KAPITEL DREI
Jahrhundertelang wurden die Kinder Echnatons nicht nur von Vampiren, sondern auch von den wenigen Menschen, die von ihrer Existenz erfuhren, belächelt. Cervantes widmete ihnen sogar die Gestalt des Don Quijote und ließ sie gegen Windmühlenflügel kämpfen. Doch seit der Französischen Revolution und der Befreiung Amerikas lächelt niemand mehr. Nicht der Tod regiert heutzutage in den Königshäusern Europas, sondern die Furcht. Und das ist gut so, denn schon bald werden auch sie fallen und dank der Kinder Echnatons wird im Schatten der Guillotinen eine neue Welt entstehen.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Sissi!«
Sie hörte ihren Namen und sah von dem Beet auf, in dem sie Knoblauch geerntet hatte. Ihre Mutter flötete ihn geradezu, als sei er der Beginn eines Liedes, was bedeutete, dass sich entweder Dienerschaft in Hörweite aufhielt oder Besuch gekommen war.
Trotz der strahlenden Frühlingssonne wirkte das Haupthaus düster und seltsam traurig. Sissi hatte das schon als kleines Kind so empfunden, aber niemand schien ihr Gefühl zu teilen. Nach einer Weile hatte sie aufgehört, davon zu sprechen.
Ihre Mutter, Prinzessin Ludovika Wilhelmine, stand auf einem der Balkone im ersten Stock und winkte ihr zu. In dem Salon, der dahinter lag, wurden hauptsächlich unbekannte Besucher empfangen. Es war also tatsächlich jemand da.
»Kommst du einmal her, Kind?«, rief ihre Mutter.
»Ja, ich wasche mir nur die Hände.« Sissi stand auf. Ihre Beinmuskeln schmerzten. Das Training mit Herzog Max und ihren Geschwistern hatte sie wie immer an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Sie lief auf das Haus zu. Prinzessin Ludovika war eine hervorragende Lügnerin, sogar besser als Néné. Ihre Stimme verriet nicht, ob der Besuch Anlass zu Freude oder Sorge gab.
Sissi tauchte ihre Hände kurz in einen Bottich mit Regenwasser und wischte sie an ihrer Schürze trocken. Dann lief sie die Treppe zur offen stehenden Eingangstür hinauf. »Wer Türen schließt, hat in den Augen der Menschen etwas zu verbergen«, sagte ihr Vater stets. Im Schloss ging es eine weitere Treppe empor, dann betrat sie den Salon. Frau Hubers Tochter Agnes stellte gerade ein Tablett mit Tee und Gebäck auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums ab. Dahinter saß ein uniformierter, schnauzbärtiger Mann mit buschigen Augenbrauen und Halbglatze. Er erhob sich, als er Sissi sah, und verneigte sich nervös.
»Grüß Gott, Prinzessin Elisabeth«, sagte er.
Auch ihre Mutter stand auf. »Sissi, das ist der Leutnant Kraxmayer von der Gendarmerie in Possenhofen.«
Sissi blieb im Türrahmen stehen und verschränkte die Hände vor ihrer Schürze. »Guten Tag«, erwiderte sie betont schüchtern.
Leutnant Kraxmayer trat einen Schritt auf sie zu. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Prinzessin. Ich möchte nichts von Ihnen.« Er errötete. »Also, natürlich möchte ich nichts von Ihnen. Das wäre ja geradezu ungeheuerlich … und wahrscheinlich verboten.« Er stutzte, als würden ihn seine eigenen Worte verwirren. »Was ich möchte, betrifft also nicht Sie, nicht direkt, sondern vielmehr …«
»Leutnant Kraxmayer möchte dir einige Fragen stellen«, unterbrach ihn ihre Mutter. »Es geht um etwas ganz Grausliches.« Sogar ihre Stimme ließ sie bei diesen Worten zittern.
Sissi beneidete sie um ihre Gabe. »Du machst mir Angst, Mutter«, gab sie ohne jedes Zittern zurück. »Was ist denn geschehen?«
Leutnant Kraxmayer hob die Hand. »Sie müssen sich wirklich nicht ängstigen, Prinzessin. Und wenn Ihnen meine Fragen zu viel werden, breche ich selbstverständlich sofort ab. Vielleicht sollten Sie sich aber setzen. Es geht um etwas wirklich …«, er nahm das Wort ihrer Mutter auf, »… Grausliches.«
Sissi setzte sich auf einen der hohen Eichenstühle, die um den Tisch standen.
Der Leutnant zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich des Öfteren in den Wäldern rund um dieses Anwesen aufhalten. Ist das richtig?«
»Ja.« Sissi hauchte die Antwort. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war nicht zu deuten.
»In diesen Wäldern wurden in letzter Zeit einige grässlich verstümmelte Rehe und Böcke gefunden.«
»Mein Gott, wie schrecklich!« Sissi schlug sich die Hand vor den Mund.
»In der Tat, Prinzessin.« Leutnant Kraxmayer griff in seinen Uniformrock und zog einen Notizblock mit Bleistift hervor. »Nun möchte ich gern wissen, ob Sie diesbezüglich irgendwelche Beobachtungen gemacht haben.«
Ihre Mutter beugte sich vor. »Sag dem Leutnant alles, was du weißt, Sissi.«
»Aber ich weiß doch nichts!« Sissi begann den Stoff ihrer Schürze zu kneten. »Das Papili und ich gehen manchmal im Wald jagen, und wenn er dann schießt, sehe ich auch tote Tiere, aber sonst nie.« Sie schluckte. »Nur das eine Mal, da habe ich einen Rehbock gesehen, hinten an der alten Köhlerhütte über der Quelle.«
Leutnant Kraxmayer klappte den Notizblock auf. Stumm formulierte er jedes Wort, das er hineinschrieb, mit den Lippen.
»Er lag ganz still am Boden. Ich dachte, er würde schlafen, aber dann sah ich … sah ich …« Sie unterbrach sich.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte der Leutnant.
»Na, dass er schon ganz alt war. Er hat geschlafen, aber so, wie der Herrgott einen schlafen lässt, wenn er einen zu sich geholt hat.«
Sie fand, dass sie wie Emilie aus dem Dorf klang, die alle nur die »einfache Emilie« nannten, aber das schien man von ihr zu erwarten. Leutnant Kraxmayer strich alles, was er geschrieben hatte, wieder durch und sah auf.
»Haben Sie vielleicht irgendwelche Anarchisten bemerkt?«
Die Frage warf Sissi aus der Bahn. »Wie?«
»Anarchisten.« Kraxmayer klang ernst. »Sie wissen schon … schwarz gekleidete Männer mit missmutigen Gesichtern, die auf den Kaiser schimpfen.« Er schien ihre Verwirrung zu bemerken. »Wir haben menschliche Fußspuren bei den toten Tieren gefunden. Sie können nur von Anarchisten stammen«, erklärte er. »Wer sonst würde es wagen, sich an Gottes Schöpfung und am Besitz Ihres Vaters zu vergreifen?«
»Ja, wer sonst?« Ihre Mutter nickte. »Schreckliche Leute.«
Kraxmayer wartete immer noch auf eine Antwort.
»Ich habe keine Anchristen gesehen«, sagte Sissi.
»Sind Sie sicher?«
»Ziemlich.« Sie bemerkte ihren knappen Tonfall und schraubte die Stimme gleich etwas höher. »Aber wie sollen wir denn jetzt ruhig schlafen, wenn diese Anchristen ums Haus schleichen?«
»Die Gendarmerie wird Ihr Anwesen Tag und Nacht bewachen lassen, bis die Unholde der Gerechtigkeit zugeführt werden können. Bis dahin möchte ich Sie jedoch bitten, die Wälder zu meiden und jede verdächtige Beobachtung sofort zu melden.«
Ihre Mutter runzelte einmal kurz die Stirn.
»Natürlich nur, wenn es keine Umstände bereitet«, fügte Kraxmayer hastig hinzu. Er stand auf. »Es tut mir leid, dass ich Sie mit etwas so Unangenehmen belästigen musste, Prinzessin…nen. Ich werde mich selbst hinausführen. Auf Wiedersehen.«
Seine Stiefel knallten auf dem alten Holzboden. Er schloss die Tür hinter sich.
Sissi wartete, bis seine Schritte auf der Treppe verhallt waren, dann wandte sie sich an ihre Mutter. »Anchristen?«
Prinzessin Ludovika zwinkerte kurz, als wolle sie etwas anderes sagen, dann seufzte sie nur. »Man sieht, was man sehen will.« Dann beugte sie sich vor. »Aber nun zu dir: Hast du heimlich mit den Streitäxten im Wald geübt?«
»Nein! Ich würde nie unschuldige Tiere töten.«
Der Blick ihrer Mutter blieb hart.
»Gut, das eine Mal«, gestand sie. »Aber davon weißt du eh und mir war wirklich nicht klar, dass Wurfsterne so weit fliegen …« Sie dachte an den Anblick des toten Bocks. »… oder einen Schädel spalten können.«
Prinzessin Ludovika stützte das Kinn in die Hand. Sie war eine anmutige, zierliche Frau und weit strenger als Herzog Max. »Wenn du es nicht warst, dann sollten wir dem Vater Bescheid sagen.«
»Wieso? Wer glaubst du denn, bringt die Tiere um?«
»Ein wilder Vampir?« Herzog Max stand am Kopfende des Esstischs und schnitt Scheiben von einem Brotlaib ab. »Von denen haben wir doch schon seit Jahren keinen mehr gesehen.«
»Was nicht heißt, dass es sie nicht mehr gibt.« Seine Frau Ludovika nahm am anderen Ende des Tischs Platz. Zwischen ihnen saßen links Néné und Sissi, rechts die drei Buben. An diesem Abend war es Sissis Aufgabe, auf sie zu achten – was sie aßen, ob sie aßen, was sie miteinander sprachen und was ihre Blicke aussagten. Zwei von ihnen, Ludwig Wilhelm und Maximilian, schwiegen und hielten den Kopf gesenkt. Nur Karl Theodor war lebhaft. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und hielt Messer und Gabel so verkrampft in den Fäusten, als könne er das Abendessen kaum erwarten.
»Was ist ein wilder Vampir?«, fragte er. Fantasie und Neugier blitzten in seinen Augen.
Sissi mochte Theodor als Einzigen der Buben. Sie hoffte – und manchmal betete sie sogar –, dass sie ihn nie würde befreien müssen.
»Wilde Vampire«, begann Sissis Vater, »sind Kreaturen, die bei Nacht wüten. Sie unterwerfen sich keinem Herrscher und keinem Recht. Man muss sie erschlagen wie räudige Hunde, sonst morden sie weiter bis ans Ende aller Tage.«
Theodor begann mit den Beinen zu schlenkern. Der Stuhl, auf dem er saß, war viel zu hoch für ihn. »Aber wenn man sie erschlägt«, sagte er mit seiner hellen Kinderstimme, »dann stehen sie doch nur wieder auf. Pfählt man sie nicht besser oder schlägt ihnen den Kopf ab?«
Herzog Max lächelte. »Du hast gut aufgepasst.« Kurz glitt sein Blick zu den anderen, teilnahmslos dasitzenden Buben. »Aber ich bin sicher, deine Brüder hätten das auch gewusst, nicht wahr?«
Einen Moment lang herrschte erwartungsvolle Stille am Tisch. Sissi tastete nach dem kleinen Holzpflock, den sie stets in einer Lederschlaufe am Oberschenkel trug.
»Ja, Vater«, antworteten die beiden Buben schließlich.
Sissi legte ihre Hand wieder auf den Tisch. Sie spürte, wie die Spannung, die sich so plötzlich in dem großen Esszimmer aufgebaut hatte, verflog.
Ihr Vater lächelte. »Dann waren die Lehrstunden ja nicht vergebens«, sagte er, bevor er das fertig geschnittene Brot in einen Korb legte und in die Mitte des Tischs stellte. Nacheinander griffen alle zu, die Buben als Letzte. Theodor schaufelte mit einem großen Löffel Fleischsalat auf seinen Teller. Er wollte gerade Butter auf seine Brotscheibe schmieren, als Prinzessin Ludovika ihn aufhielt.
»Hast du nicht etwas vergessen, Theodor?«, fragte sie.
Er hielt inne und nickte. »Verzeih, Mutter. Ich war ungeduldig.«
»Dann hoffe ich, dass dein Gedächtnis ausgeprägter ist als deine Geduld. Du hast heute Abend die Ehre, das Tischgebet zu sprechen.«
Aus den Augenwinkeln sah Sissi die Erleichterung auf Nénés Gesicht, die sie selbst verspürte. Rasch ergriff sie die Hand ihrer Schwester und die ihrer Mutter. Herzog Max und die Buben schlossen den Kreis.
Theodor schluckte, räusperte sich, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Du musst keine Angst haben«, sagte Sissi. »Wir alle wissen, wie schwer das ist.«
Er sah sie an, schluckte und setzte erneut an. Zögernd begann er zu sprechen. Es waren seltsame, fremde Laute, die aus seiner Kehle und aus dem Dunkel der Zeit emporstiegen. Sissi schloss die Augen und lauschte ihnen. Sie liebte es, sie zu hören, und hasste es, sie auszusprechen. Das Gebet, wenn es denn eines war, erfüllte sie mit Hoffnung und Zuversicht und schien etwas in ihr zu wecken, was sonst verborgen blieb. Es schenkte ihr Ruhe und die Gewissheit, dass Tausende vor ihr ihm gelauscht hatten – in Hütten und Burgen, in Zelten und Palästen, auf Schlachtfeldern und im Angesicht unvorstellbar grausamer Macht. Doch es existierte immer noch, war weitergereicht worden über Generationen, von Vätern an Söhne, von Müttern an Töchter. Das Böse hatte ihm nichts anhaben können.
Bis vor Kurzem hatte man geglaubt, es stamme aus dem alten Ägypten, doch die Gelehrten unter ihnen, die sich mit dem Gebet beschäftigten, zweifelten mittlerweile daran, hielten es für älter, vielleicht so alt wie die Sprache selbst. Sissi lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte.
»Fertig.«
Theodor riss sie aus ihren Gedanken. Sie öffnete die Augen und griff nach ihrer Gabel.
»Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Ich habe keinen einzigen Fehler gehört.«
»Was nur daran liegt«, mischte sich ihre Mutter ein, »dass du es auch noch nie fehlerfrei aufgesagt hast. Aber du hast es wirklich gut gemacht, Theodor, wenn auch nicht so gut, wie Sissi glaubt.«
»Danke, Mutter. Darf ich jetzt essen?«
»Soviel du willst.«
Sissi sah, wie Theodor begann, sein Brot zu schmieren. Die Worte ihrer Mutter taten ihr nicht weh, denn sie stimmten. Néné war das einzige Kind am Tisch, das nie einen Fehler machte, wenn es das Gebet aufsagen musste.
Sie griff nach dem Brotkorb und sah ihren Vater an. »Wann werden wir uns um den wilden Vampir kümmern?«, fragte sie.
Er stellte den Bierkrug ab, aus dem er gerade getrunken hatte, und unterdrückte einen Rülpser. »Ich habe noch nicht entschieden, ob wir uns überhaupt um ihn kümmern, wenn es ihn denn gibt.«
»Aber wir können ihn doch nicht weiter die Tiere umbringen lassen.« Néné verdrehte die Augen, aber Sissi beachtete sie nicht. »Es ist unsere Pflicht, etwas gegen ihn zu unternehmen.«
Max stützte das Kinn in seine Handfläche. Mit der Gabel zeichnete er Muster in den Fleischsalat auf seinem Teller. »Du vergisst, dass es auf unserem Land von Gendarmen nur so wimmelt«, sagte er. »Sie könnten uns mit Anarchisten verwechseln.«
»Aber das wäre doch eine gute Übung für uns.« Sissi ließ nicht locker. Sie sah ihm an, dass er nur nach Ausreden suchte, um ihre Mutter zufriedenzustellen. Sie saß am anderen Tischende und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf ihren Oberarm.
»Wir könnten nicht bei Tag auf die Suche gehen«, fuhr ihr Vater fort. »Da gräbt sich der Vampir irgendwo ein und wir würden ihn nie finden. Also müsste es nachts sein, wenn er stark und wach und gefährlich ist.«
»Umso besser.« Sissi stützte ihre Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Alles, was du uns beigebracht hast, wird …«
»Manieren, bitte!«, unterbrach ihre Mutter sie.
Sissi nahm die Ellbogen vom Tisch.
»Sissi hat recht«, sagte Néné unerwartet. »Wie sollen wir uns auf das Große Erwachen vorbereiten, wenn wir keine Gelegenheit bekommen, unsere Fähigkeiten auszuprobieren?«
Ihr Vater antwortete nicht, sondern sah seine Frau an. Sie schienen eine lautlose Unterhaltung zu führen, die mit seinem Nicken endete.
»Also gut«, sagte er. »Heute Nacht.«
Sissi grinste. Néné klatschte aufgeregt in die Hände und sprang auf. »Ich ziehe mich nur eben um, dann …«
Prinzessin Ludovika ließ sie nicht ausreden. »Nicht du, Néné, nur dein Vater und Sissi. Für dich ist das zu gefährlich.« Sie hob die Hand, als Néné widersprechen wollte. »Du bist zu etwas Höherem berufen als wir alle, das weißt du doch. Für dieses Privileg musst du Opfer bringen und dazu zählt auch, dass du nicht jeden x-beliebigen Vampir verfolgst und dein Leben riskierst.«
»Ich will aber nicht länger unter einer Käseglocke leben.« Néné verschränkte die Arme vor der Brust. Sissi hatte noch nie erlebt, dass sie sich gegen ihre Mutter auflehnte. »Ich will frei sein wie Sissi.«
»Das wird nie geschehen.« Prinzessin Ludovikas Stimme klang schneidend, fast schon brutal. »Und nun setz dich wieder und iss weiter.«
Néné zögerte. Erst als Sissi unauffällig an ihrem Rock zupfte, ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen, die Arme weiterhin vor der Brust verschränkt. Ihre Lippen zitterten. Tränen standen in ihren Augen.
Ihre Mutter schien die harten Worte bereits zu bereuen, denn sie beugte sich vor und sagte sanfter: »Ihr dürft nie vergessen, dass ich euch beide mehr liebe als alles andere.«
Sissi sah, wie Theodor den Blick senkte. Die beiden anderen Buben spielten lustlos mit ihrem Essen, so als bekämen sie nichts von der Unterhaltung mit.
»Ich liebe euch beide gleichermaßen, aber ihr seid nicht gleich. Sissi kann Dinge, die du, Néné, nicht kannst und umgekehrt. Ihr müsst euch in dieses Schicksal fügen, sonst werdet ihr Unglück über euch und uns bringen. Versteht ihr das?«
»Ja, Mutter«, sagte Sissi.
Néné nickte einen Lidschlag später.
Schweigend aßen sie weiter, doch Sissi schmeckte es nicht. Ihr ganzes Leben hatte Néné gelernt, eine Dame zu sein, der Position gerecht zu werden, die sie eines Tages – wenn auch nur kurz – einnehmen würde. Sie sprach sechs Sprachen fließend, beherrschte das komplizierte Spanische Hofzeremoniell besser als … Sissi dachte einen Moment nach … als die Spanier, nahm sie an. Sie spielte vier Instrumente, konnte singen, tanzen und sticken. Und sie wusste, wie man einen Vampir aus nächster Nähe tötete. Niemand beherrschte den Pflock besser als sie. Néné hatte gelernt, zu gehorchen, zu gefallen und zu töten.
Aber was, wenn es nicht dazu kam?, fragte sich Sissi, als sie das letzte Stück Brot in den Mund schob. Was, wenn der Kaiser eine andere erwählte? Was, wenn der Plan fehlschlug?
Sissi hoffte, dass sie die Antwort auf diese Fragen nie erfahren würde. Sie gönnte Néné den Ruhm, den sie ernten würde, wenn sie der Monarchie den größten Schlag seit der Französischen Revolution zufügte.
Bitte lasst es geschehen, ihr alten Götter, dachte sie. Gewährt Néné diesen Triumph, bevor ihr sie zu euch holt.