KAPITEL EINUNDDREISSIG

Wenn die Kinder Echnatons von den europäischen Vampirdynastien der Vergangenheit sprechen, überrascht es Neulinge immer wieder, dass die ägyptischen Pharaonen in diese Reihe aufgenommen werden. Das liegt nicht etwa daran, dass die Kinder Echnatons über mangelnde Geografiekenntnisse verfügen, wie gelegentlich behauptet wird, sondern an der Prägung der ägyptischen Dynastie, die unverkennbar europäisch ist und wahrscheinlich im direkten Austausch mit den nördlicheren Dynastien entstand. Um diesen Aspekt deutlich zu machen, fasst man sie unter einem Oberbegriff zusammen, während die asiatischen Vampirkreaturen (über die wir, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, sehr wenig wissen) separat zu behandeln sind.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

Wann immer es ging, fuhren sie mit dem Zug.

Franz-Josef war noch nie zuvor auf den Schienen unterwegs gewesen. Er war sich nicht sicher, ob ihn die ratternden Geräusche und der Gestank verbrannter Kohle beeindruckten oder verstörten. Sissi hingegen genoss die Fahrten sichtlich, auch wenn sie in abgedunkelten Abteilen reisen mussten und sie nichts von der Landschaft, die rasch an ihnen vorbeizog, sehen konnte.

»Ist das nicht ein Meisterwerk der Technik?«, sagte sie kurz vor München. »Stell dir doch nur mal vor, wie schnell wir fahren.«

Ich bin schneller, dachte Franz-Josef, behielt den Gedanken jedoch für sich. Sissi mochte es nicht, wenn er mit seinen Fähigkeiten prahlte, wie sie es nannte.

Er schlief während der Zugfahrten nur wenig, denn er lebte in ständiger Angst davor, dass jemand die Tür öffnen und er in einem plötzlichen Lichtstrahl verbrennen würde. Als sie schließlich auf Kutschen umstiegen, war er so erschöpft, dass Sissi für ihn ein Reh erlegen musste. Sie sah nicht hin, als er es leer trank. Er versuchte zu verstehen, weshalb es ihr so schwerfiel, seinen Blutdurst zu akzeptieren, doch jedes Gespräch, das sie darüber führten, endete im Streit. Franz-Josef kam zu dem Schluss, es gefiel Sissi einfach nicht, dass an der Spitze der Nahrungskette ein anderes Wesen stand als der Mensch. Dass sie das anders sah, wusste er.

Sie fuhren Tag und Nacht, wechselten einmal pro Tag die Pferde, manchmal sogar zweimal. Franz-Josef hatte Sissi das Geld gezeigt, das er sich nach ihrer Ankunft im Palast von Sophie hatte geben lassen.

»Reicht das für frische Pferde und Nahrung für dich?«, hatte er gefragt.

Sissi hatte nur gelacht. »Damit kannst du einen Stall und ein Gasthaus kaufen und das Dorf, in dem sie stehen, gleich dazu.«

Seitdem achtete Franz-Josef darauf, dass Sissi stets das Teuerste von den Speisekarten der Höfe aß, an denen sie hielten. Er wollte, dass es ihr gut ging.

Auf dem Kutschbock wechselten sie sich ab. Bei Tag, wenn er schlief, fuhr Sissi, bei Nacht er. Zusammen waren sie nur, wenn es dämmerte, morgens wie abends. Dann krochen sie im Innenraum der Kutsche unter eine Decke, redeten und schliefen miteinander. Die Zeit schien stillzustehen, während sie auf der Straße waren, in diesem Niemandsland zwischen dem Anfang und dem Ende ihrer Reise.

Franz-Josef hätte den Staatsschatz Österreichs geopfert, um sie niemals enden zu lassen, doch irgendwann begannen die Menschen in den Gasthäusern französisch zu sprechen und an den Straßen tauchten die ersten Schilder auf, die in Richtung Paris wiesen.

Sie näherten sich Versailles.

Zwei Tage später weckte Franz-Josef Sissi kurz vor Sonnenaufgang. Das Wetter hatte sich gebessert. Der Schnee, der sie durch Österreich und die deutschen Königreiche begleitet hatte, war verschwunden, die Temperatur gestiegen. Auf eine wolkenlose Nacht würde ein sonniger Tag folgen. Menschen schätzten helle Tage, ebenso wie Vampire eine klare Nacht. Früher hatte er das nie bemerkt, aber seit er Sissi kannte, achtete er auf solche Kleinigkeiten.

»Es wird schön heute«, flüsterte er ihr ins Ohr, als er sie weckte. »Gegen Abend sollten wir Versailles erreichen.«

»Wirklich?« Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Für einen Menschen erwachte sie ungewöhnlich schnell. »Das ist ja wundervoll.«

Er sah das anders, schwieg jedoch.

Sissi schien seinen Gesichtsausdruck zu bemerken, denn sie rückte näher an ihn heran. »Geht es um deine Eltern?«, fragte sie. »Willst du wegen der Erinnerungen nicht nach Versailles?«

»Auch.« Er legte den Arm um sie. »Ich war noch ein Kind, als man sie holte. Karl und Sophie retteten mir das Leben, aber ihnen konnten sie nicht mehr helfen. Sie starben auf dem Schafott.«

»Wer waren sie?«

Er war froh, dass Sissi nicht noch einmal sagte, dass es ihr leidtat. Obwohl er sicher war, dass sie es ernst meinte, wäre es ihm wie Heuchelei vorgekommen.

»Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt nur ein einfacher Landadliger«, sagte er. »Die hohe Politik hatte begonnen, ihn zu langweilen. Aber meine Mutter …« Er seufzte. »Meine Mutter war Marie-Antoinette.« Als er Sissis Blick sah, fügte er schnell hinzu: »Das meiste, was man über sie sagt, stimmt nicht.«

Doch sie runzelte nur die Stirn. »Marie-Antoinette war ein Mensch?«

»Nein, wieso?« Ihre Frage verwirrte ihn.

»Weil ich dachte …« Sie brach ab.

Er wartete, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte.

»Aber zwei Vampire können doch keine Kinder bekommen«, sagte sie dann. »Sie sind auf uns Menschen angewiesen, um sich zu vermehren.«

Franz-Josef ließ den Arm sinken. »Wer hat dir denn das erzählt?«

»Bei den Kindern Echnatons weiß das jeder. Mein Vater erwähnt es sogar in seinem Buch.«

Sein Mund wurde trocken. »Dein Vater schreibt ein Buch?«

»Über die wahre Geschichte der Welt.« Sissi begann an den Fransen ihrer Decke zu zupfen. Sie wirkte auf einmal jünger als sie war. »Er würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich dir davon erzähle. Es ist ein Familiengeheimnis.«

Jesus Christus, dachte Franz-Josef. »Und was steht da sonst noch drin?«

Sissi hob die Schultern. »Keine Ahnung, ich habe es nicht gelesen.« Sie sah ihn an. »Und das stimmt wirklich nicht?«

»Nein. Vampirgeburten sind zwar selten, ich glaube, es gab in den letzten dreißig Jahren nur zwei, aber sie kommen vor. Dein Vater schreibt nicht die Wahrheit.«

»Vielleicht hat er es ja schon korrigiert.« Sie klang hilflos.

Franz-Josef versuchte, ihren Blick festzuhalten, aber sie wich ihm aus. »Vampire benutzen Menschenfrauen als Geburtsmaschinen«, sagte er. »Das ist genau die Art Propaganda, die nötig ist, um Rekruten für die Kinder Echnatons zu gewinnen. Glaubst du wirklich, dass er das irrtümlich geschrieben hat?«

Sie stand auf. Die Decke fiel von ihren nackten Schultern. Er sah die langen Narben auf ihrem Rücken und dachte an all das, was sie für die Kinder Echnatons geopfert haben musste.

»Es wird schon hell«, sagte sie. »Du solltest schlafen.«

Sie verließ die Kutsche, bevor er antworten konnte.

Als sie ihn abends weckte, wirkte sie so fröhlich wie immer und Franz-Josef sprach das Thema nicht mehr an.

Sie mieteten eine kleine Herberge am Rande von Versailles und schickten die Wirtsleute fort. Der Keller war fensterlos und trocken. Franz-Josef breitete dort einige Decken aus, dann half er Sissi dabei, die Fenster der Schankstube zu verdunkeln. Den Wirtsleuten hatten sie erklärt, dass sie einen kranken Verwandten erwarteten, der kein Licht vertrug und Angst vor Fremden hatte. Franz-Josef nahm an, dass die klimpernden Goldmünzen in ihren Taschen das ältere Ehepaar davon überzeugt hatten, keine weiteren Fragen zu stellen.

»Wollen wir uns ein wenig umsehen?«, fragte Sissi, als sie das letzte Fenster mit Decken verhängt hatten. »Du kannst mir die Stadt zeigen.«

»Ich glaube nicht, dass ich noch etwas wiedererkenne.«

Er irrte sich, das bemerkte er schnell. Es hatte sich kaum etwas verändert. Die Straßen, die sein Vater geplant hatte, führten sie durch eine gleichförmig gebaute, verstaubt wirkende Stadt, die sich unter dem Schloss auf der Anhöhe zu ducken schien. Ein kalter Wind wehte, brachte den salzigen Geruch des weit entfernten Atlantiks mit.

Er hat das hier am Ende gehasst, dachte Franz-Josef, dabei war Versailles seine Idee.

Er hob die Nase in die Luft. »Ich weiß noch, wie es hier früher stank«, sagte er. »Die Revoluzzer haben wohl die Sümpfe trockengelegt.«

Ihm fiel erst auf, dass er Französisch gesprochen hatte, als eine sichtlich wohlhabende Frau sich empört umdrehte und den Kopf schüttelte.

»Was?«, fragte Sissi. Ihr Französisch war besser geworden, aber sie verstand es nur, wenn man langsam sprach.

»Nichts«, sagte Franz-Josef. »Ich war nur für einen Moment lang wieder hier zu Hause.«

Sie hakte nicht nach, nahm nur stumm seine Hand. Wie ein ganz normales Paar schlenderten sie dem Schloss entgegen.

Die Gärten waren kahl um diese Jahreszeit, die Wege bedeckt von altem Laub. Geräusche drangen an Franz-Josefs Ohr: Es wurde gehämmert, gesägt und gerufen.

»Da sind Arbeiter«, sagte Sissi. Im Licht der Gaslaternen konnte auch sie die Umgebung erkennen.

Auf dem Platz vor dem Schloss zimmerten Männer Stände und Gerüste zusammen. Die meisten hatten ihre Mützen mit Schals am Kopf festgebunden, damit der Wind sie nicht davonwehte.

Franz-Josef entdeckte eine Garküche, an der Frauen in großen Töpfen rührten, die über Feuern hingen. Eine Gruppe Arbeiter stand um sie herum und schlürfte Suppe aus hölzernen Näpfen.

Sissi zog ihn in ihre Richtung. »Frag sie mal, was hier los ist«, sagte sie.

Die Männer sahen auf, als sie sich ihnen näherten. Franz-Josef begrüßte sie und fragte nach den Gerüsten.

»Die sind für ein großes Volksfest«, sagte einer von ihnen, ein junger Arbeiter, den die anderen Jacques nannten. »Morgen geht es los.«

»Es kommen Ballonfahrer aus der ganzen Welt«, fügte eine der Köchinnen hinzu. »Sogar aus Amerika.«

»Hunderte«, erklärte Jacques. »Und Tausende von Besuchern. Ich dachte, jeder in Versailles hätte schon davon gehört.«

»Wir sind nur auf der Durchreise.«

»Dann habt ihr aber Glück. Normalerweise muss man bis Paris fahren, um so etwas zu erleben.«

Die vertraute Anrede verärgerte Franz-Josef einen Moment lang, doch dann wurde ihm klar, dass der Mann nicht wusste, wer er war, und auch nicht mehr dafür hingerichtet werden konnte, dass er eine Hoheit duzte.

Um ihn herum ging die Unterhaltung weiter, aber er schenkte ihr keine Beachtung mehr, bedankte sich nur kurz und ging weiter.

»Hunderte?«, fragte Sissi. Sie hatte anscheinend genug verstanden, um das Problem zu erkennen.

»Und Tausende von Schaulustigen«, sagte Franz-Josef. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber sicherlich kein Volksfest.

»Wie sollen wir da etwas finden, von dem wir noch nicht einmal wissen, was es ist?« Sissi blieb stehen.

»Wir müssen es versuchen.«

Seine Stimmung trübte sich, als er und Sissi den Rückweg antraten. Er hatte sich alles so einfach vorgestellt: Mit Sissi nach Versailles fahren, herausfinden, was Seine Eminenz plante, alles Sophie verraten und wieder in Ehren am Hof aufgenommen werden. Doch nun musste er sich der Frage stellen, was geschehen würde, wenn er scheiterte.

Wäre das wirklich so schlimm?, fragte er sich. Er vermisste niemanden, am allerwenigsten Sophie. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in der Hofburg vor so vielen Jahren schwebte ihr Schatten nicht über ihm. Er fühlte sich freier als je zuvor.

Könntest du dir ein ganz anderes Leben vorstellen als das, was du bisher geführt hast?, wollte er Sissi fragen, doch im gleichen Moment sah er den Mann.

Er taumelte zwischen den Bäumen am Wegesrand hervor. Auf den ersten Blick hielt Franz-Josef ihn für einen wilden Vampir, doch dann roch er den Gestank, der an ihm haftete, und sah, wie alt der Mann war.

Passanten wichen vor ihm zurück, als er ihnen entgegenwankte, die dürren Arme ausgestreckt, den Mund weit aufgerissen. Er war fast kahl, die wenigen Haare, die ihm geblieben waren, standen wirr vom Kopf ab. Sein verfilzter grauer Bart bedeckte fast den gesamten Oberkörper. Er trug Lumpen und ging barfuß.

»Ihre Augen!«, schrie er. Franz-Josef bemerkte überrascht, dass er Deutsch sprach. »Ihre Augen machen uns zu Vieh!« Er sank auf die Knie, begann zu schluchzen. Franz-Josef konnte ihn kaum noch verstehen. »Wenn sie fliegen«, hörte er ihn zwischen keuchenden Atemzügen hervorstoßen, »wenn sie … Lasst sie nicht fliegen … oh Gott, lasst sie nicht fliegen!«

Franz-Josef sah Sissi an. Es war, als spräche der Mann zu ihnen.

Sissi - Die Vampirjägerin
titlepage.xhtml
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_000.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_001.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_002.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_003.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_004.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_005.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_006.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_007.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_008.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_009.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_010.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_011.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_012.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_013.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_014.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_015.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_016.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_017.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_018.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_019.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_020.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_021.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_022.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_023.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_024.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_025.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_026.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_027.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_028.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_029.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_030.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_031.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_032.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_033.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_034.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_035.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_036.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_037.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_038.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_039.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_040.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_041.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_042.html
Sissi_-_Die_Vampirjagerin_split_043.html