KAPITEL FÜNF

Die Kinder Echnatons leben in gefährlichen Zeiten. Die großen Männer, die sie einst anführten – Cromwell, Washington, Robespierre –, liegen schon lange in ihren Gräbern und es scheint niemanden zu geben, der ihre Stelle einnehmen könnte. Die Revolutionen im Deutschen Bund und in Österreich sind gescheitert, viele Kämpfer gefallen. Die Überlebenden agieren im Verborgenen, werden gejagt von den Schergen des Kaisers. Doch eines ganz und gar nicht fernen Tages werden ihre Pläne aufgehen. Bis dahin dürfen sie nicht, wie so viele andere vor ihnen, der Ungeduld verfallen. Sie müssen warten, bis ihre Stunde gekommen ist.

– Die geheime Geschichte der Welt von MJB

»Der Kaiser! Der Kaiser!«

Sissi öffnete die Augen und setzte sich ruckartig in ihrem Himmelbett auf. Im ersten Moment dachte sie, die Stimme in einem Traum gehört zu haben, doch dann hallte sie erneut durch das Treppenhaus.

»Der Kaiser!«

Sissi sprang aus dem Bett, einem – wie ihre Mutter einmal gesagt hatte – stoffgewordenen Albtraum aus Altrosa, warf sich den Morgenmantel im gleichen Farbton über und lief barfuß über den dicken altrosa Teppich. Das Schlafzimmer war ein Geschenk von Erzherzogin Sophie. Etwas daran zu verändern, hätte Konsequenzen nach sich gezogen. Sophie verteilte Geschenke wie Befehle und strafte ihre Missachtung.

Als Sissi auf den Gang trat, hörte sie polternde Schritte im Treppenhaus. Irgendwo wurde eine Tür zugeschlagen.

»Was ist denn hier los?«

Es war die Stimme ihres Vaters. Sissi beugte sich über das Treppengeländer und sah Herzog Max auf den Stufen unter ihr stehen. Er trug einen Morgenmantel in Marineblau – ebenfalls ein Geschenk von Sophie – und hatte seine Schlafmütze tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem bezweifelte Sissi, dass er seine Verletzung lange würde verbergen können. Ihre Mutter durchschaute jeden.

Es polterte erneut, dann kam Néné die Stufen zu ihrem Vater herauf. Prinzessin Ludovika blieb am Treppenabsatz stehen.

»Der Kaiser lädt mich zu sich ein.« Néné wedelte mit einem Brief. Sissi erkannte das kaiserliche Siegel auf dem Briefkopf. »Mich! Der Kaiser!«

»Sprich nicht im Telegrammstil, Liebes, das schickt sich nicht.«

»Verzeih, Mutter.«

Prinzessin Ludovika legte eine Hand auf das Treppengeländer. Sissi sah, wie ihr Blick an der Schlafmütze ihres Mannes hängen blieb.

»Was ist mit deinem Kopf?«

Herzog Max räusperte sich. »Was soll damit sein? Erzählt mir lieber von dieser Einladung des Kaisers.«

Prinzessin Ludovika öffnete den Mund, aber ihre Tochter kam ihr zuvor. Ihre Stimme zwitscherte wie eine Lerche.

»Der Brief stammt von Tante Sophie.«

Ihre Mutter verzog das Gesicht. Wenn die Familie allein war, nannten sie die angebliche Mutter des Kaisers nie »Tante«, aber im Treppenhaus, umgeben von Dienstboten, mussten sie den Schein waren.

»Sie sagt, der Kaiser wünsche mich, also uns alle, in seiner Sommerresidenz zu sehen«, fuhr Néné fort. »So schnell wie möglich.«

Sissi holte tief Luft. »Oh Néné«, flötete sie dann aus vollem Herzen, während sie die Stufen hinunterlief. »Wie wundervoll! Ich freu mich so für dich.«

»Ich kann es selbst kaum fassen.« Néné umarmte sie.

Aus den Augenwinkeln sah Sissi Frau Huber und Josef, den Gärtner, im Eingang stehen. Sie grinsten und lachten, als wären es ihre eigenen Töchter, die zum Kaiser von Österreich eingeladen worden waren. Manchmal fragte sich Sissi, ob die Dienstboten nicht vielleicht ebenso nur Theater spielten. Der Gedanke verwirrte sie.

»Wann fahren wir?«, fragte sie, um sich abzulenken.

»Du fährst überhaupt nicht«, erklärte ihre Mutter. »Die Einladung richtet sich ausschließlich an Néné und mich.«

»Was?«, stieß Sissi hervor. Sie glaubte, Genugtuung in den Augen ihrer Schwester aufblitzen zu sehen, doch einen Lidschlag später stand nur noch Bedauern darin.

»Oh, wie schade«, sagte Néné. »Ich hatte gehofft, wir würden alle fahren.«

Ihr Vater kam die letzten Stufen herunter und blieb neben seiner Frau stehen. »Ich reiße mich nicht darum. Von mir aus könnt ihr fahren. Dann gehen Sissi und ich auf die Jagd.«

Doch Sissi konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Aber ich will mit«, sagte sie.

»Wir werden beim Frühstück darüber sprechen, Sissi.« Ihre Mutter zeigte auf die Tür des Speisesaals. Es war der einzige Raum, zu dem die Dienstboten nur Zutritt hatten, wenn die Familie ihn nicht benutzte. Die Türen und Wände waren so dick, dass kein Laut hinausdrang.

Sissi ging als letzte hinein und schloss die Tür. Das Frühstück war bereits aufgetragen, aber die Buben saßen noch nicht an ihren Plätzen. Sie schliefen meistens länger als der Rest der Familie.

»Du wirst nicht mitfahren«, sagte Prinzessin Ludovika, kaum war die Tür ins Schloss gefallen.

Sissi lehnte sich an das Holz. »Aber warum denn nicht?«

»Weil …«, begann ihr Vater, während er sich an seinen Platz am Kopfende des Tischs setzte, »… ich es dir zutrauen würde, der alten Vettel Sophie einen Pflock ins Herz zu rammen, bevor sie ›Guten Morgen, Elisabeth, wie geht es dir?‹ sagen kann.«

Sissi schüttelte den Kopf. »Das würde ich nie tun. Ich kann mich beherrschen.«

»Dass du das nicht kannst, haben wir ja gestern Nacht gesehen.« Ihr Vater wollte die Mütze zurückschieben, besann sich dann aber eines Besseren und griff stattdessen nach einem Wasserkrug.

»Was soll das heißen?«, fragte seine Frau. »Was ist gestern Nacht geschehen?«

»Nichts.« Sissi seufzte. »Vater hat mich geprüft und ich habe bestanden.«

»Du hast dich kindisch verhalten.« Herzog Max wirkte genervt. Sissi vermutete, dass er Kopfschmerzen hatte. »Und bis sich das ändert, können wir deinen Worten nicht trauen.«

Es klang, als stamme das aus dem Mund ihrer Mutter. Sissi fühlte sich im Stich gelassen. »Aber …«, begann sie, doch ihr Vater ließ sie nicht ausreden.

»Keine Diskussionen«, sagte er. »Du und ich bleiben hier bei den Buben. Néné und deine Mutter fahren nach Österreich.«

Prinzessin Ludovika nickte. »So wird es gemacht. Wir haben noch viel vorzubereiten, aber bevor wir damit beginnen, möchte ich endlich wissen, was mit deinem Kopf ist, Max.«

Sissi hörte den Ausflüchten ihres Vaters nicht zu, sondern blieb mit vor der Brust verschränkten Armen an der Tür stehen.

Ich werde fahren, dachte sie. Und ich werde niemanden pfählen, noch nicht einmal versehentlich. Ich werde allen beweisen, dass man mir vertrauen kann.

Der Tag verging quälend langsam. Während ihre Mutter und ihre Schwester Reisevorbereitungen trafen, lag Sissi auf dem altrosa Albtraum und starrte aus dem Fenster. Für die Besucher, die ihr Zimmer betraten – zuerst ihr Vater, dann Néné –, musste es so aussehen, als schmolle sie, doch in Wirklichkeit lauschte sie den Unterhaltungen der Kutscher auf dem Hof. Die Sommerresidenz des Kaisers, ein Schloss in der Nähe von Bad Ischl, lag zwar nur eine Tagesreise entfernt, doch keiner der Kutscher war je dort gewesen, also diskutierten sie über den besten Weg. Einige der Orte, von denen sie sprachen, kannte Sissi, andere waren ihr vollkommen fremd. Der Klang der unbekannten Namen reichte, um ihre Abenteuerlust zu wecken.

Sie versuchte, sich alle zu merken, sie in ihren Gedanken wie an einer Perlenschnur aufzureihen, sodass sie sich von einem Ort zum nächsten vorarbeiten konnte, bis sie Bad Ischl erreichte. Dort angekommen, würde sie das Quartier beziehen, das man für ihre Mutter und ihre Schwester vorbereitet hatte. Kein Bediensteter würde es wagen, eine Prinzessin abzuweisen, auch wenn sie den falschen Vornamen trug. Solange sie als Erste in Bad Ischl eintraf, konnte nichts schiefgehen. Ihre Mutter würde natürlich verärgert sein, ebenso Néné, doch Sissi glaubte nicht, dass man sie zurückschicken würde. Der Gesichtsverlust bei einer so ungehorsamen Tochter wäre einfach zu groß.

Bis zum Abend blieb Sissi in ihrem Zimmer und verließ es erst, als ihr Vater zum Essen rief. Sie verhielt sich trotzig, aß nichts und antwortete einsilbig, bis ihre Mutter die Geduld verlor und sie mit den Worten: »Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, musst du uns morgen früh auch nicht verabschieden«, wieder nach oben schickte. Nun würde man sie erst im Laufe des nächsten Vormittags vermissen, wenn sie nicht, wie sonst üblich, von ihrem morgendlichen Ausritt zurückkehrte.

Sissi setzte sich vor den Frisierspiegel und begann ihr langes braunes Haar zu kämmen. Sie hasste die Vampire, hasste alles, wofür sie standen, aber noch mehr als die Lügen, die Unterdrückung und die Morde hasste sie, was sie aus den Menschen machten, die ihnen zu nahe kamen. Die leeren Gesichter der Buben, die Scham in der Stimme ihrer Eltern, wenn sie von ihren Familien sprachen, die Erkenntnis, dass Néné niemals erwachsen und niemals alt werden würde – das alles nur wegen der Vampire.

Eines Tages werden wir sie aus dem Deutschen Bund, aus Österreich und aus Ungarn verjagen, so wie wir sie aus Frankreich und Amerika verjagt haben, dachte Sissi, als sie die Bürste zur Seite legte und mit schräg gelegtem Kopf der Stille im Treppenhaus lauschte. Alle schienen ins Bett gegangen zu sein. Kein einziges Geräusch drang zu ihr herauf.

Sie klemmte die Notiz, die sie für ihren Vater geschrieben hatte, an den Rahmen des Spiegels und stand auf. Die hohen Reiterstiefel, die sie bereits am Nachmittag zusammen mit ihrer restlichen Reisekleidung zurechtgelegt hatte, nahm sie in die Hand, den Rest trug sie bereits.

Sissi öffnete die Tür und lauschte in die Dunkelheit, aber nur das beständige Knarren und Seufzen des alten Anwesens war zu hören.

Der Weg zum Eingang war Sissi noch nie so lang erschienen. Als sie das Haus endlich verließ, atmete sie tief die kühle Nachtluft ein. Der Hof lag verlassen da. Von den Gendarmen, die den Besitz angeblich Tag und Nacht bewachten, war nichts zu sehen. Rasch schlüpfte Sissi in die Stiefel und lief zum Stall. Der Hengst ihres Vaters, Tutenchamun, schnaufte, als sie seine Box öffnete und ihm Sattel und Zaumzeug anlegte.

Die Knechte schliefen über dem Stall in mehreren kleinen Kammern. Einen von ihnen hörte sie durch das Gebälk schnarchen.

Tuti ließ sich bereitwillig aus dem Stall und auf den schmalen Weg dahinter führen. Seine Hufe hätten auf dem Kopfsteinpflaster des Hofs zu viel Lärm gemacht, also brachte Sissi ihn zu dem kleinen Waldstück, das zwischen den Gärten und der Straße lag. Erst als die Bäume sie vor Blicken aus dem Haus schützten, saß sie auf und ritt geduckt unter tief hängenden Ästen los.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Mund war trocken. Sie hatte es fast geschafft. Nur noch den Weg entlang, dann rechts die Straße hinunter in Richtung Possenhofen und …

»Halt! Wer da?«

Die Stimme rollte wie Donner durch die nächtliche Stille. Sissi zuckte zusammen und zügelte den Hengst, als sie eine Gestalt auf dem Weg auftauchen sah. Im Licht des Vollmonds blitzten Uniformknöpfe.

»Ich sagte: Halt, wer da? Bekomme ich eine Antwort?«

Sissi erkannte die Stimme wieder. Vor ihr, keine zehn Meter entfernt, stand Leutnant Kraxmayer.

Es hätte so einfach sein können. Sissi hätte sich nur die Kapuze ihres Umhangs vom Kopf ziehen, ihn gebieterisch ansehen und ein paar Worte sagen müssen und er hätte sie vorbeigelassen, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Sie hob sogar schon den Arm, um genau das zu tun, aber im gleichen Moment sagte Kraxmayer mit einer seltsamen Mischung aus Nervosität und Arroganz: »Niemand kommt an einem Gendarmen des Königs vorbei.«

Sissi ließ den Arm sinken. Es war, als habe jemand eine Weiche in ihrem Kopf umgestellt. Der Zug ihrer Gedanken sprang vom sicheren, geraden Hauptgleis auf ein kurviges, von Erdrutschen bedrohtes, krummes Nebengleis. Und der Lokführer fuhr mit verbundenen Augen.

Ich treibe diesen Vergleich mit dem Zug zu weit, dachte Sissi, als sie dem Hengst in die Flanken trat. Laut wiehernd machte das Pferd einen Satz. Seine Hufe gruben sich in den weichen Waldboden, sein Hals streckte sich.

Leutnant Kraxmayer wich zurück. Sissi sah, wie er nach etwas unter seinem Umhang griff.

Keine Pistole, dachte sie. Bloß keine Pistole!

Es war ein Degen.

Wild fuchtelte Kraxmayer damit herum, während er weiter zurückstolperte und »Alarm! Anarchisten!« schrie.

Rufe antworteten ihm aus dem Wald. Sissi hörte Pferde schnaufen und Äste brechen. Sie schluckte, doch die Weiche war gestellt, die Richtung eingeschlagen. Daran war nichts mehr zu ändern.

Tuti jagte auf Kraxmayer zu. Der nahm den Degen in beide Hände und richtete ihn auf die Brust des Tiers.

Will er etwa einem Pferd etwas antun? Sissi war entsetzt, als sie mit einem Mal die Tragweite ihrer Entscheidung erkannte. Aber Ausweichen konnte sie nicht mehr. Kraxmayer war weniger als zehn Schritte entfernt. Und so tat sie das Einzige, was sie tun konnte. Sie spornte Tuti zu noch größerer Geschwindigkeit an.

Kraxmayers Augen weiteten sich. Mit beiden Händen hielt er den Degen fest. Die Spitze zitterte. Er wich weiter zurück und dann stolperte er. Sissi sah nicht, worüber er fiel, aber mit einem Mal fiel er auf den Rücken. Der Degen ragte empor. Der Hengst sprang, ohne dass sie es ihm befohlen hätte. Sie sah Kraxmayers entsetztes Gesicht unter sich, spürte, wie die Klinge an ihrem Stiefel entlangkratzte, dann kamen die Hufe auch schon wieder auf dem Waldboden auf. Sie presste ihre Knie gegen den Leib des Hengstes und hielt sich an seinem Hals fest, um nicht abgeworfen zu werden. Hinter ihr brachen Pferde durch das Unterholz.

»Schnappt ihn euch!«, schrie Kraxmayer beinah hysterisch. »Holt euch den Anarchisten.«

Im gestreckten Galopp jagte Sissi den Weg entlang. Tuti war ein großer Hengst, nicht wendig, aber schnell. Die Gendarmen fluchten und schrien hinter ihr. Sie wurde rot. Manche der Worte, die sie ihr nachriefen, hatte sie noch nie gehört, andere hatte sie von ihrer Schwester kichernd und hinter vorgehaltener Hand gelernt.

Schließlich sah sie die Straße vor sich. Entgegen ihrem Plan bog sie nicht rechts nach Possenhofen ab, sondern lenkte Tuti nach links, tiefer in die Wälder hinein. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, hatte Angst, dass der Wind ihr die Kapuze aus dem Gesicht reißen und den Gendarmen enthüllen könnte, wen sie verfolgten.

Die Straße wurde schmaler und kurviger. Sissi wusste, dass sie zu einigen entlegenen Höfen führte und irgendwann im Nichts endete. Es gab kleinere Wege, die von ihr abzweigten. Sie schreckte davor zurück, in einen davon einzubiegen. Auf der Straße war ihr Hengst schneller als die kleineren Pferde der Gendarmen, aber im Wald würde ihm Geschwindigkeit weniger nutzen als Wendigkeit.

Der Abstand zwischen ihr und den Gendarmen wurde größer. Sie hörte es am Hufschlag und an der zunehmenden Wut in den Flüchen der Männer. Doch noch war sie nicht außer Sichtweite. In der sternenklaren Vollmondnacht konnte man fast so weit sehen wie bei Tag.

Als Sissi einen Weg links neben sich auftauchen sah, traf sie eine Entscheidung. Hart zog sie Tuti herum. Der schüttelte den Kopf, verweigerte aber nicht, sondern machte die abrupte Drehung mit und galoppierte in den Weg hinein.

»Er will zu Lennigers Hof!«, rief einer der Gendarmen hinter ihr.

Sissi beachtete ihn nicht. Der Weg war uneben. Die Räder der schweren Ochsenkarren, mit denen die Bauern ihre Ernten einbrachten, hatten tiefe Furchen in den Boden gegraben. Einige Male strauchelte Tuti, doch dann sah sie den Hof vor sich. Felder und Weiden begannen unmittelbar hinter dem gedrungen wirkenden Haupthaus. Kein Licht war zu sehen, nur ein Hund bellte, als sie näher kam.

Sissi spürte Tutis Erschöpfung. Trotzdem zwang sie ihn zum Sprung über den Zaun, der das Haus von dem großen Hopfenfeld dahinter trennte. An langen Holzstangen wuchsen die Pflanzen hoch in den Himmel. Als der Hengst zwischen ihnen aufkam, wurde es schlagartig dunkler. Die Blätter fingen das Mondlicht ab und ließen am Boden nur Dunkelheit zurück.

Sissi zügelte den Hengst. An seinen Hals gepresst, lenkte sie ihn an den Stangen vorbei. Die Erde war weich, seine Hufschläge konnte sie kaum hören. Nur sein schneller, schnaufender Atem würde den Verfolgern verraten, wo sie waren.

Die Gendarmen waren von ihren Pferden gestiegen und kletterten über den Zaun.

»Wos is ’n da los?« Es war die Stimme des Bauern, den Sissi flüchtig kannte. Im Dorf galt er als unangenehmer, übellauniger Einzelgänger.

»Geh zurück ins Haus«, sagte ein Gendarm. »Das ist eine Angelegenheit des Königs.«

»Zoiht der Herr König mia etwa den Hofer, den ihr mia kaputt trampelts?«

»Sei ruhig oder ich lass dich in den Kerker werfen.«

Sissi beachtete den Rest der Unterhaltung nicht. Solange die Gendarmen mit dem Bauern beschäftigt waren, folgten sie ihr nicht.

Sie stieg ab und führte Tuti durch das Feld. Die Reihen erschienen ihr endlos. Die Pflanzen standen so dicht, dass sie über ihr ein Dach bildeten. Sissi suchte nach Lücken zwischen ihnen und wechselte von einer Reihe zur nächsten, um die Gendarmen zu verwirren. Irgendwann wusste sie selbst nicht mehr, wo sie war.

Gut, dachte sie. Wenn ich es nicht weiß, wissen die es schon gar nicht.

Erst in diesem Moment bemerkte sie die Stille. Die Stimmen der Gendarmen waren nicht mehr zu hören, sie schien allein auf dem Feld zu sein. Wahrscheinlich versuchten sie wie Wölfe, ihre Beute einzukreisen. Vielleicht warteten sie aber auch auf Verstärkung. Sissi kümmerte das nicht. Sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Ihr Vater hatte recht, sie war kindisch. Nur aus einer Laune heraus hatte sie einen Konflikt provoziert, der Tuti beinah das Leben gekostet hätte. Dass es nicht dazu gekommen war, hatte nichts mit ihren Fähigkeiten zu tun, sondern mit Glück.

Glück, das ihr immer noch treu zu bleiben schien, denn Sissi stand plötzlich am Rand des Felds und blickte auf die breite Straße dahinter. Kurz sah sie sich um, aber es war niemand zu sehen. Sie war allein.

Ihre Selbstzweifel verflogen. Sie schwang sich in den Sattel und strich über Tutis Hals. Sie wusste, dass die Straße hinter Possenhofen erst einen Bogen machte, bevor sie weiter nach Osten führte. Anscheinend war sie genau an dieser Stelle aus dem Feld gekommen.

»Dafür bekommst du allen Hafer, den du fressen kannst«, flüsterte Sissi dem Hengst ins Ohr. Dann trieb sie ihn behutsam vorwärts und spornte ihn zu einem leichten Trab an.

Im Mondlicht wirkte die Straße silbrig grau. Mit geradem Rücken und erhobenem Kopf ritt Sissi dahin.

Erst im Morgengrauen wurde ihr klar, dass es die falsche Straße war.

Sissi - Die Vampirjägerin
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