KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
Es gibt keine Fähigkeit der Vampire, die mehr Unbehagen auslöst als das sogenannte Betören. Beim Betörten führt sie zu einem Verlust des Willens und des Gedächtnisses, im schlimmsten Fall mit bleibenden Schäden, die Geisteskrankheiten oder Verdummung auslösen.
In der Hand eines starken Vampirs ist das Betören ein Werkzeug von unglaublicher Präzision. Es vermag den Menschen in einer Menge die Erinnerung an ein einziges Gesicht zu nehmen oder einen stundenlangen Gesprächspartner davon zu überzeugen, ein gemeinsames Mahl eingenommen zu haben, wenn in Wirklichkeit nur die Erinnerung daran, dass nicht gegessen wurde, fehlt.
Unter den Kindern Echnatons gibt es gelegentlich philosophische Diskussionen über die Frage, ob vielleicht die ganze Welt aus Betörten besteht und niemand von uns weiß, wie sie wirklich aussieht.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
So muss es sein, wenn Menschen träumen, dachte Franz-Josef. Es fühlte sich an, als befinde er sich unter Wasser. Alles war gedämpft und verlangsamt, verschwommen und grau. Er sah Palastbewohner, die wie er zusammen mit wilden Vampiren zum Ballsaal gingen. Es waren nur Vampire, er sah keinen einzigen Menschen unter ihnen. Sie alle hatten den gleichen verwunderten Gesichtsausdruck und er befürchtete, dass er nicht anders aussah.
Seine Gedanken wälzten sich mit quälender Langsamkeit durch seinen Kopf.
Ich muss mich konzentrieren.
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gedacht, da stand er bereits im Ballsaal.
Wie bin ich hierhergekommen? Er konnte sich kaum an den Weg erinnern.
»Bleib stehen«, sagte der wilde Vampir.
Franz-Josef blieb stehen. Um ihn herum füllte sich langsam der Saal. Die Diener mussten ihn bei Tag gereinigt haben, denn die Tische standen unter Decken an den Wänden. Daneben stapelten sich Stühle mannshoch. Die Vorhänge der gewaltigen Fenster waren zugezogen. Eimer voller Schnee standen auf dem Boden. Franz-Josef wusste nicht, aus welchem Grund sie dort standen, aber er nahm an, dass die wilden Vampire sie mitgebracht hatten.
Franz-Josef kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, kämpfte um die Herrschaft über seinen Geist.
Der Vampir warf ihm einen kurzen Blick zu. »Lass das.«
Er ließ es.
Ein lautloser Befehl zwang alle, sich auf den Boden zu setzen, auch ihn. Nur die wilden Vampire reagierten nicht darauf. Einer von ihnen sprang aus dem Stand auf einen Stapel Stühle und blieb wie ein Wächter mit vor der Brust verschränkten Armen stehen. Stolz streckte er das Kinn vor.
»Was verschafft mir die unerwartete Ehre Ihres Besuchs?« Sophies Stimme hallte durch den Saal.
Franz-Josef drehte den Kopf und nahm sie verschwommen in der Tür stehend wahr. Sie war unbewaffnet, aber Karl, der sie halb mit seinem Körper deckte, hielt eine Armbrust in der Hand. Sie war gespannt. Ferdinands riesiger Kopf ragte hinter seinem empor. Rhythmisch wackelte er hin und her.
Der wilde Vampir neben Franz-Josef drehte sich zu Sophie um. »Du weißt, weshalb«, sagte er. »Die Zeit ist abgelaufen. Ich bin hier, um eine Entscheidung zu fordern.«
Sophie betrat den Saal. Karl und Ferdinand blieben an ihrer Seite. Franz-Josef bemerkte erleichtert, dass der alte Vampir keine Waffe trug.
»Haben Sie deshalb den halben Hofstaat betört? Damit in Ihrem Sinne entschieden wird? Warum betören Sie mich nicht auch, damit Ihnen jede mögliche Opposition erspart bleibt?«
»Deine klaren Worte habe ich immer geschätzt, Sophie.« Der Vampir ging einige Schritte auf sie zu und hielt dann inne, als würde er auf etwas lauschen. »Deine unangemessenen Unterstellungen jedoch weniger«, fuhr er fort. »Jeder der hier Anwesenden wird sich frei entscheiden können, ob er mir folgen will oder dir.«
Karl warf Sophie einen kurzen Blick zu, als wolle er sie zu etwas drängen. Zu Franz-Josefs großer Überraschung knickste sie tief und neigte den Kopf.
»Das wird nicht nötig sein, Eminenz«, sagte sie. Ihre Stimme klang gepresst. Jedes Wort schien sie sich abzuringen. »In Ihrer Abwesenheit war es mir eine Freude, Sie zu vertreten, doch nun, nach Ihrer Rückkehr, werde ich mich selbstverständlich zurückziehen. Meine Untertanen sind die ihren.«
»Na, bravo!« Ferdinand lief auf den verdreckten Vampir zu und umarmte ihn. Die Scherben, die in dessen Körper steckten, knirschten.
Seine Eminenz, dachte Franz-Josef angestrengt. Es ist also wahr. Er existiert.
»Ferdinand.« Seine Eminenz löste die Umarmung und trat einen Schritt zurück. Der Blick aus seinem einen gesunden Auge musterte sein Gegenüber. »Du hast dich verändert.«
»Ich habe meinen Chinesen verloren«, sagte Ferdinand.
Seine Eminenz runzelte die Stirn des Vampirs, der ihm als unfreiwilliger Vertreter diente.
Franz-Josef betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, fragte sich erneut in einem langsamen Gedankengang, wie es möglich war, dass ein Vampir allein über eine solche Macht verfügte. Er war nicht einmal an diesem Ort, doch durch den Vampir, den er übernommen hatte, war er trotzdem in der Lage, sie alle zu betören. Nur Sophie, Karl und Ferdinand schienen nicht betroffen zu sein. Ob Seine Eminenz sie nicht betören wollte oder konnte, war Franz-Josef unklar.
Vorsichtig zerrte er wieder an den Fesseln, die seinen Geist umschlossen. Sie gaben nicht nach, saßen so fest, als wären sie ein Teil seiner selbst.
Seine Eminenz wandte den Blick von Ferdinand ab, ging zu Sophie und verbeugte sich leicht vor ihr.
Karl ließ die Armbrust sinken.
»Ich weiß deine Entscheidung zu schätzen«, sagte Seine Eminenz, während er seine Hand unter Sophies Ellenbogen schob und ihr aufhalf.
Der Anblick wirkte grotesk auf Franz-Josef. Ein nackter, dreckverkrusteter Vampir, der sich wie ein wohlerzogener Höfling benahm.
»Sie ist dir bestimmt nicht leichtgefallen.« Seine Eminenz trat zwischen Sophie und Karl, als wolle er sie voneinander trennen.
Karl machte ihm nur widerwillig Platz.
Seine Eminenz warf einen Blick in die Menge. »Ist hier jemand, der mit Sophies Entscheidung nicht einverstanden ist?«
Franz-Josef spürte, wie sich die Fesseln um seinen Geist lockerten. Seine Eminenz hatte nicht gelogen; sie konnten sich weigern, wenn sie wollten.
Doch niemand tat es, auch er nicht.
»Gut. Dann werdet ihr jetzt auf Worte Taten folgen lassen. Betrachtet es als ersten Test eurer Loyalität.«
Die Fesseln wurden nicht wieder festgezogen, lagen weiterhin locker um seinen Geist. Franz-Josef genoss die plötzliche Schnelligkeit seiner Gedanken und die Freiheit seines Willens. Nur sein Körper war immer noch eingeschränkt. Die Luft selbst schien sich ihm zu widersetzen, bremste seine Bewegungen.
Er bemerkte, wie sich die wilden Vampire anspannten, wie ihre Blicke über die Menge glitten, als erwarteten sie, dass die Ersten eine Flucht versuchten.
Weshalb?, fragte sich Franz-Josef.
Seine Eminenz nahm einen der mit Schnee gefüllten Eimer, die am Boden standen.
»Ich benötige eure Augen.«
Deshalb, dachte Franz-Josef. Ihm wurde übel.
Sissi erkannte bereits nach wenigen Metern, dass sie den Ballsaal auf dem Weg, den sie eingeschlagen hatte, nicht erreichen würde. Die wilden Vampire hatten den Gang, der zum Ballsaal führte, abgeriegelt. Gleich vier von ihnen entdeckte Sissi, als sie vorsichtig um eine Ecke spähte.
Ratlos blieb sie stehen. Ihr Katana lag unter der Matratze ihres Bettes, unerreichbar weit entfernt. Und selbst wenn sie es bei sich getragen hätte, wäre sie vier Vampiren niemals gewachsen gewesen.
Sie drehte um und ging an Franz-Josefs Arbeitszimmer vorbei den Gang hinunter. Die Türen, die zu kleineren Trakten und den Zimmern adliger Besucher führten, standen offen. Sissi sah Kampfspuren, zersplitterte Fenster und Scherben am Boden.
Wir sind überfallen worden, dachte sie, aber von wem und warum?
Es musste etwas damit zu tun haben, was Franz-Josef erwähnt hatte, diesem nebulösen – sie war stolz auf das neue Wort, das sie am Abend zuvor gelernt hatte – Ereignis, das er angedeutet hatte.
Vertrauen, dachte sie. Wenn wir einander vertraut hätten, wüsste ich jetzt vielleicht, was ich tun soll.
Die leeren Gänge erschienen ihr unheimlich. Um diese Zeit waren sie sonst voller Leben. Vampire und Menschen gleichermaßen trafen sich dort, suchten nach Unterhaltung und Tratsch. Doch nun hallten nur Sissis Schritte von den Wänden wider. Diejenigen, die von den wilden Vampiren nicht verschleppt worden waren, mussten sich irgendwo versteckt halten, hofften wohl darauf, dass der Spuk irgendwann enden würde.
Das könnte ich auch tun, dachte Sissi, als sie vor einer der verborgenen Türen, die zum Dienstbotentreppenhaus führten, stehen blieb. Doch so war sie nicht erzogen worden. Sie war eine Soldatin, die Berufung war sosehr Teil ihrer selbst wie ihr adliges Blut. Sie wartete nicht, dass jemand kam, um sie zu retten, sie war dieser jemand.
Zumindest hoffte sie das.
Sissi öffnete die Tür und lief die enge Holztreppe hinunter. Überall zweigten Gänge ab, die hinter den Wänden verborgen durch die Hofburg führten. Seit ihrem ersten, im Nachhinein peinlichen Küchenbesuch hatte Sissi keinen Fuß mehr hineingesetzt, aber sie wusste, dass die Dienstboten sie benutzten, um Essen aufzutragen und abzuräumen und ihre Arbeit zu verrichten, ohne von der Herrschaft bemerkt zu werden. Eine Zofe hatte sie Sissi gegenüber einmal als Heinzelmännchentreppen bezeichnet.
Es war still in der Küche, als Sissi durch die geöffnete Tür trat. Im ersten Moment glaubte sie, das Personal sei bereits zu Bett gegangen, doch dann hörte sie leise Stimmen.
Sie ging an den Öfen und Arbeitsplatten vorbei. Schmutzige Pfannen standen auf dem Feuer, Messer und geschnittenes Gemüse lagen auf den Platten. Sie nahm sich ein langes, spitzes Küchenmesser, das nach Zwiebeln roch, und ein zweites, kürzeres, das unbenutzt wirkte.
Besser als nichts, dachte Sissi, als sie die Waffen in den Gürtel ihres Kleides steckte.
Das Küchenpersonal hatte sich in der hintersten Ecke der Küche versteckt, dort, wo die großen Wannen standen, in denen das Geschirr gespült wurde. Mehr als ein Dutzend Menschen hockten dicht zusammengedrängt am Boden. Ihre Gesichter waren verängstigt, ihre Augen weiteten sich, als sie Sissi sahen. Zwei ältere Frauen bekreuzigten sich und sagten etwas auf Ungarisch.
»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte Sissi.
Die Menschen sahen zuerst sie, dann einander an. Sissi hatte nicht den Eindruck, dass sie verstanden, was sie gesagt hatte.
Oh Götter, dachte sie. Ausgerechnet Ungarn.
»Äh …« Sie räusperte sich. Vokabeln tropften träge wie Wachs aus ihrem Gedächtnis auf ihre Zunge. »Weg zu … Ballsaal. Zeigen.« Mit dem Finger deutete sie auf einen Jungen. »Du.«
Er hob abwehrend die Hände und antwortete etwas, was Sissi nur bruchstückhaft verstand. Er durfte anscheinend nicht mit einer Hoheit reden, weil er nur ein … Wassermann? … nein, ein Spüljunge war.
»Egal«, sagte sie. »Komm.«
Die anderen drängten ihn aus der Gruppe, schoben ihn vor, bis er allein vor ihnen stand. Sie waren wohl froh, dass Sissis Wahl nicht auf einen von ihnen gefallen war.
»Komm.«
Der Junge nahm eine Kerze, folgte ihr aus der Küche und blieb am Treppenabsatz stehen.
»Zeigen. Ballsaal.«
Er nickte, sagte etwas, was sie nicht verstand, und stieg vor Sissi die Treppe hinauf. Trotz der Kälte trug er keine Schuhe.
Im Kerzenlicht liefen sie durch Gänge und über Treppen. Ab und zu drehte sich der Junge zu Sissi um, als wolle er sicherstellen, dass sie Schritt halten konnte. Er musste die Messer in ihrem Gürtel bemerkt haben, aber er fragte sie nicht danach.
Wahrscheinlich hatten die Dienstboten in diesem seltsamen Palast gelernt, dass es besser war, keine Fragen zu stellen. Sissi konnte sich kaum vorstellen, dass sie nicht zumindest ahnten, was hinter den verschlossenen Türen der Privattrakte vorging. Sie konnten nicht alle ständig betört werden.
Man sieht, was man sehen will, dachte sie.
»Wir sind gleich da«, sagte der Junge schließlich.
»Halt.« Sissi hielt ihn an seiner dünnen Jacke fest und zeigte in den Gang, der vor ihnen lag. »Da?«
Er nickte und sagte irgendetwas, in dem die Worte geradeaus und Tür vorkamen. Den Rest konnte Sissi sich zusammenreimen. Sie nahm ihm die Kerze aus der Hand.
»Finden zurück?«, fragte sie.
»Ja.«
»Dann geh.«
Der Junge zögerte. »Da drin böse?« Er schien es aufgegeben zu haben, in ganzen Sätzen mit ihr zu reden.
Kluger Junge, dachte Sissi. »Ja«, sagte sie. »Da drin böse.«
Er bekreuzigte sich und sah sie ein letztes Mal an, bevor er sich umdrehte und in der Dunkelheit verschwand.
Sissi ging weiter. Sie hielt die Hand schützend vor die kleine Flamme der Kerze. Ohne sie würde sie nie wieder zurückfinden.
Als sie die Geräusche zum ersten Mal hörte, dachte sie, es wäre der Wind, der durch die Ritzen im Holz pfiff, doch aus dem Säuseln wurde ein Murmeln, dann ein Stöhnen, disharmonisch und ausgestoßen von Dutzenden Kehlen.
Sissi sah die Tür zum Ballsaal im Kerzenlicht. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
Schreie mischten sich in das Stöhnen. Ab und zu kratzte etwas an der Wand entlang, Sissi hörte Poltern und schlurfende Schritte.
Was geschieht dort nur? Sie dachte an Franz-Josef. Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass eine der Stimmen vielleicht seine war.
Sie stellte die Kerze auf den Boden und trat an die Tür. Es gab nur eine Klinke, kein Schlüsselloch, durch das sie hätte blicken können.
Vorsichtig zog sie die Tür einen Spalt auf.
Der Anblick dahinter raubte ihr fast den Verstand.