KAPITEL ACHT
Vampire sind Blender. Nichts liegt ihnen ferner als die Wahrheit, nichts näher als die Lüge. So hält sich seit Jahrhunderten die von ihnen in die Welt gesetzte Legende, das Blut eines Vampirs könne Unsterblichkeit verleihen. Selbst unter den Kindern Echnatons gibt es solche, die, wenn auch insgeheim, daran glauben. Auch die Tatsache, dass es so wenige von ihnen und so viele von uns gibt, bringt sie nicht davon ab. Unsterblichkeit ist der Lockruf des Vampirs. Wer ihm erliegt, ist verloren.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Sie redeten.
Anfangs gingen sie noch den Weg entlang, dann, als es für Sissi zu dunkel wurde und Franz-Josef zumindest so tun musste, als schränke ihn die Nacht ein, setzten sie sich auf einen Stein und redeten weiter.
Sie sprachen über die Jagd, über Tiere, über Blumen und über die Dinge, die sie liebten. Meistens überließ Franz-Josef Sissi das Wort. Er genoss den Klang ihrer Stimme und den süßen Geruch, der bei jeder ihrer Bewegungen zu ihm herüberwehte. Wenn er die Augen schloss, hörte er, wie das Blut in ihrem jungen, warmen Körper pulsierte. Es hätte ihn vor Gier verzehren müssen, aber er spürte nichts dergleichen, nur Freude und Zufriedenheit. Erschrocken erkannte er, dass er in seiner ganzen Existenz noch nie so glücklich gewesen war.
Irgendwann unterbrach Sissi ihren eigenen Redefluss. »Was tue ich denn da?«, lachte sie. »Da rede ich die ganze Zeit und lasse Sie kaum zu Wort kommen. Das muss Sie ja schrecklich langweilen.«
»Im Gegenteil.« Franz-Josef widerstand nur mühsam der Versuchung, ihre Hand zu ergreifen. »Ich erfreue mich an all den Dingen, die wir gemeinsam haben. Wir lieben beide rote Rosen und mögen Tiere.«
»Sie mögen sie aber am liebsten, wenn sie vor Ihrer Flinte auftauchen.«
Er lachte. Das Geräusch erschreckte ihn beinah, so selten hörte er es. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal gelacht hatte. Im Palast war er nur von Herrschsucht, Intrigen und Tod umgeben, da gab es wenig Anlass zur Freude. Und es würde noch weniger geben, wenn er sich Sophie widersetzte und ihre Heiratspläne ablehnte.
»Was ist?«, fragte Sissi. Obwohl sie sich erst seit wenigen Stunden kannten, schien sie seine Stimmungen so gut zu spüren, als lebten sie seit Jahren zusammen.
»Mir ist nur gerade klar geworden, dass wir diesen Wald irgendwann wieder verlassen und in unsere Leben zurückkehren müssen. Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher, als hier bei Ihnen bleiben zu können.«
»Ist Ihr Leben denn so trostlos?«
»Meine Zukunft ist es.«
Er sagte die Wahrheit, ungeschminkt und ungeschönt. Es kam ihm vor, als könne er Sissi seine geheimsten Wünsche und tiefsten Ängste anvertrauen. Wenn er in ihre Augen sah, fühlte er eine Verbundenheit, die weiter ging als alles, was er bisher je erlebt hatte.
Wieso will ich ihr Blut nicht trinken?, fragte er sich. Warum entsetzt mich nichts so sehr wie der Gedanke, sie zu verletzen?
Es war widernatürlich, fast schon beängstigend. Wäre er älter gewesen, hätte er an seinem Verstand gezweifelt.
Ihre Finger bewegten sich auf die seinen zu, verharrten aber kurz vor der Berührung.
»Mein Vater«, begann Sissi, »geht immer in den Wald, wenn ihn Sorgen plagen. Er sagt, dort würde alles, was ihn bedrückt, unbedeutend, denn er erkenne dann die Größe der Schöpfung und den Willen der Gött… den Willen Gottes.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Worte überschlugen sich. »Wie dumm von mir. Es gibt natürlich nur einen Gott. Und seinen Willen erkennt er im Wald, nicht den von … etwas anderem, was selbstverständlich nicht Gott ist. Sonst gäbe es ja mehr als einen und das … glauben nur Wilde.«
Franz-Josef runzelte die Stirn.
Sissi räusperte sich. »Da sehen Sie, was passiert, wenn Sie einfach so ein fremdes Mädchen ansprechen. Es stellt sich als Verrückte heraus, die seltsames Zeug plappert und eben mal so die Grundlagen des Christentums vergisst.«
»Betrachten wir das als Ausrutscher und sprechen nicht mehr davon«, sagte er. Ein sehr seltsamer Ausrutscher, fügte er in Gedanken hinzu.
Sissi wirkte erleichtert. »Sie sind sehr verständnisvoll.«
»Nicht mehr als Sie. Schließlich opfern Sie gerade Ihre Zeit einem Fremden, der offensichtlich sehr angetan von Ihnen ist, obwohl Sie sicherlich Besseres zu tun hätten.«
»Nein, ganz und gar nicht. Meine Mutter sperrt mich eh nur die ganze Zeit im Zimmer ein, weil ich ungehorsam war.«
»Dann helfen wir uns ja gegenseitig.« Franz-Josef lächelte und schob seine Hand ein kleines Stück weiter, bis sie Sissis Finger berührte. Er sah, wie sie erstarrte, befürchtete bereits, zu weit gegangen zu sein, doch dann ergriff sie plötzlich seine Hand.
Einen Moment saß Sissi schweigend neben ihm. Gemeinsam betrachteten sie den Mond und lauschten den Geräuschen des Waldes.
»Warum ist Ihre Zukunft trostlos?«, fragte Sissi.
»Weil ich eine Frau hei…« Der Schlag traf ihn aus dem Nichts.
Franz-Josef wurde durch die Luft geschleudert. Er sah einen Baumstamm auf sich zukommen. Die Äste streckten sich ihm spitz und bedrohlich entgegen. Er drehte sich, um dem Zusammenstoß auszuweichen, und biss die Zähne zusammen, als er mit dem Rücken gegen den Stamm prallte. Äste splitterten. Irgendetwas bohrte sich in seine Schulter. Er spürte scharfen Schmerz und für einen Augenblick wurde alles schwarz um ihn.
Sissis Schrei riss ihn aus seiner Benommenheit. Franz-Josef schüttelte den Kopf und kam unsicher auf die Beine. Sein Blick klärte sich.
Sissi stand breitbeinig neben dem Stein, auf dem sie gesessen hatten. Sie hielt einen langen, schwer aussehenden Ast in beiden Händen und schwang ihn wie ein Schwert. Die nackte, dreckverkrustete Gestalt, die sich ihr näherte, wich jedes Mal aus, wenn der Ast auf sie zuschoss, aber Josef sah, dass sie nur mit Sissi spielte. Sie grinste und fauchte, täuschte Bewegungen an, die sie nicht ausführte, und Angriffe, die nicht erfolgten. Ihre kleinen Brüste hüpften bei jeder Bewegung auf und ab.
Franz-Josef stieß einen gellenden Pfiff aus. Die wilde Vampirin fuhr herum. Ihr langes Haar war zu einer verfilzten Matte zusammengewachsen, die wie ein Teppich schwer über ihren Rücken hing.
»Igitt«, hörte er Sissi sagen. Die Reaktion erschien ihm fast noch seltsamer als ihr Aussetzer.
Die Vampirin beachtete Sissi nicht mehr, sondern ging mit langen, kräftigen Schritten auf Franz-Josef zu. Er warf einen Blick auf seine Flinte, die er an den Stein gelehnt hatte. Sie würde ihm ebenso wenig nutzen wie das Messer in seinem Gürtel. Trotzdem zog er es.
»Geh«, sagte er. »Dann lasse ich dich leben.«
Er hatte erwartet, dass sie lachen oder ihn verhöhnen würde, nicht aber, dass sie stehen blieb. Doch genau das tat sie. Mit schräg gelegtem Kopf sah sie ihn an, ihre Augen so hell wie der Mond.
Franz-Josef ließ das Messer sinken. »Geh. Ich habe keinen Streit mit dir.«
Die wilde Vampirin antwortete nicht. Ihr Blick glitt hinauf zum Himmel, so als lausche sie einer lautlosen Stimme. Einen Moment lang verharrte sie so. Auf Franz-Josef wirkte sie verloren, wie eine Gestalt aus einer längst vergessenen Zeit, gefangen in einer Welt, die sie nicht mehr verstand. Mit einem Mal tat sie ihm leid.
»Der Wald soll dir gehören«, sagte er so leise, dass nur sie ihn verstehen konnte. »Ich werde dafür sorgen, dass niemand dich hier belästigt.«
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. Etwas veränderte sich darin. Und dann sprang sie aus dem Stand heraus auf ihn zu. Sie riss den Mund auf und fauchte. Ihre Eckzähne glänzten feucht im Mondlicht. Sie roch nach Erde und Einsamkeit.
Franz-Josef riss das Messer hoch und stieß zu. Die Klinge durchstieß die Haut ihres Arms und bohrte sich in ihr Fleisch, aber sie wich nicht zurück, stieß keinen Laut aus. Mit dem Knie prellte sie ihm die Waffe aus der Hand, mit dem unverletzten Arm schlug sie nach seinem Gesicht. Er duckte sich unter ihrem Schlag weg und rammte ihr die Schulter in die Rippen. Er hörte Knochen brechen. Die wilde Vampirin wurde zur Seite geschleudert. Er setzte nach, aber sie ließ sich fallen und trat ihm die Beine unter dem Körper weg.
Dann war sie auch schon über ihm. Ihre Fäuste waren wie Steine. Sie hämmerte sie in seinen Magen, seine Rippen, gegen seinen Kopf. Er versuchte, sie abzuwehren, sah plötzlich ihre Kehle über sich, riss den Kopf hoch, um sie ihr aus dem Hals zu reißen, schloss den Mund jedoch im letzten Moment.
Sissi, dachte er. Sie darf mich so nicht sehen.
Es war, als kämpfe er mit einer Hand hinter dem Rücken. Die wilde Vampirin schlug auf ihn ein, bedrängte ihn immer weiter, während er versuchte, sich wie ein Mensch zu verteidigen. Er hätte Sissi betören können, doch mit der Erinnerung an den Kampf hätte er ihr auch jene an diesen Abend genommen. Dazu war er nicht bereit.
Die Vampirin schien seine Zurückhaltung zu spüren, denn sie fauchte und schnappte nach seinem Hals. Franz-Josef schlug ihren Kopf zur Seite, sodass sie auf den Boden prallte. Mit einem Mundvoll Erde kam sie wieder hoch.
Er schlug ihr beide Fäuste ins Gesicht. Schwarzes Blut spritzte über sein Hemd. Die Vampirin schüttelte sich. Einen Moment lang ließen ihre Attacken nach. Franz-Josef stemmte die Knie gegen ihre Hüften, wollte sie von sich stoßen, aber sie krallte sich mit einer Hand in seine Brust.
Wieso nur mit einer Hand?
Er drehte den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er den abgebrochenen Ast in ihrer freien Hand sah. Sie holte aus und … explodierte!
Asche und Schleim klatschten Franz-Josef ins Gesicht. Der Druck verschwand von seinem Körper. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und blinzelte. Sissi stand über ihm. In einer Hand hielt sie ihren hölzernen Kamm. Die Zacken waren abgebrochen, Schleim tropfte von dem langen, spitzen Griff.
»Bist du verletzt?«, fragte sie.
»Nein.« Er war zerschlagen und zerkratzt, aber in der Dunkelheit konnte sie sein schwarzes Blut nicht sehen. Es vermischte sich mit der Asche und dem Schleim. »Und du?«
»Nichts passiert.« Sie klang erstaunlich gelassen, fast schon fröhlich. »Hast du gesehen, wie schnell die war? Wenn ich nicht daran gedacht hätte, dass der Kamm …« Sie unterbrach sich. Einen Augenblick lang sagte sie gar nichts, dann begann sie plötzlich zu schluchzen und sackte neben ihm zusammen.
»Oh mein Gott, oh Gott, wie entsetzlich! Was war das? Franz, was war das für eine schreckliche Frau?«
Er setzte sich auf und nahm Sissi in die Arme. Ihre Tapferkeit beeindruckte ihn. Sie hatte ihm die Existenz gerettet. Kein Wunder, dass sie nach so einem furchtbaren Erlebnis zusammenbrach.
Beruhigend strich er ihr über das lange Haar. »Du musst keine Angst mehr vor ihr haben. Sie ist ja fort.«
Sissi hielt sich an ihm fest. Sie zitterte. »Aber wer war sie? Was wollte sie von uns?«
»Es war bestimmt eine Verrückte. Ein paar Kilometer entfernt von hier gibt es eine Anstalt. Da muss sie ausgebrochen sein.«
Es gab keine Anstalt in der Nähe, aber das wusste Sissi ja nicht. Er spürte, wie sie nickte, während er sie streichelte.
»Und wieso ist sie …«, Sissi schluckte, »… geplatzt?«
Franz-Josef zögerte. »Vielleicht, weil sie krank war?«
Sissi barg ihr Gesicht an seine Schulter und schluchzte. Es klang beinah so, als lache sie.