KAPITEL ZWÖLF
Eine Frage sollte man sich selbst immer wieder stellen: Wie weit könnten wir – die Menschheit – sein, wenn es unsere Unterdrücker nicht gäbe? Hätten wir bereits die Armut besiegt, den Krieg, das Leid? Würden wir in einem friedlichen, vereinten Europa leben und nicht in einem, das von Misstrauen und Konflikten zerrissen ist? Wir werden es nie erfahren, manche sagen, zum Glück.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Es ist mir eine große Freude, Sie heute Abend begrüßen zu dürfen, Baron.« Franz-Josef gab einem jungen Mann, den er noch nie gesehen hatte, die Hand. »Ich hoffe, Ihre Frau hat sich von ihrem Reitunfall erholt.«
»Das hat sie, vielen Dank, Majestät.«
Der Mann ging weiter. An seiner Stelle erschien ein neues Gesicht vor Franz-Josef, das ihm ebenso unbekannt war wie das letzte.
»Baronin Leonide von Ansbach-Großau, vor zwei Monaten verwitwet«, flüsterte ihm sein Sekretär Ludwig zu.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Franz-Josef, wie sich Sophie einen Weg durch die Menge bahnte. Ihr Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen.
»Baronin.« Er sprach der alten Frau sein Beileid aus, drückte tröstend ihre Hand und wartete auf den nächsten Gast.
Sophie blieb neben ihm stehen und hob die Mundwinkel. Franz-Josef nahm an, dass diese Bewegung ein Lächeln darstellen sollte, doch es wirkte eher, als würde ein Wolf die Zähne blecken. Die menschliche Familie, die er hatte begrüßen wollen, wich erschrocken einen Schritt zurück.
Er winkte sie heran. »Kommen Sie ruhig näher, Graf …« Ludwig hatte ihm den Namen keine Minute zuvor gesagt, aber er fiel Franz-Josef nicht mehr ein. »Es freut mich, Sie auf meinem Fest begrüßen zu dürfen.« Sein Blick glitt über die beiden uniformierten Jungen, die neben dem Mann standen, zu der korpulenten Dame, die mit einem Fächer wedelte. »Ihre Gattin ist bezaubernd wie immer.«
Er wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte, als die Jungen zu Boden blickten und die Frau ihren Fächer vors Gesicht hob.
»Das ist meine Tochter.« Der Blick des Grafen – war es überhaupt ein Graf oder nicht doch ein Baron? – war kalt. »Meine Frau ist vor fünf Jahren an der Schwindsucht gestorben. Sie waren auf ihrer Beerdigung.«
Franz-Josef öffnete den Mund, aber der Mann wandte sich bereits ab und nahm seine Tochter wortlos beim Ellbogen. Die beiden Jungen trotteten hinter ihm her. In den Zuschauerreihen fluchte jemand so leise, dass es nur ein Vampir hören konnte. Ein anderer rieb sich die Hände. Franz-Josef wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
Sophie befahl den Dienern mit einem Wink, die Zuschauer zu entfernen. Sie hasste es, wenn er Fehler machte.
»Wieso hast du dich Prinzessin Helene gestern nicht vorgestellt?«, flüsterte sie dann mit hochgezogenen Lefzen. Gleichzeitig raunte ihm Ludwig den Namen des nächsten Gastes, eines ungarischen Grafen, zu.
Franz-Josef begrüßte ihn geistesabwesend. Seine Gedanken kreisten um die Antwort, die er Sophie geben würde.
Ich habe es vergessen.
Oh, war das gestern?
Prinzessin wer?
Hau ab, du alte Vettel, bevor ich dich in der Mittagssonne nackt über den Hof jage.
Keine der Antworten, vielleicht mit Ausnahme der letzten, stellte ihn zufrieden, und die zu geben, wäre selbstmörderisch gewesen. Was er nach der Begrüßung des nächsten Gastes sagte, war jedoch nicht viel besser.
»Weil ich sie nicht heiraten werde.«
»Natürlich wirst du das. Ich habe es so entschie…«
Ein lautes Scheppern und Klirren übertönte den Rest ihrer Erwiderung.
Sophie reckte den Hals wie ein Vogel. »Was ist denn da los?«
Die Zuschauer, die noch nicht zu ihren Plätzen gebracht worden waren, wichen hastig zurück, bildeten eine Gasse, durch die Franz-Josef einen Diener sehen konnte. Der Mann hockte am Boden und sammelte Scherben von Champagnergläsern auf. Offenbar hatte er ein Tablett fallen lassen. Zwei Frauen in Ballkleidern liefen an ihm vorbei aus dem Saal.
»Sissi!«, rief die jüngere.
Sissi?
Franz-Josef folgte Sophie mit langen Schritten. Der Diener am Boden zuckte zusammen und schüttelte seine Hand. Blut tropfte auf den Boden. Er musste sich an einer der Scherben geschnitten haben.
Hoffentlich dreht jetzt keiner durch, dachte Franz-Josef.
»Er soll das aufwischen, und zwar schnell«, fuhr Sophie den Menschen im Vorbeigehen an.
»Jawohl, Euer Majestät.«
Dann hatten sie den Saal auch schon verlassen.
Franz-Josef hob die Nase, aber die Luft war so schwer von Parfüms, Duftwässern und Kerzenwachs, dass der zarte Geruch der Menschen davon erschlagen wurde. Er roch weder Sissi noch jemand anders.
Mit flatternden Seidenschals bogen die beiden Frauen um eine Ecke. Der Gang führte zur Terrasse und weiter in den Garten. Sophie folgte ihnen, achtete dabei jedoch mit sichtlicher Mühe darauf, sich nicht schneller als ein Mensch zu bewegen.
»Ludovika!«, rief sie, als auch Franz-Josef um die Ecke bog. »Was geht hier vor?«
Die ältere der beiden Frauen drehte sich um. Die jüngere lief bereits durch die geöffnete Terrassentür hinaus. »Ich weiß es nicht, Sophie. Das Kind ist auf einmal durchgegangen wie ein Pferd.«
Franz-Josef lief an ihr vorbei. Die Terrasse war breit und zog sich rund um das Schloss. Von ihr führten geschwungene Marmortreppen in einen makellos gepflegten Garten, dessen Blumenpracht Franz-Josef niemals sehen würde.
Er blieb stehen, als er die jüngere der beiden Frauen entdeckte. Sie saß neben einem Mädchen, das auf einer der Steinbänke kauerte und das Gesicht in den Händen vergraben hatte. Trotzdem erkannte Franz-Josef sie sofort. Es war Sissi.
Was macht sie denn hier?, fragte er sich. Wer ist sie?
Er trat neben die beiden. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Kann ich Ihnen helfen?«
Sissi sah nicht auf, aber ihre Begleiterin hob den Kopf. »Euer Majestät sind zu gütig. Meine Schwester ist bestimmt nur überwältigt von dem, was sie hier gesehen hat. Es ist ihr erster Ball, müssen Sie wissen.«
»Dann wäre es schade, wenn sie nichts mehr davon sehen würde.«
»Sissi, was hast du denn?« Die ältere Frau tauchte in der Tür auf und eilte zu Sissi. Sie wollte ihr die Hände vom Gesicht nehmen, aber Sissi ließ es nicht zu.
»Geht weg«, sagte sie nur dumpf.
Sophie blieb neben Franz-Josef stehen. »Ludovika, deine Tochter benimmt sich unmöglich. Was gedenkst du, dagegen zu unternehmen?«
Franz-Josef sah das kurze Aufblitzen in den Augen der älteren Frau, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Wir können das besprechen, sobald ein Arzt sich Elisabeth angesehen hat. Ich werde sie in unsere Gemächer bringen. Es würde mich freuen, wenn ich dir solange Helene anvertrauen könnte.«
Ludovika. Helene. Elisabeth. Die Erkenntnis, wer dort vor ihm saß, traf Franz-Josef so unerwartet, dass er sich beinah mit der Hand vor die Stirn geschlagen hätte.
»Das …«, begann Sophie, aber Franz-Josef ließ sie nicht ausreden.
»Kann ich Sie kurz allein sprechen?«, fragte er.
Sie wirkte irritiert, nickte jedoch und ging mit ihm zurück in den Gang. Im Saal hatte das Orchester zu spielen begonnen. Ludwig musste es darum gebeten haben, als Franz-Josef die Begrüßungszeremonie so unerwartet abgebrochen hatte.
»Ich hoffe, du willst mit mir über deine Heirat sprechen«, sagte Sophie.
»In gewisser Weise. Helene, das Mädchen auf der Terrasse, ist die, mit der ich mich verloben soll?«
»Das wüsstest du, wenn du sie, wie abgesprochen, gestern aufgesucht hättest.«
Franz-Josef ging nicht darauf ein. »Ich möch… ich werde ihre Schwester Sissi heiraten.«
Sophie schwieg. Die Musik aus dem Ballsaal hallte durch den Gang.
»Ihnen geht es doch nur um die politische Verbindung, nicht wahr?«, fragte Franz-Josef, als Sophies Antwort ausblieb. »Was macht es da für einen Unterschied, ob ich die ältere oder die jüngere Schwester zur Frau nehme?«
Sophie wandte sich ab. »Warte hier«, sagte sie.
Und das tat er.
Sissi hörte, wie Franz – Franz-Josef, dachte sie mit erneutem Entsetzen – und Sophie die Terrasse verließen. Néné und ihre Mutter redeten auf sie ein, aber sie nahm die Hände nicht vom Gesicht und wechselte kein Wort mit ihnen. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie sich in einen Vampir verliebt und ihm das Leben gerettet hatte? Dass sie ihn nicht pfählen, sondern küssen wollte?
»Sag doch was, Kind.«
Sissi schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte sie sich im Bett verkrochen und geschlafen, bis ihr Leben vorüber war. Sie hatte ohnehin nichts mehr davon zu erwarten.
Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. »Ludovika«, hörte sie Sophie sagen. »Ich muss mit dir sprechen.«
Es raschelte, als ihre Mutter aufstand. Schritte entfernten sich.
»Es ist keiner mehr hier außer mir«, sagte Néné nach einem Moment. »Du kannst die Hände herunternehmen.«
»Nein.« Sissi wollte ihrer Schwester nicht in die Augen sehen.
»Sprich doch mit mir. Du machst mir Angst.«
Sissi schüttelte nur stumm den Kopf.
Eine Weile saß Néné neben ihr. Sie redete nicht, strich ihrer Schwester nur ab und zu übers Haar. »Mutter kommt zurück«, sagte sie schließlich.
Sissi hörte ihre Schritte. Etwas wurde auf dem Tisch neben ihr abgestellt, dann raschelte ein Kleid. Prinzessin Ludovika hatte sich neben sie gesetzt.
Sie weiß es, dachte Sissi. Der Gedanke war beruhigend; sie war nicht mehr allein.
»Néné, setz dich und trink den Champagner«, sagte ihre Mutter.
»Aber was ist mit meinem Atem?«
»Das spielt im Moment keine Rolle.« Sie holte tief Luft. »Ich muss dir etwas sagen.«