KAPITEL VIERUNDDREISSIG
Unter den Kindern Echnatons gibt es manche, die eine Kontinuität in der Geschichte Europas zu erkennen glauben, die auf einen steuernden Willen im Hintergrund zurückzuführen sei. Der Glaube an diese graue Eminenz, die das Schicksal der zivilisierten Welt lenkt, ist verlockend, verleiht sie uns doch die trügerische Hoffnung, mit dem Tod eines einzelnen Vampirs würde ganz Europa fallen, aber sie ist leider völliger Blödsinn.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Ein Schrankkoffer war schwerer zu bekommen, als Sissi gedacht hatte, und teurer. Fast den ganzen Vormittag benötigte sie, um einen aufzutreiben, der groß genug für ihre Zwecke war. Sie ließ ihn zur Herberge liefern und machte sich auf den Weg zum Schloss.
An die Menschen, die sie in der Ruine zurückgelassen hatten, versuchte sie nicht zu denken. Sie sind doch glücklich, hatte Franz-Josef gesagt, als sie fragte, was sie wegen ihnen unternehmen sollten. Wir müssen nichts tun.
In gewisser Weise hatte er recht, trotzdem behagte ihr seine Leichtfertigkeit nicht. Es waren Menschen, die dort im Dreck wühlten, keine Kühe.
Die Stände auf dem großen Platz vor dem Schloss waren fertig aufgebaut, die ersten Händler räumten bereits ihre Waren ein. Fast jeder schien Miniaturballons und Holzspielzeug anzubieten. Hinter den Ständen bemerkte Sissi Gerüste und Absperrungen. Riesige schlaffe Säcke lagen im Gras. Einige zierten Muster, andere Bilder, die man wohl erst erkennen würde, wenn die Ballons sich vollständig aufgebläht hatten.
Sissi ging an den Kohlefeuern vorbei, mit denen die Luft in den Säcken erhitzt wurde, so erklärte es ihr zumindest einer der Ballonfahrer, ein Rheinländer namens Alfons.
Franz-Josef hatte sie gebeten, nach verdächtigen Gegenständen oder Vorkommnissen Ausschau zu halten, aber sie hatte wenig Hoffnung, dass ihr etwas auffallen würde. Er anscheinend auch nicht, weshalb sonst hätte er um einen Schrankkoffer gebeten?
In der Nacht, als sie bereits im Halbschlaf lag, hatte sie ihn das Haus verlassen hören. Sie wusste nicht, was er gejagt hatte, und würde ihn auch nicht danach fragen.
Ich muss lernen, zu akzeptieren, was er ist, dachte sie zum wiederholten Mal.
Es waren tatsächlich Hunderte Ballonfahrer nach Versailles gekommen, so wie die Köchin gesagt hatte, aber nicht alle würden den Boden verlassen. Während Sissi über das Gelände wanderte, brachen zwei Feuer aus, von denen eines gleich mehrere Ballons zerstörte. Die Freiwilligen, die mit Wasser-und Sandeimern in der Hand auf dem Gelände patrouillierten, bekamen das andere rasch in den Griff.
Sissi hatte geglaubt, die Ballonfahrer würde jeder Ausfall eines Konkurrenten freuen, doch sie sah nur Bedauern in den Gesichtern.
»Mer sin ne verschworene Jemeinschaft von Spinnern«, hatte Alfons erklärt, als sie ihn danach fragte. »Und kein Spinner sieht et jään, wenn nem andere en Unglück widderfährt.«
Er schien es ernst zu meinen.
Sein Ballon bestand nicht nur aus einem, sondern aus fünf Kugeln, von denen zwei bereits vollständig gefüllt waren, als Sissi mit ihm zu reden begann. Ein langes, aus Korb geflochtenes Schiff hing darunter. Es hatte einen spitzen Kiel und war schmal.
»Damit kann isch dat Luftmeer zerdeile wie en Drachenboot dat Wasser«, sagte Alfons auf ihre Frage. »Keiner weed so schnelll sin wie isch.«
Andere Ballonfahrer hatten ähnlich exotische Ideen. Ihre Gefährte hatten die unterschiedlichsten Formen. Manche benutzten mehrere Hüllen, andere mehrere Körbe, einer sogar gar keinen Korb, nur eine Halterung für das Kohlefeuer und einen Stuhl, der, von langen Stricken gehalten, darunter hing.
Sissi strich ihn von der Liste möglicher Verdächtiger.
Es war ohnehin eine erschreckend kurze Liste. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wonach sie suchte. Versteckte einer der Ballonfahrer Vampire im Stauraum seines Korbs? Gab es Säcke oder Flaschen, in denen der Stoff, der Menschen in leere Hüllen verwandelte, transportiert wurde?
Ihre Unwissenheit frustrierte Sissi. Es fiel ihr schwer, die flötende kleine Sissi aus Possenhofen zu spielen, aber sie tat es trotzdem und hoffte, dass sie bei ihren Unterhaltungen mit den Ballonfahrern auf irgendetwas stoßen würde, was ihr weiterhalf.
Doch sie fand nichts.
Schließlich gab sie auf und kehrte zurück zu Alfons, dessen dritte Hülle mittlerweile am Korb hing.
»Mir ist da ein ganz schreckliches Malheur passiert«, flötete sie.
Der Rheinländer sah von der Karte auf, die er auf seinen Knien ausgebreitet hatte, und blickte Sissi fragend an. Er war ein älterer Mann, mit einem von grauen Strähnen durchzogenen Vollbart und rundem Gesicht.
»Wenn et irjendwatt is, wobei isch hellfen kann, Mädsche, dann sach et ruhisch«, meinte er.
»Es …« Sie zögerte und senkte verschämt den Kopf. »Ich wollte doch so gern mit dem Papili … das ist mein Vater …«, fügte sie rasch hinzu, damit er sie nicht für geisteskrank hielt, »… das Weihnachtsfest in Wien verbringen. Dafür hatte ich extra einen Fahrschein für den Zug erworben. Ich bin noch nie im Zug gefahren und ich war so aufgeregt. Und nun habe ich den Fahrschein verloren.« Sie versuchte, sich einige Tränen abzuringen, aber sie war keine so gute Lügnerin wie ihre Mutter.
Alfons winkte ab. »Dat hättste eh nit jeschafft, is vill zu spät. Dä Zuch bruch ne Woche oder mie. Da is de Weihnachtsjans schon janz kallt, wenn du noh Huss küss.«
Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, riss zur Sicherheit jedoch die Augen weit auf. »Aber was mache ich denn jetzt? Das Papili wird ganz unglücklich sein, wenn ich nicht da bin.«
Der Ballonfahrer faltete die Karte zusammen und steckte sie in eine Ledertasche, die er über der Schulter trug. Mit dem Daumen zeigte er hinter sich auf die drei Männer, die im Schiff standen, Leinen festzurrten und Sandsäcke verteilten.
»Isch däät disch jo mitnemme, ävver dä Ballon is volll und de Jungs könne ja schlääsch noh Wien laufe. Mit dem Rudi singe Schwester bin isch verhierot. Dat würd isch mein Lebtach zu hüre krije.«
Sissi nahm an, dass das Nein heißen sollte. Sie griff in ihre Gürteltasche, zog den Geldbeutel heraus, den Franz-Josef ihr gegeben hatte.
»Das Papili hat mir ein bisschen Geld dagelassen, für den Fall, dass ich in Not gerate«, flötete sie. »Ich kenne mich nicht so aus, deshalb weiß ich nicht, wie viel das ist.«
Sie reichte Alfons den Geldbeutel. Dessen Augenbrauen hoben sich, als er das Gewicht spürte. Er zog den Beutel auf und ließ ihn mit einer Geschwindigkeit, die Sissi seiner behäbig wirkenden Gestalt nicht zugetraut hätte, in seiner Ledertasche verschwinden und drehte sich um.
»Fred, Mischael!«, rief er. »Erus he! Rudi, du kanns blieve.«
Die Männer ließen ihr Werkzeug sinken und sahen sich verwirrt an.
Alfons wandte sich wieder Sissi zu, während die beiden hinter ihm zu protestieren begannen. »Kümmer disch jar nit um die. Sei um ach morje fröh hä, dann weed dat schon klappe mit dir und dem Papili. Häste Jepäck?«
Sissi nickte. »Einen ziemlich großen Koffer.«
Die Lieferanten standen bereits vor der Tür, als Sissi zur Herberge zurückkehrte. Sie hatte Alfons Franz-Josefs gesamtes Geld gegeben, also schenkte sie den beiden Männern zwei Flaschen Schnaps und bat sie, um sieben Uhr am nächsten Morgen wiederzukommen und den Koffer zum Schloss zu bringen. Zwei weitere Flaschen Schnaps und sie stimmten zu.
Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, die Ritzen in dem fast mannsgroßen Lederkoffer mit Kerzenwachs und Stofffetzen abzudichten. Irgendwann kam ihr der Gedanke, dass Franz-Josef nicht würde atmen können, wenn sie zu sorgfältig vorging, doch dann fiel ihr wieder ein, dass er das auch nicht musste. Im tiefsten Inneren betrachtete sie ihn wohl immer noch als Menschen.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hörte sie, wie die Kellertür geöffnet wurde.
»Guten Morgen«, sagte sie.
Franz-Josef blieb neben ihr stehen und küsste ihr Haar. »Guten Morgen.« Sein Blick fiel auf den Schrankkoffer. »Dir ist also niemand aufgefallen.«
»Nein.« Sissi träufelte Wachs von einer Kerze in eine Kofferritze. »Aber ich habe einen Ballonfahrer gefunden, der uns mitnimmt. Ach ja, und wir haben kein Geld mehr.«
Sie war aufgekratzt. Die Aussicht, schon bald vom Erdboden aufzusteigen und wie ein Vogel durch die Luft zu fliegen, begeisterte sie.
»Und wenn wir uns irren?«, fragte Franz-Josef. Er fuhr mit der Hand über das Kerzenwachs und strich es glatt. »Was dann?«
»Dann haben wir es wenigstens versucht.« Sissi wollte nicht ernsthaft darüber nachdenken. Sie nahm seine Hand. Die Fingerspitzen, mit denen er das Wachs berührt hatte, waren warm. »Ich bin aber davon überzeugt, dass wir uns nicht irren. Er wird in einem der Ballons sein und wir werden ihn aufhalten.«
»Er scheint sich nur so sicher zu sein«, sagte Franz-Josef. »Er hätte die leeren Menschen töten und das Labor vernichten können, aber er hat alles zurückgelassen, als wollte er, dass man es findet.«
»Vielleicht wurde er gestört?« Doch das klang selbst für Sissi nicht sehr überzeugend.
»Nein. Ich denke, er hielt es einfach nicht für nötig. Er weiß, dass er nicht mehr aufzuhalten ist.«
»Er weiß gar nichts.«
Franz-Josef lächelte und küsste ihre Wange. »Du hast recht.« Dann räusperte er sich. »Komm, lass mich den Koffer ausprobieren. Bevor ich Tage darin verbringe, will ich wenigstens wissen, worauf ich mich einlasse.«
Seine plötzliche Fröhlichkeit täuschte Sissi nicht. Er hatte Angst.