerken würde. Dann schwang er sich auf sein Pferd und ritt zu dem kleinen Dorf, das er in der Nähe gesehen hatte.

Er wurde schneller fündig, als er gehofft hatte. In einer Hütte am Rand des Dorfes entdeckte er eine Frau hinter einem Fenster. Rauch stieg aus dem Schornstein. Franz-Josef stieg vom Pferd und klopfte an die Tür.

Die Geräusche, die er im Innern hörte, erstarben.

»Ja?«, fragte eine weibliche Stimme.

»Grüß Gott«, sagte Franz-Josef. »Würde sie … würden Sie bitte aufmachen? Ich brauche Hilfe für eine Kranke.«

Er hörte Schritte, dann würde die Tür geöffnet. Die Frau, die ihn ansah, hatte graues, streng nach hinten gekämmtes Haar und ein hageres, faltiges Gesicht. Ein Mann saß hinter ihr an einem Holztisch und schnitt Brotscheiben von einem Laib ab. Es waren arme Leute, wahrscheinlich Tagelöhner, die sich bei den Bauern der Umgebung verdingten.

»Wos hot’s denn?«, fragte die Frau.

Sie hat schlechtes Blut, wollte Franz-Josef im ersten Moment sagen, doch damit hätte sie wohl nicht viel anfangen können. »Sie hat sich verletzt und ihre Haut ist ganz heiß.«

»Hot’s a Fiaber?«, fragte der Mann am Tisch.

Nannte man das so? Franz-Josef nickte vorsichtshalber.

»Ham’s ka Göld fia an Oarzt?«

»Nein.« Er trug nie Geld bei sich. Wenn er etwas benötigte, fragte er jemanden und bekam es. Er wusste weder, was ein Ei kostete, noch wie viel ein Tagelöhner verdiente.

Die beiden Menschen sahen sich an.

Franz-Josef versuchte, sich zu konzentrieren, um sie mit letzter Kraft zu betören, doch dann sagte die Frau: »Kumman’s eina.«

Sie erklärte ihm, was er zu tun hatte, während der Mann Decken aus einem Schrank holte und eine Flasche mit klarem Schnaps und die Hälfte des Brotlaibs, von dem er Scheiben abgeschnitten hatte, darin einwickelte. Dann verließ er die Hütte. Erschrocken bemerkte Franz-Josef, wie hell es draußen schon geworden war.

Er lauschte den Erklärungen der Frau. Sie schien zu spüren, wie unerfahren er in solchen Dingen war, denn sie zwang ihn dazu, alles zu wiederholen, was sie sagte. Bevor sie geendet hatte, kehrte der Mann zurück. In einer Hand hielt er einen Eimer mit Wasser, in der anderen eine große verkorkte Milchflasche.

»Is des ihna Pferd?«, fragte er, als die Frau kurz schwieg.

»Ja.«

Wieder sahen sich die beiden an. Sie fragten sich sicherlich, warum ein Mann, der sich ein so edles Pferd leisten konnte, kein Geld für einen Arzt hatte, aber sie fragten ihn nicht danach. Stattdessen schnürten sie ihm aus den Decken ein Bündel zusammen und reichten ihm den Wassereimer.

Kein Wunder, dass sie arm sind, wenn sie mit einem Wildfremden ihr Hab und Gut teilen, dachte Franz-Josef. Schon im nächsten Moment bereute er den Gedanken. Sie halfen ihm freiwillig, ohne betört worden zu sein. Das war mehr, als er erhofft hatte.

»Bringen’s olles zruck, wans ihna besser geht«, sagte die Frau. »I winsch ihna ollas Guate. Der Herrgott mecht ihna bewohrn.«

»Danke.«

Der Mann brachte ihn zu seinem Pferd und half ihm, die Sachen zu verstauen. Den Wassereimer nahm Franz-Josef in die Hand. Das graue Dämmerlicht stach in seinen Augen.

»Vielen Dank noch mal«, sagte er, als er sein Pferd wendete. »Ich weiß das zu schätzen.«

Der Mann griff ihm in die Zügel, sah sich um, als wolle er sich vergewissern, dass niemand zusah, dann flüsterte er: »Und mir wiss’n zum schätz’n, wos se fia uns tuan. Vive la revolution.«

Er sprach es so falsch aus, dass Franz-Josef die Bedeutung erst begriff, als er auf den Weg zum alten Kloster einbog.

Jesus, dachte er. Sie glauben, ich bin ein Anarchist.

Die Erkenntnis schockierte ihn, aber er brachte nicht mehr die Konzentration auf, darüber nachzudenken. Die Helligkeit stach wie Nadeln in seine Haut, seine Augen drohten auszutrocknen. Vampire konnten nicht weinen, die einzige Flüssigkeit in ihrem Körper war das Blut, das sie zu sich nahmen.

Ich habe zu wenig getrunken, dachte Franz-Josef. Sonst würde mir die Helligkeit nicht so zusetzen.

Er spürte die Hitze der noch unsichtbaren Sonne unter dem Stoff seines Hemds und auf der Kopfhaut.

Hätte ich doch nur die beiden Menschen in ihrer Hütte angezapft. Doch er hatte einfach nicht daran gedacht, versuchte er sich einzureden, obwohl eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf fragte, ob er es in Wahrheit nur nicht übers Herz gebracht hatte.

Mit geschlossenen Augen ritt er dem Gebäude entgegen. Es gab nur den einen Weg, sein Pferd würde sich nicht verlaufen. Erst begannen seine Hände zu schmerzen, dann sein Rücken. Er wusste, dass seine Kleidung dampfte. Sein Körper verlor die Feuchtigkeit, die das Blut des Vorabends ihm geschenkt hatte.

Franz-Josef zwinkerte kurz und bemerkte erleichtert, dass sich das alte Kloster keinen Steinwurf mehr von ihm entfernt befand. Er trieb sein Pferd an und versuchte dabei, den Wassereimer gerade zu halten, damit er nichts verschüttete. Was er bei sich hatte, musste bis zur Nacht reichen.

Er bog in den schmalen Pfad ein, den Gestrüpp und Unterholz ihm gelassen hatten – und hielt erschrocken an.

Die Eingangstür stand offen, die Kette lag im Gras.

Verdammt!

Am liebsten wäre Franz-Josef vom Pferd gesprungen, aber er zwang sich, langsam abzusteigen und den Eimer auf den Boden zu stellen, bevor er ins Haus stürmte.

»Sissi?«

Ihr Bett war leer.

Er drehte sich um, suchte zuerst im Erdgeschoss nach ihr, dann im Keller. Zuletzt lief er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum ersten Stock hinauf.

»Sissi?«

Er hörte nichts außer dem Knarren der Dielen unter seinen Sohlen.

Sie musste nach draußen gelaufen sein, aus welchem Grund, konnte er nicht sagen. Vielleicht war sie aufgewacht und hatte Angst bekommen, weil sie nicht wusste, wie sie an diesen Ort gelangt war.

Franz-Josef eilte nach unten, nahm Sissis Umhang vom Bett und legte ihn sich über Kopf und Schultern. Der Stoff roch nach schlechtem Blut.

Hitze und Helligkeit zwangen Franz-Josef beinah in die Knie, als er das Haus verließ. Für ihn fühlte es sich an, als liefe er über die Oberfläche der Sonne. Die Luft war heißer als alles, was er je zuvor gespürt hatte, die Welt schien im wabernden, schmutzig orangefarbenen Licht des Sonnenaufgangs zu zerfließen.

Wie halten die Menschen diese Hässlichkeit nur aus?, fragte er sich. Das ist doch entsetzlich.

»Sissi?«, schrie er. Seine Stimme klang heiser. Er schmeckte Staub auf der Zunge. »Sissi!«

Er stolperte am Haus vorbei, riss sich Stoff und Haut am Gestrüpp auf und fiel über längst niedergetretene Zäune. Das Licht raubte ihm die Orientierung, verwirrte ihn mit seiner tosenden Helligkeit.

Ich werde verbrennen, dachte er entsetzt, als seine Hände sich röteten. Blasen bildeten sich auf seinen Fingern.

»Sissi?«

Dann stolperte er über ihre ausgestreckten Beine. Sie lag reglos im hohen Gras und hatte die Arme unter ihrem Körper angewinkelt, als wolle sie sich hochstemmen wie bei einer Liegestütze. Sie musste aus dem Haus gekrochen sein, denn als Franz-Josef sie auf die Seite drehte, sah er, dass ihre Bluse zerrissen und schmutzig und ihre Finger dreckverkrustet waren. Sie hielt ausgerissene Grasbüschel gepackt.

»Sissi?« Er beugte sich zu ihr hinab. Der Schatten des Umhangs fiel über ihr Gesicht. Franz-Josef erschrak, als er sah, wie blass ihre Haut war.

Mit einer Hand hob er sie vorsichtig hoch, mit der anderen hielt er den Umhang fest. Sein Arm dampfte unter dem Stoff seines Hemds, Brandblasen bedeckten seine Haut. Der Schmerz raubte ihm fast den Verstand. Taumelnd machte er sich auf den Weg zurück ins Haus.

Sissi stöhnte in seinem Arm und öffnete die Augen, ohne ihn zu sehen. »Nein …«, sagte sie. Und dann noch einmal lauter: »Nein!«

Sie begann, sich gegen ihn zu wehren, ballte eine Faust und hieb mit ihr gegen seine Brust. Sie schien zu glauben, etwas mit ihren Fingern zu umklammern – ein Messer vielleicht, oder eine andere Waffe.

»Schon gut. Alles wird gut.« Er versuchte, sie zu beruhigen, aber der Klang seiner Stimme schien ihre Angst nur noch zu steigern. Die Hitze pochte in seinem Kopf, machte einen klaren Gedanken unmöglich. Gleichzeitig hämmerte ihm Sissi immer wieder die Faust gegen die Brust.

»Pfählen!«, stieß sie hervor. »Pfählen!«

Was sagte sie da? Franz-Josef war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte, und er hatte nicht mehr die Kraft, darüber nachzudenken.

Mit dem Knie stieß er die Tür zu dem verdunkelten Zimmer auf. Die Dunkelheit kühlte seine Haut und beruhigte seine Augen. Sissi wehrte sich immer noch heftig in seinen Armen. Franz-Josef legte sie aufs Bett, drückte sie gegen die Matratze, als sie versuchte aufzuspringen. Sie schrie und kreischte, schlug nach ihm und versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, bis er schließlich ausholte und ihr seinen Handballen gegen die Schläfe hieb. Sie sackte zusammen und blieb regungslos liegen.

Auf einmal war es still.

Franz-Josef musste noch einmal nach draußen, um das Bündel und den Eimer zu holen, dann warf er die Tür zu und setzte sich erschöpft neben Sissi auf das Bett. Mit den Stricken, die das Bündel zusammengehalten hatten, fesselte er ihre Arme und Beine. Er hatte nicht vor, zu schlafen, wusste aber nicht, ob ihm das auch gelingen würde.

Der Schmerz, den die Strahlen der aufgehenden Sonne auslösten, tobte immer noch durch seinen Körper. Die Vampire nannten es Lichtbrand. Er heilte schnell, wenn man Blut zu sich nahm. Doch konnte man das nicht, breitete er sich langsam, aber unaufhaltsam immer weiter aus, bis er den Körper vernichtete. Franz-Josef hatte gehört, es sei ein schrecklicher Tod.

Mühsam kam er auf die Beine und begann die Anweisungen der Frau aus der Hütte zu befolgen. Mit dem Schnaps reinigte er Sissis Wunden, dann verband er sie mit Stoff, den er aus seinem Hemd riss, und benutzte den Rest, um ihre Stirn mit Wasser zu kühlen. Sissi stöhnte einige Male, ansonsten blieb sie ruhig.

Immer wieder wischte er ihr mit dem feuchten Lappen übers Gesicht. Er wagte es nicht, damit aufzuhören, obwohl der Schmerz weiter wie ein Feuer in ihm loderte und seine Erschöpfung ihn zu zerreißen drohte. Die Helligkeit, die er draußen spürte, entzog ihm Kraft. Alles hätte er darum gegeben, trinken und dann schlafen zu können, aber er ruhte nicht. Sissis Leben hing davon ab, dass er durchhielt. Er roch es an ihrem Blut.

Die Brandblasen breiteten sich unaufhaltsam aus. Er sah sie an seinen Armen und auf seiner Brust, spürte sie in seinem Gesicht. Franz-Josef wusste, dass er aussah wie ein Mensch, den man zu spät aus einem brennenden Haus gezogen hatte, trotzdem machte er weiter. Irgendwann fand er sich auf dem Boden neben Sissis Bett wieder. Er musste zusammengebrochen sein, ohne es bemerkt zu haben.

Es hilft ihr nicht, wenn ich sterbe, dachte er mit plötzlicher Klarheit. Ich muss trinken.

Franz-Josef stemmte sich auf die Beine. Draußen war es erst Nachmittag, noch längst nicht spät genug, um das Haus zu verlassen. Von Sissis Blut konnte er nicht trinken, selbst wenn er es gewollt hätte. Er hätte sich damit vergiftet.

Für einen kurzen Moment sah er die tote Ente in der Pfütze vor sich, doch er schüttelte sich. Das Blut von Vögeln war nicht halb so nahrhaft wie das von Säugetieren und wer wusste, wie lange die Ente dort schon lag. Aber es gab andere Tiere im Haus, lebende, die ihre Spuren hinterlassen hatten.

Franz-Josef warf einen Blick auf Sissi. Sie schien ruhiger zu schlafen als zuvor, und als er seine mit Brandblasen bedeckte Hand auf ihr Gesicht legte, schien es nicht mehr ganz so heiß.

Er tastete sich an der Wand entlang durch den Flur bis zur Treppe, die in den Keller führte. Beinah wäre er die Stufen hinabgestürzt, so sehr zitterten seine Knie.

Kein Lichtstrahl trübte die Dunkelheit des Kellers. Dicke Mauern ohne Oberlichter schlossen ihn von der Außenwelt ab. Es war ein wunderbarer Schlafplatz, so einladend, dass Franz-Josef beinah seinen Hunger vergessen und sich einfach in den Staub gelegt hätte.

Er hob die Nase, suchte nach den Ratten, die er bei seiner Ankunft gehört hatte. Ihr Kot lag überall herum, also gab es sie nicht nur in den Wänden, sondern im ganzen Haus. Hinter einem zernagten Korb entdeckte Franz-Josef schließlich ein Nest. Die Tiere verhielten sich ruhig und beobachteten ihn aus schwarzen Augen. Sie hatten gelernt, dass Menschen sie in der Dunkelheit nur entdeckten, wenn sie Geräusche machten.

Aber Franz-Josef war kein Mensch.

Er nahm alle Kraft zusammen, die er noch aufbringen konnte, und warf sich auf das Nest. Zwei der Ratten zerdrückte er mit seinem Körper, zwei weitere packte er, eine letzte schnappte er mit den Zähnen. Sie wand sich zwischen seinen Lippen und schrie so laut wie ein Kind. Franz-Josef fuhr seine Fänge aus, jagte sie in ihr Fleisch und trank ihr Blut, bis sie erschlaffte. Dann spuckte er sie aus, riss der Ratte in seiner linken Hand den Kopf ab und trank aus ihrem Hals. Verglichen mit menschlichem Blut, das seinen Körper durchströmt hätte wie ein reißender Fluss, war das Blut dieser Tiere wie ein Tropfen auf eine Feuersbrunst, aber es hielt zumindest den Lichtbrand auf und gab Franz-Josef etwas von seiner Kraft zurück.

Er trank die letzten drei Ratten aus, dann stieg er die Treppe zum Erdgeschoss wieder hinauf. Er hatte sämtliche Türen bis auf jene, die in Sissis Zimmer führte, geschlossen. Trotzdem spürte er das Licht. Es ließ langsam nach. Der Abend nahte.

Neben einer Wand blieb er stehen und lauschte auf das Rascheln und Kratzen. Dann ballte er die Faust und stieß sie durch den Lehmputz. Die Ratte, die er packte, quiekte kurz, dann brach er ihr das Genick. Er trank sie aus und warf sie in eine Ecke. Zehn weitere Ratten fing er auf diese Weise, dann schienen die anderen die Gefahr erkannt zu haben, denn es wurde still in den Wänden. Franz-Josef wischte sich Blut vom Kinn und leckte es von seinem Handrücken. Der Geschmack war fad und ein wenig bitter, aber mit der Kraft, die er gewonnen hatte, würde er es bis in die Nacht schaffen. Dann musste er jagen, sonst würde der Lichtbrand ihn doch noch besiegen.

Sissi schlief, als er ihr Zimmer betrat, und wachte auch nicht auf, als er ihr über das schweißnasse Haar strich.

»Ich liebe dich«, flüsterte er.

Draußen röhrte ein Hirsch.

Als die Nacht kam, verließ Franz-Josef das Haus. Er erlegte einen Rehbock und trank von ihm, bis die Brandblasen auf seiner Haut verschwanden und neue Kraft ihn durchströmte. Auf dem Rückweg sattelte er sein Pferd ab und führte es hinter das Haus, damit man es von der Straße nicht sehen konnte. Den länglichen Gegenstand, den er hinter dem Sattel festgezurrt hatte, nahm er mit. In Sissis Zimmer legte er ihn auf eines der Betten und tauchte seinen Lappen wieder in den Wassereimer. Bis zum Morgen blieb er an Sissis Seite sitzen, dann holte die Erschöpfung ihn ein. Er legte sich unter ihr Bett und schloss die Augen.

Menschen schliefen nicht wie Vampire, das hatte ihm seine Mutter schon vor langer Zeit erklärt, als er sie gefragt hatte, was Träume seien. Im Schlaf, hatte sie gesagt, erzählten Menschen sich selbst Geschichten, manche schön, andere so schrecklich, dass sie schreiend erwachten.

Franz-Josef hatte das nie verstanden, aber als er an diesem Morgen langsam in den Schlaf glitt und Sissi atmen hörte, wünschte er sich, er hätte von ihr träumen können, um nie mehr von ihr getrennt zu sein.

»Vampir!«

Der Schrei riss ihn aus dem Schlaf. Franz-Josef fuhr hoch, stieß sich den Kopf an der hölzernen Pritsche und fluchte. Er rollte sich darunter hervor und stand auf, geduckt und bereit zum Kampf. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Sissi schlief, aber er war sich sicher, dass es ihre Stimme gewesen war, die den Schrei ausgestoßen hatte.

Vielleicht hat sie ja wirklich von mir geträumt, dachte er, aber der unausgesprochene Scherz hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Ihm fiel ein, was sie gesagt hatte, als sie sich draußen so heftig gegen ihn wehrte.

Pfählen.

»Das kann nicht sein«, sagte er leise, nur um nicht allein mit der Stille des Hauses zu sein. »Sie kann doch nicht …«

Sein Blick fiel auf den länglichen Gegenstand. Sah er nicht aus wie …?

Seine Finger zitterten, als er danach griff und die Stricke um den Stoff löste.

Nein, dachte er, bitte nicht.

Er rollte den Stoff auseinander, dann lehnte er sich an den Bettpfosten und starrte regungslos auf das Schwert, das nun vor ihm lag. Es war ein Katana, eine japanische Waffe, wundervoll verziert und absolut tödlich.

Nach einer Weile beugte sich Franz-Josef vor und zog es aus seiner Scheide. Schmutz haftete an einer ansonsten makellosen Klinge. Er strich mit den Fingerspitzen über die stumpfe Seite, spürte getrockneten Schleim und Asche. Seine Gedanken erstarrten.

Sie ist eine von ihnen. Herrgott, Sissi ist ein Kind Echnatons.

Sissi - Die Vampirjägerin
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