KAPITEL DREIUNDDREISSIG

Vampire kontrollieren den Buchdruck und die Zeitungen und durch sie die öffentliche Meinung. Über Jahrhunderte haben sie auf diese Weise unsere Sicht der Welt geprägt und uns Schritt für Schritt von der Wahrheit entfernt. Dank unserer Besessenheit für das geschriebene Wort fiel ihnen das leicht, denn wir schätzen das, was wir lesen, stets höher als das, was wir nur hören. Die Kinder Echnatons haben diesen Umstand bisher vernachlässigt, ein Problem, das dieses Buch zu lösen versucht.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

Er starb in Sissis Armen.

Sie ließ ihn behutsam zu Boden sinken, während die Passanten, die eben noch vor ihm geflohen waren, zurückkehrten und einen Kreis um die Leiche bildeten.

»Lass uns gehen, bevor jemand die Gendarmen ruft«, sagte Franz-Josef leise.

Sissi nickte und stand auf. Ein Mann fragte sie, ob sie den Toten gekannt hätten, aber sie schüttelte nur den Kopf, bahnte sich einen Weg durch die Neugierigen und ging an Franz-Josefs Seite zurück zur Herberge.

»Ihre Augen machen uns zu Vieh«, zitierte sie, als er die Eingangstür hinter ihnen schloss. »Er meinte die Augen der Vampire, oder?«

»Ich weiß es nicht, wahrscheinlich schon.«

Franz-Josef wirkte unruhig. Er lief vor den verhängten Fenstern auf und ab wie eines jener Raubtiere, die man im Tierpark der Hofburg hielt.

»Du hast noch nicht getrunken«, sagte Sissi. Sie sprach es nur ungern an. Die Jagd, wie Franz-Josef seine nächtliche Suche nach Blut nannte, war eines der wenigen Themen, über das sie nie sprechen konnten, ohne sich zu streiten.

»Ich werde später gehen«, sagte er. »Es ist noch genug Zeit.«

Anfangs hatte Sissi geglaubt, es wäre Scham, die ihn davon abhielt, in ihrer Gegenwart zu jagen, aber mittlerweile hatte sie erkannt, dass er das aus reiner Höflichkeit tat. Er sah sich selbst als Raubtier, warum also sollte er sich schämen? Sie verstand es, aber es gefiel ihr nicht. »Wenn es hilft, könntest du von mir …«

Er ließ sie nicht ausreden. »Niemals.« In seinem Blick lag Unverständnis, als sei es ihm unbegreiflich, wie sie so etwas vorschlagen konnte. »Niemals«, wiederholte er. Dann räusperte er sich und wechselte abrupt das Thema. »Er war betört«, sagte er. »Bis kurz vor seinem Tod.«

Er setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe des Kamins. »Jemand muss ihn jahrelang so gehalten haben, bis er entkam oder freigelassen wurde.«

»Nur um zu sterben.« Der Gedanke stimmte Sissi traurig.

»Er wäre sowieso gestorben. Selbst wenn man sehr vorsichtig ist, kann man einen Menschen nicht unbegrenzt betören. Das zerstört den Verstand.«

»Wirklich? Und was ist mit dem Personal in der Hofburg?« Sissi dachte an den Jungen, der ihr den Weg zum Ballsaal gezeigt hatte. Weder er noch die anderen hatten es verdient, den Verstand zu verlieren, nur weil sie am falschen Ort arbeiteten.

»Das sind nur kleine Eingriffe. Ich rede davon, jemandem eine andere Umgebung vorzuspiegeln, ein Leben, das es gar nicht gibt.«

So wie bei den beiden Mädchen, die die wilden Vampire festgehalten haben, dachte Sissi. Franz-Josef hatte recht. Der verwahrloste Mann erinnerte sie an die beiden.

»Er kann nicht weit gekommen sein, so ausgemergelt, wie er war«, sagte sie und zog den Umhang, den sie hatte ablegen wollen, wieder um die Schultern. »Lass uns nachsehen. Vielleicht finden wir ja etwas.«

»Wir? Jetzt?«

»Warum nicht?« Sie sah ihm an, dass er am liebsten allein aufgebrochen wäre, auch wenn er es nicht aussprach.

»Also gut«, sagte er nach einem Moment.

Der Tote war bereits weg, als sie zu der Stelle zurückkehrten, wo sie ihm begegnet waren. Auch die Menge hatte sich aufgelöst. Die Passanten, die nun an ihnen vorbeischlenderten, ahnten wohl nicht, was sich weniger als eine halbe Stunde zuvor auf der schmalen Allee zugetragen hatte.

»Riechst du ihn noch?«, fragte Sissi.

Franz-Josef sah sie an. »Ich bin kein Hund.«

Der Hunger schien seine Laune zu beeinträchtigen. Sissi hob die Schultern. »Entschuldige.«

Das Licht der Gaslaternen blieb hinter ihnen zurück, als sie die Allee verließen und in die Richtung gingen, aus der der Unbekannte gekommen war. Schmale Wege führten durch Kräuter-und Gemüsegärten. Bohnenstangen ragten hinter Hecken hervor.

Sie trafen nur einen alten Mann, der eine Schubkarre mit Kohlköpfen vor sich herschob. Franz-Josef fragte ihn, ob er etwas gesehen habe, worauf der Bauer wortlos den Weg hinunterzeigte.

Nach einer Weile wurde aus den Gärten unbebautes Brachland. Es war eine sternklare Nacht und in ihrem Licht erkannte Sissi Gestrüpp und hohes Gras. Der Weg führte noch einige Meter zwischen Sträuchern hindurch, dann endete er im Nichts.

»Das war früher alles Sumpf«, sagte Franz-Josef. »Erstaunlich, wie viel sich in so kurzer Zeit verändert hat.«

Das sind über sechzig Jahre, dachte Sissi. Ein ganzes Menschenleben.

»In relativ kurzer Zeit«, fügte Franz-Josef nach einem Moment hinzu, als sei ihm klar geworden, wie der Satz für Sissi klingen musste, »geschichtlich betrachtet.«

»Schon gut.« Sissi lächelte. »Ich weiß, dass ich nicht so lange leben werde wie du. Das ist kein Geheimnis.«

»Wir werden sehen.« Mehr sagte Franz-Josef dazu nicht.

Er ging voran, führte Sissi durch das hohe Gras, warnte sie, wenn Wurzeln aus dem Boden ragten oder Dornenranken ihrer Kleidung drohten. Irgendwann wurde es unter ihren Schritten feuchter. Pfützen funkelten im Sternenlicht.

Franz-Josef blieb stehen. »Du hast ihn berührt«, sagte er. »War er nass?«

»Nein.«

»Dann ist er nicht durch die Sümpfe gelaufen.« Er kehrte um und führte Sissi zurück, bis der Boden unter ihren Füßen wieder trocken war. »Wenn wir nach rechts gehen, kommen wir zurück in die Stadt. Ich weiß nicht, was links von uns liegt. Als Kind bin ich nie weiter als bis hierher gekommen.«

Sissi versuchte, ihn sich in seiner Kindheit vorzustellen. »Hast du mit deinen Freunden den Sumpf erkundet?«

»Mit meinen Soldaten.« Franz-Josef bog die Zweige eines Dornenbuschs zur Seite und ließ Sissi vorgehen. »Ich wurde rund um die Uhr bewacht.« Er sah zur Seite. »Hier ist ein Pfad.«

Der Pfad war gerade so breit, dass sie nebeneinanderher gehen konnten. Auf beiden Seiten wuchs dichtes Gestrüpp. Sissi konnte sich nicht vorstellen, dass der alte Mann die Kraft gehabt hatte, sich einen Weg quer hindurch zu bahnen. Wenn er aus dieser Richtung gekommen war, dann musste er den Pfad benutzt haben.

»Das klingt einsam«, sagte Sissi.

Franz-Josef schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Ich war immer mit anderen zusammen und die Soldaten drückten bei vielem beide Augen zu.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Aber ich wette, dass du viele Freunde hattest.«

»Nicht so viele.« Sissi scheute davor zurück, keinen einzigen zu sagen, obwohl es die Wahrheit gewesen wäre. »Ich musste fast immer üben, und wenn nicht, wurde ich unterrichtet. Die Lehrer kamen zu uns ins Haus.«

»Lehrer der Kinder Echnatons?«

»Natürlich.«

Franz-Josef schwieg. Sissi dachte daran, was sie gelernt hatte: Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen und Unmengen von Fakten über Vampire und wie sie die Welt beherrschten. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, sie mit den Nachbarskindern spielen zu lassen. Sie sehen die Welt nicht so wie du, hatte ihr Vater einmal gesagt. Du kannst ihnen nicht trauen, nur uns und deinen Geschwistern.

»Wieso bist du plötzlich so still?«, fragte Franz-Josef.

Sie schüttelte den Gedanken ab. »Es ist nichts.«

Sissi befürchtete, dass er nachfragen und sie dazu bringen würde, sich noch einmal den Fragen zu stellen, die sie so lange verdrängt hatte, aber er blieb stattdessen stehen und hob die Hand.

»Da sind Menschen«, sagte er.

Sissi duckte sich unwillkürlich. Sie folgte Franz-Josef weiter den Pfad entlang. Nach ein paar Schritten duckte er sich ebenfalls, bis er hinter dem Gestrüpp nicht mehr zu sehen war.

»Vorsicht, das sind mindestens ein Dutzend«, flüsterte er.

Einige Meter weiter endete der Pfad an einer Lichtung. Sissi sah einen gespaltenen, toten Baum, in den vor langer Zeit einmal der Blitz eingeschlagen haben musste, und hinter Sträuchern verborgen das halb eingestürzte Dach eines Hauses. Geschwärzte Balken ragten aus der Ruine auf.

Im ersten Moment hielt Sissi die Menschen, die zwischen Mauerresten und Trümmern hockten, für Büsche, doch dann bewegte sich einer von ihnen. Er kroch zu einem Baum und begann in der Erde zu scharren. Die anderen reagierten nicht darauf. Niemand sprach.

»Etwas stimmt nicht mit ihnen«, flüsterte Sissi. »Spürst du das auch?«

Franz-Josef nickte. In der Dunkelheit war sein Gesicht nur ein verschwommener heller Fleck.

Sissi richtete sich auf und ging auf die Ruine zu.

»Was tust du?«, flüsterte Franz-Josef hinter ihr, aber sie ignorierte ihn.

»Bonsoir«, sagte sie laut.

Einige Köpfe hoben sich beim Klang ihrer Stimme. Sissi blickte in offene, lächelnde Gesichter. Die meisten Menschen trugen gute, teure Kleidung, waren wohl einmal Händler und Großbauern aus der Umgebung gewesen. Nun hockten sie am Boden und gruben im Dreck nach Wurzeln und Würmern.

Sissi drehte sich um, als Franz-Josef neben sie trat. »Sind sie betört worden?«

Er kniff die Augen zusammen, musterte jeden Einzelnen von ihnen. Dann runzelte er die Stirn. »Ja, aber nicht so, wie ich es könnte. Das hier ist anders.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Ihnen wurde der Verstand nicht vernebelt, sondern genommen, Sissi. Sie werden ewig so bleiben.«

Sie wollte ihm nicht glauben. Auch Kinder waren unter den Menschen. »Woher willst du das wissen?«

»Ich spüre es. Sie sind leer.«

Leer. Das Wort entsetzte sie. Langsam ging sie auf die Ruine zu, vorbei an den Menschen am Boden, die sie nicht länger beachteten.

Franz-Josef fasste sie am Arm. »Sei vorsichtig. Komm ihnen nicht zu nahe.«

Steine knirschten unter ihren Sohlen, als sie die Ruine betrat. Sie sah einen Mann und eine Frau in einer Ecke, die auf altem Laub miteinander schliefen. Es stank nach Kot. Sissi würgte und hielt sich den Kragen ihres Umhangs vor Mund und Nase.

Die Wände und die Decken des verfallenen Hauses waren geschwärzt. Es musste irgendwann abgebrannt sein, vielleicht an dem Tag, an dem ein Blitz das Leben des Baums vor dem Eingang beendet hatte.

Franz-Josef wandte sich nach rechts, sie nach links. In einem kleinen Zimmer, das früher vielleicht einmal eine Abstellkammer oder dergleichen gewesen war, hockten drei Frauen am Boden. Lächelnd scharrten sie mit den Fingern in einem Spalt zwischen den Dielen. Als eine von ihnen nach einer Kellerassel griff, wandte Sissi sich ab.

Oh Götter, dachte sie.

»Sissi?«

Sie folgte dem Klang von Franz-Josefs Stimme. Der Gang, den er genommen hatte, führte in einen besser erhaltenen Teil des Hauses. Durch eine offen stehende Tür konnte Sissi Tische sehen, auf denen Werkzeug und Instrumente lagen. In einer Ecke stand ein Mikroskop neben einer Öllampe.

»Sieh dir das an.« Franz-Josef hob ein großes, fest verschlossenes Einmachglas hoch. Augäpfel schwammen darin. »Ich glaube, einer davon gehört Sophie.«

Sissi hätte sich beinah übergeben. Mühsam schluckte sie bittere Galle hinunter. »Was hat das alles zu bedeuten?«

Er stellte das Glas zurück auf den Tisch. Die Augäpfel hüpften auf und ab wie Korken im Wasser. »Es bedeutet, dass Seine Eminenz versucht, die Welt zu verändern. Er hat die leeren Hüllen da draußen mit den Augen von Vampiren erschaffen, was weiß ich, wie! Doch das ist erst der Anfang.«

Sissi versuchte, die Augäpfel auf dem Tisch nicht anzusehen, auch wenn sie in ihre Richtung zu starren schienen. »Was findet im Stephansdom zu Weihnachten statt?«, fragte sie.

Franz-Josef hob die Schultern. »Sehr viel.«

»Etwas Besonderes?«

Seine Augen weiteten sich. »Die Mitternachtsmesse. Jeder europäische Würdenträger, der etwas auf sich hält, nimmt daran teil. Der Dom wird voller Menschen sein mit Tausenden von Schaulustigen auf allen Plätzen.«

»Und einem Ballon voller Was-weiß-ich über ihren Köpfen.« Sissi biss sich auf die Lippe. Sie dachte an ihre Familie, die zum Weihnachtsfest nach Wien kommen würde. »Wir müssen ihn aufhalten, Franz.«

»Ja.« Er wirkte nachdenklich, als er an ihr vorbeiging und durch ein Loch in der Wand die Ruine verließ.

»Was ist?«, fragte sie.

Franz-Josef zögerte. »Ich bin nur nicht sicher, ob du weißt, worauf du dich einlässt. Das ist nicht irgendein wilder Vampir, sondern Seine Eminenz. Er …«

Sissi hob die Hand. »… hat einen ziemlich doofen Namen und wir werden ihn schlagen.« Es sollte locker klingen, aber sie war nicht sicher, ob ihr das gelungen war. Sie spürte immer noch die Blicke der Augäpfel im Rücken.

»Seine Eminenz ist nicht sein Name«, sagte Franz-Josef. »Wir nennen ihn nur so, weil wir ihn irgendwie bezeichnen müssen. Er ist so alt, dass es, als er in die Welt kam, noch nichts gab, was einen Namen trug. Er hat es bis heute nicht für nötig gehalten, sich einen zuzulegen.« Er ergriff Sissis Hand. »Nimm ihn ernst.«

Sie nickte.

»Und, Sissi?«

»Ja?«

»Weißt du, wie viel ein Schrankkoffer kostet?«

Sissi - Die Vampirjägerin
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