KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
Das nun folgende Kapitel wird vielen anstößig erscheinen, aber im Interesse der Vollständigkeit ist es unerlässlich, auch über vampirische Fortpflanzung zu sprechen. Dass sie existiert, ist bekannt, dass sie selten ist, ebenso. Weniger bekannt ist jedoch der Umstand, dass zwei Vampire nicht in der Lage sind, ein Kind zu zeugen, sondern eine menschliche – es fällt mir schwer, in diesem Zusammenhang den Begriff Mutter zu verwenden – Austrägerin benötigen. Dabei wird der Keim des Vampirs häufig gar nicht oder nur teilweise übertragen; Kinder aus solchen Arrangements sterben meistens in den ersten Lebensjahren, leiden an Geisteskrankheiten oder körperlichen und seelischen Gebrechen. Nur in den seltensten Fällen wird tatsächlich ein neuer Vampir geboren. Wenn dies geschieht, dann plötzlich und für die betroffenen Familien inklusive Kinder unerwartet. Eine solche unkontrollierte Verwandlung mit den daraus resultierenden Folgen bezeichnen die Kinder Echnatons als Initiationsmassaker.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Franz-Josef schloss den obersten Knopf seiner Uniformjacke und strich den Stoff glatt. Dann nickte er dem Diener, der vor Karls Arbeitszimmer stand, zu. Der Vampir öffnete die Tür und verneigte sich. »Du wolltest mich sprechen?«, fragte Franz-Josef, als er das Zimmer betrat. Er hatte Karls Notiz auf einem Tisch in seinem Salon vorgefunden.
»Ja, das ist richtig.« Karl nahm die Beine vom Schreibtisch, stand auf und wies auf eine kleine Sitzecke vor einem Regal voller Bücher. »Setz dich.«
Franz-Josef warf einen Blick auf das Sofa in der gegenüberliegenden Ecke des großen Raums. Eine junge, nackte Frau lag darauf und schlief. Getrocknetes Blut bildete eine rote Linie zwischen ihren Brüsten. Karl schien Sophies Abwesenheit ausgiebig zu nutzen.
Er nahm in einem Sessel Platz. Karl zog einen zweiten heran und setzte sich ebenfalls.
»Ich will nicht mit dir über dein verantwortungsloses Verschwinden sprechen«, sagte er zu Franz-Josefs Überraschung. »Das werde ich Sophie überlassen. Wir müssen uns über Sissi unterhalten.«
»Wieso?« Es war beinah ein Wunder, dass Karl die Sorge und die Scham, die in dem einen Wort mitschwang, nicht bemerkte.
»Es geht um ihr Benehmen.«
Franz-Josef atmete auf. »Das ist vielleicht noch etwas ungeschliffen, aber …«
»François-Xavier hat heute Morgen gekündigt.«
»Der Chefkoch?« Er galt als einer der besten Köche Europas. Sophie hatte erhebliche Geldmittel aufgewendet, um ihn vom spanischen Hof abzuwerben. Sie würde seine Kunst zwar nie selbst bewerten können, doch der Prestigegewinn für die Hofburg war die Investition wert.
»Was hat Sissi mit seiner Kündigung zu tun?«
Karl zog eine Serviette aus der Innentasche seiner Uniform. Jemand hatte etwas darauf gekritzelt, mit Tortenguss, wie Franz-Josef erkannte.
»Weil er nicht in einer Umgebung arbeiten will, in der … ich zitiere«, erklärte Karl mit einem Blick auf die Serviette, »Hoheiten mit derangiertem Äußeren wie indische Waisenkinder in der Küche um Brot betteln.« Er legte die Serviette auf einen kleinen Tisch. Sie roch nach Erdbeeren. »Nach ihrem Auftritt in der Küche war das Personal so verstört, dass Ludwig drei von ihnen betören musste, um für Ruhe zu sorgen.«
»Er hatte Tagdienst?«, fragte Franz-Josef. Es war die unbeliebteste Aufgabe in der ganzen Hofburg und ausschließlich jungen Vampiren vorbehalten. Bei seinem Amtsantritt hatte Franz-Josef in Erwägung gezogen, ihn abzuschaffen, aber nun war er froh, das nicht getan zu haben. Man konnte Menschen nicht so lange unbeaufsichtigt lassen.
»Ja, zum Glück. Er hat auch mit dem obersten Tierpfleger gesprochen, nachdem der sich beschwerte, weil ihm niemand gesagt hatte, dass hoheitlicher Besuch zu erwarten sei.«
Franz-Josef lächelte. »Sie wollte doch nur die Giraffen sehen.«
»Sie wird bald Kaiserin sein«, sagte Karl, ohne sein Lächeln zu erwidern. »Es ist unerheblich, was sie möchte. Sie hat sich an das Hofzeremoniell zu halten, so wie wir alle. Solange sie das nicht tut, wird sie weiterhin Menschen bloßstellen und beschämen, so wie heute Morgen.«
»Du willst, dass ich es sie lehre?«, fragte Franz-Josef.
»Ich will, dass sie es lernt, und zwar bevor Sophie aus Spanien zurückkommt und es ihr selbst beibringt.« Karl stand auf, ging zum Sofa hinüber und legte seine Fingerspitzen auf die Halsschlagader der jungen Frau. »Es reicht noch für uns beide«, sagte er nach einem Moment. »Möchtest du?«
»Nein, danke.« Wäre sie angezogen gewesen, hätte Franz-Josef nicht gezögert. Ihr Blut roch süß und jung. Doch sie war nackt, und von ihr zu trinken, erschien ihm fast, als würde er fremdgehen.
»Dann nimmst du dich also der Sache an?«, fragte Karl, bevor er seine Zähne in den Hals der Frau schlug.
»Betrachte sie als erledigt.« Franz-Josef erhob sich ebenfalls und blieb zögernd stehen. Es gab etwas, worüber er reden wollte, aber er wusste nicht, wie er Karl am besten darauf ansprechen sollte. »Was die Angelegenheit in der Kutsche betrifft«, begann er, »was wollt ihr wegen Seiner Eminenz unternehmen, wenn er zurückkehrt?«
Karl hob den Kopf. »Ihr? Meinst du nicht, das betrifft dich ebenfalls?«
»Doch, natürlich, aber ich habe nicht den Eindruck, dass ihr gedenkt, mich in eure Entscheidungen einzubeziehen. Seit dieser Nacht habt ihr kein einziges Mal mit mir darüber gesprochen.«
Karl leckte sich das Blut von den Lippen. »Mit dir über solche Dinge zu sprechen, macht nicht viel Sinn. Du sagst das, was Sophie hören will, nicht das, was du denkst.«
Es war ein vernichtendes Urteil, aber er sprach es ohne jede Häme aus, als wäre es ein Naturgesetz wie die Schwerkraft, an der niemand etwas ändern konnte.
Franz-Josef schwieg.
Karl seufzte leise. »Versteh mich nicht falsch, Franz. Sophie und ich schätzen deine Loyalität. Wir wissen, dass du zu uns stehen wirst, egal, was passiert. Du hilfst uns am meisten, wenn du eine Liste von Leuten erstellst, denen du ebenso vertraust wie wir dir. Klingt das gut?«
Es klang, als würde er abgespeist, trotzdem rang sich Franz-Josef ein Lächeln ab. »Ja, Karl«, sagte er. »Danke, dass …«
In dem Moment flog die Tür auf. Der Diener, der davorgestanden hatte, schoss wie eine Kanonenkugel durch den Raum und prallte gegen den Schreibtisch. Es krachte laut, als sein Rückgrat brach. Ohne einen Laut sackte er zusammen.
Karl sprang auf, Franz-Josef legte die Hand an den Griff seines Degens, ließ ihn aber los, als Ferdinand ins Zimmer stürmte.
»Habt ihr meinen Chinesen gesehen?« Sein riesiger Kopf schwang von einer Seite zur anderen wie ein Metronom. »Der Diener sagt Nein, aber ich glaube ihm nicht.«
In seinen Augen blitzte es. Er wirkte paranoid, dem Wahnsinn nahe. Franz-Josef hatte ihn noch nie so gesehen, Karl anscheinend schon, denn er seufzte nur und wischte sich das Blut vom Kinn.
»War er die ganze Zeit bei dir?«, fragte er.
Ferdinand nickte heftig. Es hätte Franz-Josef nicht gewundert, wenn sein Kopf dabei abgebrochen wäre.
»Wir saßen im Salon und haben Sonette von Shakespeare rezitiert. Dreiundzwanzig gefällt ihm am besten.« Ferdinand runzelte die Stirn. »Oder war das der Psalm? Ich bin nur kurz aufgestanden, um einen Schmetterling zu fangen, und als ich mich umdrehte, war er verschwunden.« Flehentlich sah er zuerst Karl, dann Franz-Josef, dann das Porträt einer alten Frau an der Wand an. »Ihr müsst mir helfen, ihn zu finden. Er kommt allein doch gar nicht zurecht, in dieser grausamen Welt.«
Die Paranoia verschwand so schnell aus seinen Augen, wie sie gekommen war. Er wirkte wieder wie ein freundlicher alter Mann.
Karl legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn zur Tür. »Komm, wir sehen erst mal in deinem Quartier nach.«
Aufgeregt lief Ferdinand voraus. Franz-Josef wollte ihm folgen, doch Karl hielt ihn zurück.
»Wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte er leise, »auch wenn wir beide davor zurückschrecken. Das geht nicht mehr lange gut.«
»Lass uns warten. Noch haben wir ihn unter Kontrolle.«
Karl deutete mit dem Kinn auf den Diener, der in unnatürlich verkrümmter Haltung vor dem Schreibtisch lag. »Wirklich?«
Franz-Josef presste die Lippen aufeinander und schritt an ihm vorbei, ohne zu antworten. Karl hatte recht. Schon mehrfach hatte er versucht, Sophie darauf anzusprechen, aber sie hatte stets das Thema gewechselt, als wolle sie nicht sehen, was sich direkt vor ihren Augen abspielte.
Ferdinand wurde alt. Körper und Geist begannen sich zu verformen und aufzulösen. Manches davon war sichtbar wie sein riesiger Kopf und seine zusammengewachsenen Finger. Die Veränderungen seines Geistes spielten sich jedoch im Verborgenen ab. Niemand wusste, wie nah er dem Tod war und ob er am Ende in sich zusammenfallen würde wie ein leerer Ballon oder mit einem letzten Kraftakt explodieren und andere mit in den Tod reißen würde. Kein Wunder, dass Karl einen Verbündeten suchte, bevor es so weit kam, aber Franz-Josef war nicht sicher, ob er dieser Verbündete sein wollte. Ferdinands Existenz ohne Sophies Einwilligung zu beenden, war ein schweres Verbrechen. Er wusste nicht, ob er es wegen einer Eventualität riskieren sollte.
Später, dachte er. Heute muss das nicht entschieden werden.
Als Franz-Josef in Ferdinands Privatgemächern ankam, war niemand zu sehen. Der alte Vampir musste irgendwo abgebogen sein. Er hatte sich auf dem Weg wahrscheinlich verlaufen, wie so oft.
In dem kleinen Salon herrschte Chaos. Auf der Suche nach seinem Chinesen hatte Ferdinand die Möbel umgeworfen, die Vorhänge von den Fenstern gerissen und sogar die Bücher aus den Regalen gezerrt und über den Boden verstreut, als habe er geglaubt, der Chinese verberge sich zwischen den Seiten.
Franz-Josef richtete einen umgestürzten Stuhl auf und sah sich um. Sein Blick fiel auf ein altes, in Leder gebundenes Buch, das aufgeschlagen am Boden lag.
Meinem dunklen Prinzen – in Liebe und tiefer Verehrung.
– Will
hatte jemand auf die erste Seite geschrieben. Franz-Josef fragte sich, ob Ferdinand damit gemeint war.
Er zuckte zusammen, als er Schritte hinter sich hörte, und drehte sich um.
»Ich habe die Wachen informiert«, sagte Karl. »Sie suchen bereits nach dem Chinesen. Die menschliche Palastwache denkt, er sei ein ausländischer Anarchist. Ich hoffe nur, sie bringen ihn nicht um.« Er seufzte, als er das Chaos sah. »Ferdinand muss vergessen haben, ihn zu betören.«
»Ich werde bei der Suche helfen.« Franz-Josef stieg über Bücher und Kissen und ging zur Tür.
»Und wann reden wir über unser Problem?«
»Bald«, sagte er ausweichend.
Karl folgte ihm und schloss die Tür hinter sich. Sie hätten gerochen, wenn der Chinese noch in den Gemächern gewesen wäre.
Fast drei Stunden lang durchsuchten sie den Palast. Franz-Josef vertrieb sich die Zeit damit, über die Liste nachzudenken, um die Karl ihn gebeten hatte. Ludwig, seinen Leibdiener, setzte er an die erste Stelle, dann einige Vampire, die ihn allein deshalb verehrten, weil Sophie ihn zum Kaiser gemacht hatte. Er hielt inne, als er Sissis Namen vor seinem geistigen Auge sah, und erschrocken erkannte er, dass er sie nicht einmal für sich selbst auf diese Liste setzen konnte. Sie zu lieben, war leicht, ihr zu vertrauen, unmöglich. Er wünschte, die Erkenntnis hätte ihn schockiert, aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er ihr von Anfang an nicht vertraut hatte.
»Er hat sich bestimmt in irgendeinem Zimmer verkrochen«, sagte Karl und riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Irgendjemand wird ihn schon finden.«
Franz-Josef nickte. Sie standen im Gang vor Sissis Gemächern. Er sah Lichtschein unter der Tür. Sie war noch wach.
Ich sollte es nicht mehr länger hinauszögern, dachte er. Ich muss wissen, wo sie steht.
»Ich rede noch kurz mit Sissi über ihr Verhalten heute.«
Er wollte sich von Karl verabschieden, hielt jedoch inne, als er Stimmen hinter der Tür hörte. Die eine gehörte Sissi, die andere …
»Ist das Ferdinand?«, fragte Karl im gleichen Moment.
Franz-Josef schluckte nervös und legte eine Hand auf die Klinke. Mit der anderen klopfte er. »Sissi?«
»Komm rein.« Sie flötete die Antwort förmlich, so wie sie es immer tat, wenn sie nicht allein waren. Sie spielte ihre Rolle gut.
Franz-Josef öffnete die Tür und trat ein. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Karl ihm nicht gefolgt wäre, doch ihm fiel keine Ausrede ein.
Sissi saß auf einem Stuhl vor einem kleinen Tisch, in den ein Schachbrett eingearbeitet worden war. Die Figuren fehlten, stattdessen lagen Spielkarten darauf. Ferdinand kniete in einem Sessel auf der anderen Seite des Tischs. Er sah nicht auf, als Franz-Josef und Karl eintraten. Der Geruch nach Lavendel hing schwer in der Luft.
»Kommt herein«, sagte Sissi. Sie klang fröhlich. »Onkel Ferdinand bringt mir gerade ein Spiel bei, das er selbst erfunden hat, aber ich verstehe die Regeln noch nicht ganz.«
Karl stellte sich höflich als Onkel Karl vor und schloss die Tür hinter sich. Franz-Josef sah seine Anspannung und fragte sich, was ihm mehr Sorge bereitete. Dass Ferdinand etwas Verfängliches tat oder spontan in die Luft flog. Beides erschien möglich.
»Du lernst sehr schnell, meine Liebe.« Der alte Vampir streckte seine deformierte Hand aus und tätschelte Sissis Arm. »Bald wirst du Schkat besser beherrschen als ich oder mein Chinese.« Er sah auf. »Apropos, habt ihr …«
Franz-Josef ließ ihn nicht ausreden. »Was stinkt denn hier so?«
Sissi senkte verschämt den Kopf. »Ich bin so ein dummes Ding. Eine ganze Flasche Badeöl habe ich verschüttet. Hier wird noch wochenlang alles nach Lavendel riechen.«
»Na, bravo!«, rief Ferdinand begeistert, Franz-Josef wusste nicht, wieso.
Karl trat an den Tisch. »Es ist schon spät, Ferdinand. Komm, ich werde dich in deine Gemächer bringen.«
»Siehst du nicht, dass ich mit meiner Nichte Schkat spiele?« Die Stimme des alten Vampirs klang gefährlich.
Franz-Josef spannte sich. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Sissi die Füße fest auf den Boden gestellt hatte und bereit war, jeden Moment aufzuspringen.
»Doch, das sehe ich«, sagte Karl. »Aber wenn du jetzt nicht mitkommst, ist die Überraschung, die in deinem Salon auf dich wartet, vielleicht schon weg.«
»Überraschung?« Ferdinands übergroßer Kopf begann zu zittern.
Gleich explodiert er. Seit Franz-Josef die Möglichkeit zum ersten Mal in Betracht gezogen hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken.
»Was für eine Überraschung?« Ferdinand stand auf.
»Ich zeige sie dir.« Karl ergriff seine Hand. »Komm mit.«
Franz-Josef fragte sich, woher diese Überraschung kommen sollte, beruhigte sich dann aber mit dem Gedanken, dass Karl Ferdinand schon wesentlich länger kannte als er und wahrscheinlich wusste, was er tat.
Die beiden alten Vampire kamen an Franz-Josef vorbei.
»Betöre sie«, flüsterte Karl, bevor er die Tür schloss.
Sissi legte die Karten beiseite und stand auf. »Wieso habt ihr euch nicht zu uns gesetzt?«, flötete sie. »Es war gerade so nett mit deinem Onkel.« Sie spielte ihre Rolle weiter, wusste wohl nicht, ob noch jemand vor der Tür stand und lauschte.
Franz-Josef nahm sie in die Arme. »Er ist gefährlich«, sagte er leise. »Versuche, nie mit ihm allein zu sein.«
Der Lavendelgeruch war so stark, dass er Sissi nicht riechen konnte. Er bedauerte das.
»Karl denkt, dass ich dich betören werde. Wenn ihr euch das nächste Mal seht, musst du so tun, als sei Ferdinand ein ganz normaler alter Mann.«
»Was ist mit ihm? Er sieht grotesk aus.«
Franz-Josef schüttelte den Kopf. »Wir reden ein anderes Mal darüber.« Und über die Angelegenheit, über die ich wirklich mit dir reden will, fügte er in Gedanken hinzu. »Leg dich lieber hin. Du siehst müde aus.«
Sissi gähnte. Es wirkte seltsam gekünstelt. »Du hast recht.« Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Er küsste sie, sie erwiderte den Kuss, löste sich dann aber aus seiner Umarmung und lächelte. »Schlaf gut.«
Franz-Josef sah ihr nach, bis sie die Schlafzimmertür hinter sich schloss. Dann verließ er den Salon und machte sich auf den Weg zu seinen Gemächern. Er hatte nur nach dem Aufstehen kurz getrunken, der Hunger kehrte bereits zurück.
Keine fünf Schritte weit ging er, dann blieb er abrupt stehen, drehte um und öffnete die Tür zu Sissis Salon, ohne anzuklopfen.
Sissi stand mitten im Zimmer. Sie hatte ihre Hausschuhe ausgezogen und trug Stiefel. Ihren Umhang hielt sie in der Hand.
»Wo ist er?«, fragte Franz-Josef.
Sie runzelte die Stirn. »Wer?«
Dass sie ihn anlog, tat weh. »Du hast das Lavendelöl verschüttet, damit wir ihn nicht riechen. Wo ist der Chinese?«
Einen Moment lang sah sie ihn trotzig an, dann senkte sie den Kopf. »Im Schrank. Er tauchte auf einmal vor meiner Tür auf, Franz. Was sollte ich denn machen?«
Wortlos schritt er an ihr vorbei und zog die Schranktür auf. Ferdinands Chinese hockte am Boden zwischen Tischtüchern und kleinen Decken. Ein Knebel steckte in seinem Mund.
»Er hatte so eine Angst, dass er nicht aufhören konnte, zu wimmern«, sagte Sissi leise. »Und dann tauchte auf einmal Ferdinand auf. Ich musste ihn knebeln.«
»Und dann?«
»Ich wollte ihn über die Dienstbotentreppe aus dem Palast schmuggeln und nach Wien zu mei…« Sie unterbrach sich. »Zu jemandem bringen, der ihm helfen kann.«
»Du wärst nicht einmal bis zum Tor gekommen.« Franz-Josef zog den Chinesen aus dem Schrank. Der Mann zitterte, als stünde er in Eiswasser. Sein Blick zuckte durch den Raum, ohne ein Ziel zu finden.
»Du bist hier nicht in Possenhofen«, fuhr Franz-Josef verärgert fort. Er wollte sich nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn man Sissi mit dem Chinesen erwischt hätte. »Das ist die Hofburg, der Palast der größten Vampirdynastie der Welt. Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, die hier herrschen, wirst du an ihnen zerbrechen.«
Sissi stemmte die Hände in die Hüften. Der Umhang rutschte aus ihrem Arm und fiel zu Boden. »Und was sagen deine Regeln zu Dingen wie Mitgefühl und Anstand? Sieh dir den Mann an, Franz. Bist du ein solches Ungeheuer, dass du ihm nicht geholfen hättest, wenn er vor deiner Tür aufgetaucht wäre?«
Ihm ist nicht mehr zu helfen, dachte Franz-Josef, ohne es auszusprechen. Er hatte es im Blick des Mannes gesehen, als er die Schranktür geöffnet hatte, spürte es durch sein Zittern und nahm es durch Lavendelschwaden an seinem dumpfen, tumben Geruch wahr.
Ferdinand hatte den Chinesen so oft betört, dass es sein Gehirn zerstört hatte. Er war ein Blutsack, wie die Vampire sagten, ein lebender Toter ohne eigenen Willen, ohne Persönlichkeit, ohne Hoffnung.
»Ich werde ihm helfen«, sagte Franz-Josef.
»Du wirst ihn aus dem Palast bringen?«
»Ja.«
»Dann komme ich mit.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Wenn ich einen Menschen nachts durch den Palast schleppe, ist das normal, wenn du dabei bist, nicht.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Dann musst du mir eines versprechen«, sagte sie. »Niemand wird je wieder von ihm trinken.«
»Ich verspreche es.«
Ihr Blick hielt den seinen fest. Sie wirkte so ernst, so überzeugt, dass es ihm fast das Herz brach.
Nach einer Weile ging sie zur Tür und zog sie auf. »Also gut. Dann hilf ihm.«
Franz-Josef führte den Chinesen auf den Gang hinaus. Sein Zittern wurde stärker. Es war keine Angst, die ihn so reagieren ließ, sein Körper hatte nur keine Kontrolle mehr über seine Gliedmaßen. Angst spürte er schon lange nicht mehr.
Wir hätten ihn Ferdinand längst abnehmen sollen, dachte Franz-Josef, als er Sissis Plan in die Tat umsetzte und den Chinesen durch das Dienstbotentreppenhaus nach draußen brachte. Wir jagen und töten, wir quälen nicht.
Jene Nacht, in der Seine Eminenz zu ihnen gesprochen hatte und Sophie in ihren Blutwahn verfallen war, tauchte in seiner Erinnerung auf. Meistens, fügte er hinzu.
In den Gärten hielten sich um diese Zeit zu viele Vampire auf, also führte Franz-Josef den Chinesen hinter die Stallungen, dort hin, wo Stroh und Hafer gelagert wurden. Die Nacht war regnerisch und kühl, der Boden schlammig.
Franz-Josef sah sich um. Es war niemand zu sehen. Nur die Pferde schnaubten in ihren Boxen.
Er legte dem Chinesen die Hand in den Nacken. »Es tut mir leid«, sagte er und brach ihm mit einem Griff das Genick.