KAPITEL SECHZEHN
Die Vampirdynastien Europas sind ein merkwürdiges Gebilde. Auf der einen Seite sind sie organisiert wie eine Armee mit einem General an der Spitze und zahlreichen hohen Offizieren, die als Fürsten und Könige eigenen Ländern vorstehen, auf der anderen führt diese Armee immer und immer wieder Krieg gegen sich selbst.
Die Vampire, denen die Kinder Echnatons diese Informationen abringen konnten, schienen den Grund dafür nicht zu kennen, behaupteten aber, nichts geschähe ohne einen Befehl ihres Generals.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Wer ist zurück?«
Zum vierten Mal stellte Franz-Josef die Frage, zum vierten Mal antwortete niemand, während die Kutsche durch den Wald rumpelte.
Nur Ferdinand sagte leise: »Na, bravo«, so wie immer, wenn etwas sein Hirn überforderte und er das, was er eigentlich sagen wollte, nicht mehr ausdrücken konnte. Es erschien Franz-Josef als ein schlechtes Zeichen, dass seine Ausrufe immer häufiger wurden.
Es wird bald mit ihm zu Ende gehen, dachte er. Er wird kaum noch ein Jahrhundert bei uns sein, wenn man Karl glauben darf.
Für Franz-Josef, der selbst gerade mal achtzig Jahre existierte, war das eine lange Zeit, aber er wusste, dass Vampire, die so alt waren wie Sophie, Karl und Ferdinand, anders fühlten. Jahrhunderte verstrichen für sie so schnell wie für ihn Monate.
»Wieso sagt mir niemand, wer das war?«, versuchte er es erneut.
»Weil du es nicht verstehen würdest.« Sophie zog den Vorhang ihres Fensters beiseite und sah in die Dunkelheit.
Karl seufzte. »Wenn er wirklich zurück sein sollte, wäre es besser, wenn Franz Bescheid wüsste.« Als Sophie ihm nicht antwortete, fuhr er fort. »Möchtest du, dass ich es ihm erkläre?«
Sie schwieg.
Karl sah Franz-Josef an und schüttelte leicht den Kopf, als wolle er sich entschuldigen.
»Seine Eminenz«, sagte Ferdinand in diesem Moment leise. »Na, bravo.«
Sophie zuckte zusammen.
Franz-Josef runzelte die Stirn. »Unser Kaiser? Aber er ist doch tot.«
»Anscheinend nicht«, erwiderte Karl.
Franz-Josef erinnerte sich an die Geschichte, die man ihm als Kind erzählt hatte. Der wahre Kaiser, so war er darin genannt worden, hatte seine Existenz gegeben, um die geifernden Massen rund um die Guillotinen zu betören, damit sie nicht erkannten, wer da vor ihren Augen hingerichtet wurde. Dieser gewaltige Kraftakt, zu dem niemand außer ihm in der Lage gewesen wäre, hatte ihn die Existenz gekostet.
»Er war mein Herr«, sagte Ferdinand. »Mein Gott.«
»Er war unser aller Herr.« Karl warf Sophie einen kurzen Blick zu, aber sie reagierte nicht. Die Kutsche krachte mit einem Rad in ein Schlagloch. »Wir haben nie sein Gesicht gesehen. Er sprach immer durch andere, so wie eben, gab uns seine Befehle, sagte, welche Politik wir zu betreiben und welche Kriege wir zu führen hatten. Manchmal tauchte er nur einmal in einem Jahrzehnt auf, manchmal zehn Mal in einem Jahr.«
»Aber wir wussten immer, dass er da war.« Ferdinand lächelte. »Er beschützte uns.«
»Er kontrollierte uns!« Sophies Stimme zitterte.
Franz-Josef hatte sie noch nie so wütend gesehen und so … ängstlich?
»Und als er verschwunden war«, sagte er, »was geschah dann?«
»Es gab keinen Vampir in ganz Europa, der darüber traurig war.« Karl ignorierte Ferdinand, der die Hand hob. »Aber wir alle machten uns Sorgen, dass Europa ohne seine Führung auseinanderbrechen würde. Zum Glück war Sophie bereit, seine Nachfolge anzutreten. Sie sagte, er habe sie dazu auserko…«
Sophie fuhr herum. »Er hat es mir versprochen, und zwar vor langer Zeit, lange bevor ich dich kannte!«
»Na, bravo«, flüsterte Ferdinand. Er wackelte mit dem Kopf und streichelte seinen Chinesen.
»Ich habe nichts anderes behauptet.«
Franz-Josef hatte den Eindruck, dass dies ein lange schwelender Streit zwischen Sophie und Karl war. Er selbst hatte nie etwas davon bemerkt.
Was halten sie sonst noch vor mir geheim?, fragte er sich. »Und jetzt, wo er offenbar zurückgekehrt ist, befürchten Sie, dass er seinen Herrschaftsanspruch wieder geltend machen wird?«
Sophie schloss den Vorhang. In ihren Augen blitzte es, ihre Mundwinkel zuckten, als habe sie sich kaum noch unter Kontrolle. »Haltet die Kutsche an!«, befahl sie.
Ferdinand klopfte gegen das Dach. Der Leibwächter, der anstelle des toten Kutschers dort oben saß, brachte die Pferde zum Stehen.
Sophie riss die Tür auf und trat nach draußen. »Verschwindet.« Der Befehl war an die Leibwächter gerichtet. »Wir holen euch wieder ein.«
»Ja, Erzherzogin.«
Franz-Josef hörte, wie der Kutscher abstieg, dann entfernte sich Hufschlag.
»Er wird mir nicht nehmen, was mein ist«, erklärte Sophie. Zu wem, wusste Franz-Josef nicht. Als er ausstieg, war sie bereits verschwunden. Hinter ihm sprang Karl auf das Kutschdach.
»Riecht ihr Menschen?«, rief er. »Seht ihr irgendwo Lichter?«
Franz-Josef hielt die Nase hoch. Er roch den Wald, die Nacht und das Leben darin, keins davon menschlich.
Ferdinand verließ ebenfalls die Kutsche. Sein Chinese blieb betört am Boden sitzen.
»Sie muss irgendetwas gesehen oder gerochen haben.« Karl drehte sich auf dem Kutschdach, dann zeigte er plötzlich in die Ferne. »Da! Da ist ein Licht.«
»Es gibt ein Licht in der Dunkelheit eines jeden Lebens«, bemerkte Ferdinand.
»Was hat sie denn vor?« Franz-Josef schloss zu Karl auf, der bereits in Richtung Wald lief. Er bewegte sich so schnell, dass seine Füße kaum den Boden berührten.
»Das Einzige, was Sophie immer vorhat, wenn sie wütend ist.« Karl sah ihn kurz an. »Töten.«
Das Licht stammte von einer Öllampe, die vor einem kleinen Marienaltar stand. Jemand hatte Blumen danebengelegt. Franz-Josef berührte sie und spürte, dass sie relativ frisch abgeschnitten worden waren. Sie konnten erst seit wenigen Stunden dort liegen. Irgendwo in der Nähe musste es ein Dorf, ein Anwesen oder einen Hof geben.
Ferdinand bekreuzigte sich vor dem Altar, nahm eine der Blumen und roch daran. »Sie duften nach Brombeeren«, sagte er.
Karl winkte ungeduldig. »Hier ist ein Weg. Kommt.«
Der schmale Pfad führte durch Sträucher – Brombeersträucher, wie Franz-Josef überrascht feststellte – aus dem Wald hinaus in einen kleinen Kräutergarten. Das graue Haus, das dahinter aufragte, war dunkel. Ein schmiedeeisernes Tor trennte den Pfad vom Grundstück. Es war verbogen und aufgerissen, als hätte die Hand eines Riesen es zur Seite geschlagen.
»Sie ist hier«, sagte Karl.
Ein Schrei gellte durch die Nacht, dann ein zweiter, dritter und dann so viele, dass sie zu einem einzigen zu verschmelzen schienen.
»Hört ihr den Chor?«, fragte Ferdinand mit schräg gelegtem Kopf. »Er begrüßt Sophie.«
Franz-Josef lief an ihm vorbei und über den Hof zum Eingang. Das Haus war Teil eines kleinen Anwesens. Eine Scheune und ein Stall, neben dem mehrere Pferdewagen standen, gehörten noch dazu. Offensichtlich bereitete man sich auf die Ernte vor, denn Franz-Josef sah Werkzeug und große gefaltete Säcke auf den Wagen liegen.
Deshalb sind hier so viele Menschen, dachte er. Die Ernte soll eingeholt werden.
Er stieg die fünf Stufen zum Haupteingang hinauf. Die Tür war aus den Angeln gerissen worden und lag in der Eingangshalle. Ein abgerissener Menschenkopf rollte ihm entgegen.
Karl fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Sagte ich schon, dass sie wütend ist?«
Eine breite dunkle Holztreppe führte von der Eingangshalle in den ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz hing das Bild einer afrikanischen Jagdszene – in Löwenfelle gehüllte Eingeborene mit langen Speeren, die eine Herde Antilopen hetzten, während über der Savanne die Sonne unterging. In dem rötlichen Licht des Gemäldes fielen die Blutspritzer kaum auf.
Oben schrie ein Mann, laut und gellend.
»Wie sollen wir sie aufhalten?«, fragte Franz-Josef.
»Man hält Sophie nicht auf.« Karl sah die Treppe hinauf. Oben knallte es, eine Tür schlug, dann polterten Schritte auf der Treppe. Eine junge Frau kam die Stufen herunter. Sie war barfuß. Blutflecken bedeckten ihr weißes Nachthemd. Mit weit aufgerissenen Augen und bleichem Gesicht stolperte sie Franz-Josef entgegen.
»Helfen Sie mir!«, stieß sie zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Bitte helfen Sie mir!«
Karl war mit einem Satz bei ihr, drückte ihren Hals gegen seinen geöffneten Mund und riss ihr die Kehle heraus. Gurgelnd brach die junge Frau zusammen. Sie war nicht älter als Sissi.
»Man hält Sophie nicht auf«, wiederholte Karl. Er spuckte Blut und Knorpel aus. »Man räumt nur hinter ihr auf.«
Er stieg über die sterbende Frau hinweg und lief die Treppe hinauf. Franz-Josef folgte ihm. Der Geruch des Blutes war überwältigend. Er spürte, wie seine Fangzähne hervortraten, und hörte ein tiefes, drohendes Knurren. Erst nach einem Moment erkannte er, dass er selbst es ausstieß. Der Jäger in ihm war erwacht.
Die Treppe endete in einem quer verlaufenden Gang mit mehreren Türen. Die meisten standen offen. Franz-Josef sah eine herabhängende Klappe in der Decke und eine Leiter, die daran lehnte. Dort musste es zum Dachboden gehen. Er drehte sich um und blickte die Treppe hinunter. Ferdinand hockte über der Frau im Nachthemd und trank das Blut, das aus ihrer Kehle floss. Dabei streichelte er ihr Haar. Franz-Josef ging auf die Luke zu, an Zimmern vorbei, in denen Blutlachen schimmerten und Eingeweide herumlagen. Einen älteren Mann hatte Sophie förmlich in Stücke gerissen. Eine Hand hielt noch den Degen.
Dann stand sie plötzlich vor ihm. Ihr Haar war verklebt, ihre Kleidung schwer von Blut. Sie fletschte die Zähne. »Lass keinen entkommen«, sagte sie.
»Sophie.« Franz-Josef wollte sie am Ärmel festhalten, aber sie verschwand bereits durch die Luke wie Rauch durch einen Kamin. »Warten Sie!«
Es war sinnlos. Sie hatte noch nie auf ihn gehört, wieso sollte sie es ausgerechnet in dieser Situation tun? Franz-Josef wollte ihr folgen, rutschte in einer Blutlache aus und strauchelte. Mit einer Hand hielt er sich an der offen stehenden Tür fest und gewann sein Gleichgewicht zurück.
Die Tür schwang zu. Franz-Josef entdeckte den Mann, der dahinter hockte. Er war kaum älter als er, nur mit einer langen Unterhose bekleidet und dünn. In einer Hand hielt er ein Brotmesser. Die Klinge zitterte.
»Tu mir nichts«, flüsterte er auf Serbisch. »Ich will nicht sterben.«
Franz-Josef zögerte. Er sah zu der Luke, hörte das Poltern und Kreischen über seinem Kopf. Bei jedem Laut zuckte der Mann zusammen. Er schwitzte so stark, dass sein dunkles Haar wie frisch gewaschen am Kopf klebte.
Franz-Josef hatte nie viel über Menschen nachgedacht, deshalb überraschte es ihn, dass er in diesem Moment Mitleid für den Fremden am Boden empfand. Er ahnte, dass Sissi die Schuld daran trug. Seit er sie kennengelernt hatte, sah er in jedem Menschen, den er traf, ein Stück von ihr.
»Dir wird nichts geschehen«, sagte er ebenfalls auf Serbisch. Dann hörte er Schritte vor der Tür. Hektisch sah er sich um, suchte nach einem Versteck für den Mann, doch die Tür wurde bereits geöffnet.
»Ist hier noch einer?«, fragte Karl.
Nein, wollte Franz-Josef antworten, aber der Mann sprang im gleichen Moment auf und stach mit seinem Messer nach Karl. Der wich noch nicht einmal aus. Die Klinge drang in seinen Arm, während er bereits beide Hände ausstreckte und dem Mann den Kopf auf den Rücken drehte.
Es ging so schnell, dass Franz-Josef nicht reagieren konnte.
Falsch, dachte er einen Lidschlag später. Ich hätte reagieren können, aber es war einfacher, das Problem aus dem Weg zu räumen.
Karl zog das Messer aus seinem Arm und kniete sich neben den Toten. »Geh auf den Dachboden«, sagte er. »Ich komme gleich nach.«
Franz-Josef tat, was ihm gesagt wurde, so wie immer.
Ich bin schwach, dachte er, während er die glitschigen, blutverschmierten Sprossen zum Dachboden hinaufstieg. Edgar hat recht. Ich bin kein Kaiser.
Er zog den Kopf ein, als ein menschlicher Körper an ihm vorbeistürzte, dann kletterte er aus der Luke. Es herrschte Chaos auf dem Dachboden. Ein gutes Dutzend Menschen lief umher, die Münder weit aufgerissen, die Augen angsterstarrt. Kein Laut drang über ihre Lippen.
»Das Geschrei ging mir auf die Nerven«, sagte Sophie.
Sie schwebte in der Mitte des Raums zwischen Wäscheleinen und Körperteilen. Die Menschen versuchten, sich vor ihr unter den Dachschrägen und hinter Wäschekörben zu verstecken, aber Sophie fuhr zwischen sie wie ein Wirbelsturm und schleuderte sie zurück in die Mitte des Raums.
»Pass auf, dass keiner durch die Luke flüchtet«, sagte sie.
In einer Hand hielt sie einen Jungen, in der anderen eine ältere, stumm schreiende Frau. Einen Moment lang sah sie beide an, dann biss sie in die Frau wie in einen Apfel.
Franz-Josef blieb an der Luke stehen. Die Menschen wichen nun auch vor ihm zurück, erkannten wohl, dass sie keine Hilfe zu erwarten hatten.
»Sie bringen uns alle in Gefahr«, sagte Franz-Josef.
Sophie warf die halb tote Frau gegen einen Balken. Es krachte laut, als er zerbarst.
»Sei still. Deine Meinung ist hier unerwünscht.«
Franz-Josef öffnete den Mund, schwieg jedoch. Egal, was er sagte, es würde nichts ändern. Also blieb er an der Luke stehen, kämpfte gegen den Blutrausch, der ihn zu übermannen drohte, und sah zu, wie Sophie Menschen in Stücke riss. Sie kreischte und schrie, geiferte und spuckte, brüllte und trank. Blut spritzte über die Wände, bedeckte Ziegel und Holzbohlen. Der Geruch nach Kot und Urin mischte sich unter den des Blutes. Das war keine Jagd, kein ehrenhaftes Nachstellen der Beute, es war ein Massaker.
Plötzlich stand Karl neben ihm. »Ich habe sie schon sehr lange nicht mehr so gesehen«, sagte er. Es klang geradezu wehmütig. Er duckte sich, als ein abgerissenes Bein dicht über ihn hinwegflog, und schlug dann Franz-Josef auf die Schulter. »Komm, es ist genug für alle da.
»Nein, ich gebe lieber acht, dass niemand flieht.«
Sophie sah von dem Mann auf, in dessen Hals sie gebissen hatte. Blut tropfte aus ihren Haaren. »Er hat gesagt, du sollst kommen. Karls Befehle sind wie die meinen. Du befolgst sie ohne Widerworte.«
Es war das Blut, das aus ihr sprach. In solchen Mengen konnte es berauschen.
Ich bin der Kaiser, wollte Franz-Josef darauf antworten. Ich folge keinem Befehl außer dem Gottes.
»Wie Sie wünschen, Sophie«, sagte er stattdessen. Wie eine Memme.
Sie tranken bis in die späte Nacht, dann weckten sie Ferdinand auf, der neben der Toten auf der Treppe eingeschlafen war, und zündeten das Haus an. Als die Flammen den ersten Stock erreichten, hörten sie einen lang gezogenen, hohen Schrei durch das Prasseln und Knacken.
»Da haben wir wohl doch einen übersehen«, meinte Karl. Sein Gesicht war blutverschmiert. »Schade.«
Sie wandten sich ab und gingen zurück zur Kutsche. Sophie wirkte ruhig, beinah heiter. Sie hatte sich wieder gefangen. Franz-Josef fragte sich, ob sie an diesem Abend ihr wahres Gesicht gezeigt hatte oder ob es nur ein kurzer Moment des Wahnsinns gewesen war, der sie überkommen hatte.
Franz-Josef hielt Karl zurück, als der hinter Sophie in die Kutsche steigen wollte. »Ist es das, was Seine Eminenz meinte?«, fragte er. »Will er, dass wir so leben?«
Karl schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, die Welt, die er sich vorstellt, wird weitaus weniger unterhaltsam.« Er schob Ferdinand in die Kutsche und folgte ihm.
Franz-Josef kletterte nach vorn auf den Bock und griff nach den Zügeln. Hinter ihm erhellte orangeroter Feuerschein den grauen Nachthimmel.