KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
Vampire sind auf den Menschen angewiesen. Ohne Menschen können sie sich nicht fortpflanzen (diesen geschmacklosen Aspekt menschlicher Unterdrückung haben wir bereits in einem anderen Kapitel diskutiert) und auch für die Nahrungsaufnahme sind sie unerlässlich. Denjenigen unter den Kindern Echnatons, die eine friedliche und offene Koexistenz von Menschen und Vampiren anstreben, sei noch einmal deutlich gesagt, dass Menschenblut die einzige Nahrung ist, die einen Vampir langfristig am Leben erhält. Tierisches Blut reicht ihm nicht. Alle Geschichten, die Gegenteiliges behaupten, sind von Vampiren gestreute Märchen, die uns verwirren sollen.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Wat is dat denn?«
Alfons stemmte die Hände in die Hüften, als er die beiden Männer sah, die Sissis Koffer schwitzend und fluchend zwischen sich trugen.
»Hätste nit wenigstens dem Weet sin Mobiliar im Zimmer stehe lasse künne?«
Sissi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also lächelte sie nur.
Alfons half den Männern, den Koffer über die Reling der Gondel zu hieven, und begann ihn zusammen mit seinem Schwager Rudi an einer Seitenwand festzuzurren.
»Frauen«, murmelte Rudi.
Alfons schüttelte den Kopf. »Nee, dat Mädsche is schon in Ordnung.« Er winkte Sissi zu. »Kumm ruhisch an Bord. Dä Rudi is nur schläch jelaunt, weil man ze zweit kinn Skat kloppe kann.«
»Ich spiele Skat«, antwortete sie.
»Siehste?« Alfons wandte sich seinem Schwager zu. »Et füscht sich doch allles zum Juten.«
Rudi wirkte nicht wirklich überzeugt.
Sissi hob den Kopf und betrachtete die fünf prall gefüllten Hüllen, die über ihr hingen. Sie boten einen farbenprächtigen Anblick mit Mustern und Bildern fliegender Pferde. Die Seile, mit denen der Korb am Boden befestigt war, knarrten, als könnten sie den Ballon kaum halten.
Auch die anderen Ballons hingen prall gefüllt in der Luft. Manche Körbe schwebten bereits, die meisten waren aber noch am Boden verankert. Überall knarrte und knirschte es. Männer lachten und unterhielten sich. Die allgemeine Spannung war deutlich spürbar.
»Et jab noch nie zuvor in dä Jeschischte dä Minschheit so’n langes Balllonrenne«, erzählte Alfons. Sissi hatte den Eindruck, dass er nur so viel redete, um seine Nervosität zu überspielen. »Do musste mer uns Jedanken mache, wie mer de Luft heiß und de Balllons oben halte. Esüns hammer de Hülllen am Boden erhitz und sinn jefloge, bis mer widder rungerkomme, ävver dat jeht jetz nit. Deshalv die Kohlefeuer an Bord.«
Sissi warf einen Blick auf die Metallkörbe, in denen rot glühende Kohlen lagen. Überall roch es nach Rauch und Feuer.
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte sie.
»Jo, dat is et.« Alfons grinste. »Hä jit et keine, dä nit de Butz voll hätt, ävver weißte watt? Isch will et jarnit anders. Langeweile kann isch hann, wenn ich unger dä Ääd lieje. Do muss isch nit für noh Versailles fahre.«
Auf der anderen Seite des Platzes, verborgen hinter den riesigen schwankenden Ballons, spielte ein Orchester.
»Dä Bürjermeister von Versailles jibt den Startschuss«, sagte Alfons. Er reichte Sissi eine kleine Axt. »Und wenn de willlst, kannste dann de Lingen kappen, de uns am Boden hallten.«
Neben ihm verdrehte Rudi die Augen. Er schien nicht viel zu sagen.
»Danke.« Sissi nahm die Axt mit zwei Fingern, wie es eine Dame getan hätte.
»Du muss rischtisch fest zuschloge«, sagte Alfons. »Stelll dir einfach vüür, da drunger litt einer, den du nit leide kanns. Dann jeht dat jut.«
»Mir fällt schon einer ein.« Rudi zurrte den Schrankkoffer mit einem letzten Riemen fest.
Sissi schätzte, dass er ungefähr so alt war wie Alfons, aber sein Gesicht war faltiger, seine Haut blasser.
Da fiel der Startschuss.
Sissi wirbelte herum, holte aus und hieb den Strick auf der Reling mit einem Schlag durch. Ihr Magen sackte ihr in die Knie, als der Korb auf einmal in den Himmel schoss.
»Dat is dä jefährlichste Moment«, rief Alfons, aber Sissi konnte ihn wegen der Schreie kaum hören.
Erst als sie Luft holte und die Schreie plötzlich verstummten, bemerkte sie, dass sie selbst sie ausgestoßen hatte.
Sissi hörte ein Rumpeln im Schrankkoffer. »Alles in Ordnung«, rief sie. »Mir geht es gut.«
»Tapferet Mädsche«, gab Alfons zurück.
Das Rumpeln im Schrankkoffer hörte auf.
Sissi stellte sich auf die Zehenspitzen und sah über die brusthohe Reling nach unten. Menschen, so groß wie ihre Hand, winkten mit Taschentüchern. Ein halbes Dutzend Ballons stand noch am Boden. Einer schleifte seinen Korb im Wind hinter sich her über den Rasen, dem Orchester entgegen. Die Musik erstarb. Musiker sprangen auf und liefen auseinander.
Sissi lachte. Der Wind zerrte an ihren Haaren. »Das ist so hoch!«, rief sie.
»Dat is noch jarnix.« Alfons trat neben sie. Es überraschte sie, dass er nicht mit irgendetwas beschäftigt war.
»Müssen Sie den Ballon nicht steuern?«
»Steuern? Dat macht dä Wind. Dä weht hier eijentlich immer vun Westen, deshalb flieje mer jetzt nach Osten. Wenn der dä dat nit deit, dann flöje mer woanders hin.« Er schien ihren Blick zu bemerken. »Aber mach dir mal keine Sorgen. Du kommst schon zu dinge Papili.«
Sie fuhr erschrocken herum, als sie die Schreie hörte. Die Ballons hatten begonnen, sich voneinander zu lösen. Jeder fand seine eigene Höhe und seine eigene Geschwindigkeit. Nur zwei hingen weiterhin zusammen, hatten sich mit Leinen verfangen, an denen nun Männer zerrten und rissen. Einer der beiden Körbe wurde bereits gegen die Hülle des anderen Ballons gedrückt und hing gefährlich schief. Kohlen rutschten aus der Glut und fielen in den Korb. Ein Ballonfahrer schaufelte sie hinaus. Sissi sah die Verzweiflung auf seinem Gesicht.
In dem anderen Ballon begannen Männer mit Äxten auf die Leinen einzuschlagen.
»Was machen die da?«, fragte Sissi entsetzt.
»Wat se könne.« Alfons’ joviale Art war verschwunden. Er bekreuzigte sich und schüttelte den Kopf.
Die beiden Ballonfahrer in dem schräg hängenden Ballon bemerkten erst jetzt, was in dem anderen Korb vor sich ging. Sie riefen und gestikulierten, aber die Männer beachteten sie nicht, schlugen nur weiter auf die Stricke ein. Einer riss, dann ein zweiter. Die aufgeblähte Hülle des anderen Ballons rutschte aus dem Netz, das sie hielt, und schoss nach oben, der Korb nach unten. Sissi hörte die Männer schreien. Sie wollte über die Reling sehen, aber Alfons zog sie zurück.
»Sieh nit hin.« Er drehte sich zu Rudi um, der auf der anderen Seite des Schiffs stand. »Konnste sehe, wer dat wor?«
»De Beljier«, rief Rudi.
Alfons bekreuzigte sich erneut. »Arme Schweine.« Dann seufzte er und wandte sich wieder an Sissi. »Ävver dat Schlimmste is jetz vorbei. Waat, bis mer en bissch fott sin, und sieh dir dann die Landschaff an. Dat weed dich schnelll uf andere Jedanke bringe.«
Er hatte recht. Den ganzen Tag verbrachte Sissi an der Reling, eingehüllt in eine Decke und mit Tee in der Hand, den Rudi über einem der Kohlefeuer kochte. Unter jeder Hülle stand eines. Die beiden Männer verbrachten fast die ganze Zeit damit, sie zu bewachen. Zwischendurch zog Alfons seinen Kompass aus der Tasche und kontrollierte die Richtung. Er wirkte zufrieden.
Und das konnte er auch sein. Der Ballon, den er selbst konstruiert hatte, gehörte zu einer Sechsergruppe, die sich vom Hauptfeld abgesetzt hatte und immer mehr Abstand zu ihm gewann. Sissi hoffte, dass sie nicht ausgerechnet den Ballon abhängten, nach dem sie suchten. Den Ballons in ihrer Nähe hatte sie begonnen, Namen zu geben. Da war der Sonnenballon, der blauen Ballon, der laute – wegen der Fahrer, die den Tag nur mit Feiern verbracht hatten –, der hässliche und die Ente. Sie versuchte, sich die Gesichter darauf zu merken und die Menschen zu zählen, die sie sah. Irgendwo musste ihr doch etwas auffallen, was nicht zusammenpasste.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit breitete Rudi neben einem der Kohlefeuer eine Decke aus und legte sich hin.
»Leider künne mer et dir nit erspare, ne Wache zu üvvernehme«, sagte Alfons. Er stellte sich neben Sissi an die Reling und gähnte. »Du muss nur e bissche uf de Feuer achte, und wenn wat is, sachste Bescheid. Weck misch, wenn de müde wirs.«
Sie nickte und sah weiter hinunter auf die hügelige Landschaft, die in der Dämmerung langsam grau wurde. Kohlefeuer leuchteten neben und hinter ihr. Sie hörte leise Stimmen. Irgendwo spielte jemand Geige.
Sissi wartete, bis Alfons und Rudi schliefen, dann löste sie die Gurte, die den Schrankkoffer hielten, und öffnete die Schlösser. Beinah hätte sie gelacht, als sie Franz-Josef eingequetscht zwischen ihrem Katana und den Kofferwänden sitzen sah.
Er verzog das Gesicht und streckte die Beine. »Endlich«, sagte er hörbar erleichtert. »Ich dachte schon, es wird nie dunkel.«
Seine Gelenke knackten, als er sich erhob. An der Reling blieb er stehen und sah nach unten. »Jesus, ist das hoch.«
Hinter ihm hob Rudi den Kopf. »Was is de…«
Franz-Josef fuhr herum. »Schlaf weiter«, sagte er mit merkwürdig tiefer Stimme. Rudi ließ den Kopf wieder sinken.
Sissi warf Alfons einen kurzen Blick zu, doch der schnarchte, bekam offenbar nichts von dem, was um ihn herum vorging. Als sie sich wieder umdrehte, saß Franz-Josef bereits neben Rudi und trank aus dessen Nacken. Sissi presste die Lippen aufeinander, sagte aber nichts. Er brauchte Nahrung, aber außer ihr und den beiden Männern war keine verfügbar. Und sie würde er niemals anrühren, das wusste sie mittlerweile.
Franz-Josef nahm das Fernglas aus einer Halterung an der Reling und richtete es auf die anderen Ballons. »Großer Mann mit Bart«, sagte er. Sissi hakte ihn in Gedanken ab. »Kleiner Dicker.«
Auch den hatte sie tagsüber gesehen. Er konnte also kein Vampir sein.
Sie fanden niemanden in dieser Nacht, obwohl sie fast bis zum Morgengrauen suchten. Schließlich nahm Sissi Franz-Josef das Fernglas aus der Hand.
»Wir haben jeden Ballon in unserer Nähe dreimal überprüft. Lass uns aufhören. Vielleicht ändert sich das Feld morgen und wir bekommen eine neue Chance.«
Nur zögerlich stimmte er zu.
Ohne zu reden, standen sie noch eine Weile nebeneinander. Sie hielten sich an den Händen und blickten in den langsam heller werdenden Nachthimmel.
»Wir haben uns nicht geirrt«, sagte Sissi, als Franz-Josef in seinen Koffer zurückkehrte. »Er ist hier.«
Er nickte, ohne zu antworten.
Sissi schlief bis zum Nachmittag und wachte erst auf, als Alfons sie weckte und ihr ein Wurstbrot reichte. »Ob de jut jeschlofe häs, muss isch wohl nit frage«, sagte er.
Sie dankte ihm, streckte sich und stand auf. Die Landschaft unter ihr hatte sich verändert. Der Schnee war zurückgekehrt und bedeckte Hügel und Wälder mit einer weißen Schicht. Die Dörfer schienen unter ihm zu verschwinden, alles war erstarrt, so als hätte der Schnee eine neue, stille Welt erschaffen.
Eine Welt, wie Seine Eminenz sie sich wünscht, dachte Sissi, während ihr Blick über die weiße Landschaft glitt.
Sie legte sich ihre Decke um die Schultern. Die Kohlefeuer wärmten ihren Rücken, trotzdem war ihr kalt. Sie blieb an der Reling stehen und wartete, bis Alfons und Rudi sich hingelegt hatten. Dann öffnete sie den Schrankkoffer.
Franz-Josef fiel ihr beinah entgegen. Sie erschrak und wich zurück. Er jedoch sprang auf und griff nach dem Fernglas.
»Wir haben uns geirrt«, erklärte er, nicht enttäuscht, sondern aufgeregt. »Er ist nicht hier.«
Alfons und Rudi fuhren hoch.
»Schlaft weiter!«, herrschte Franz-Josef sie an. Als die beiden zurück auf ihre Kissen sanken, winkte er Sissi heran. »Er ist nicht hier, sondern da unten.«
Sie folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit dem Blick und entdeckte auf der endlosen weißen Fläche einen einzelnen schwarzen Punkt.
»Ich dachte, es sei nicht möglich, dass er uns am Boden folgt.« Franz-Josef sprach schnell. Den ganzen Tag hatte er in seinem engen Versteck darüber nachgedacht. »Wir Vampire sind schnell, aber nicht so schnell und vor allem nicht über einen so langen Zeitraum. Dann fielen mir die wilden Vampire ein. Er hat sie positioniert wie Kurierreiter ihre Pferde. Ist der erste erschöpft, springt er zum zweiten, dann zum dritten und so weiter. Denk doch nur daran, wo sie gesehen wurden, Sissi. Österreich, Bayern, Hessen. Sie bilden eine Linie, über die Seine Eminenz seinen Geist springen lassen kann, bis nach Wien.«
Er fasste Sissi bei den Schultern. Erst als sie das Gesicht verzog, bemerkte er, dass er ihr wehtat, und ließ los.
»Wir müssen nicht nach einem Vampir in den Gondeln suchen, sondern nach Betörten, nach Menschen, die Dinge tun, die nicht zu diesem Rennen passen. Du siehst, was Alfons und Rudi machen. Du kannst die finden, die Seine Eminenz von dort unten betört.«
Franz-Josef lachte, als er sah, wie die Hoffnung, die er verspürte, nun auch auf Sissi übersprang.
»Wir können es schaffen«, sagte er.