KAPITEL SECHS
Vampire leben in strikter Hierarchie. Wollte man einen Vergleich zwischen ihnen und den Kreaturen der natürlichen Ordnung ziehen, so käme ihr Umgang miteinander wohl dem in einem Wolfsrudel am nächsten. Es steht jedoch außer Frage, dass ein Wolfsrudel als höherwertig anzusehen ist, denn dort findet ein geschulter Beobachter Anzeichen für Mitgefühl und gegenseitigen Respekt.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Ich habe die wilden Vampire nie verstanden«, sagte Pierre Roger, während er sich an einen Baumstamm lehnte und begann, die Rinde mit seinen langen, weiß lackierten Fingernägeln abzukratzen. »Wer würde freiwillig in einem Wald leben und Rehe jagen, wenn es Paläste voller Bediensteter gibt, die nur darauf warten, leer getrunken zu werden.«
»Kein Wunder, dass du das nicht verstehst.« Edgar verzog verächtlich die Mundwinkel. Er war ein großer, grobschlächtiger Vampir und intelligenter, als er aussah. »Man braucht Leidenschaft für die Jagd – und nicht nur für die neueste Mode aus Paris.«
»Ich bin doch hier, oder? Und was weißt du schon von Mode? Du siehst aus, als habe ein Schimpanse deine Garderobe ausgesucht.«
»Das ist Kleidung für Männer. Kein Wunder, dass sie dir nicht gefällt.«
Franz-Josef beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Er hätte alles getan, um der Enge der Sommerresidenz wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Sophies Bitte, sich um einen wilden Vampir zu kümmern, der anscheinend in den Wäldern rund um die Residenz aufgetaucht war, hatte ihm schließlich die Flucht ermöglicht. Dass Pierre und Edgar sich ihm aufgedrängt hatten, war zwar wie ein Tropfen Galle in süßem Blut, aber immer noch besser als Sophies Belehrungen und Intrigen. Sie bestimmte die Politik des Landes und diktierte Franz-Josef jede Entscheidung. Manchmal fragte er sich, warum er sich die Mühe gemacht hatte, um sein erstes Amt zu kämpfen, denn herrschen durfte er nicht.
Aber in die Öffentlichkeit darf ich mich begeben, um Zielscheibe für Attentäter zu werden, dachte er. Zu mehr tauge ich wohl nicht.
Franz-Josef lehnte seine Armbrust an einen Baumstamm und gähnte. Die Nacht war fast vorbei, aber sie hatten noch immer keine Spur des wilden Vampirs gefunden.
»Glaubt ihr, es gibt ihn wirklich?«
»Den wilden Vampir?« Edgar hob die Schultern und griff in seine Jackentasche. Franz-Josef lehnte ab, als er ihm eine Zigarre anbieten wollte. »Wahrscheinlich nicht. Sie sind selten geworden. Wir haben sie fast ausgerottet.« Es klang bedauernd.
Pierre nahm eine Zigarre und roch daran. »Zum Glück«, sagte er, als er sie mit angewidertem Blick zurückgab. »Diese primitiven Barbaren sind eine Gefahr für uns alle.«
»Es sind Puristen.« Edgar biss ein Ende seiner Zigarre ab und begann, sie zwischen den Fingern zu drehen. »Sie tun das, wozu sie erschaffen wurden, jagen und töten. Wir sollten ihnen nacheifern, anstatt sie auszurotten.«
Franz-Josef betrachtete den Wald, der sich vor ihnen erstreckte. Sie standen an einem Hang hoch über Bad Ischl. Das Licht des Vollmonds war so hell, dass er jeden Schatten, jede Nuance in der Färbung des Waldes erkennen konnte, fast so, als blicke er in seine Seele.
»Wir töten sie, damit wir unentdeckt bleiben«, sagte er nach einem Moment, »nicht weil es uns gefällt.«
»Also töten wir aus Feigheit.« Edgar zündete die Zigarre mit einem Streichholz an.
Franz-Josef trat einen Schritt zur Seite, doch der graue, beißende Qualm hüllte ihn trotzdem ein.
»Das ist schlimmer, als wenn wir Gefallen daran fänden«, fuhr Edgar fort.
Pierre verdrehte die Augen, schwieg jedoch. Franz-Josef hatte den Eindruck, dass sie diese Unterhaltung schon oft geführt hatten.
»Wir verstecken uns vor den Menschen, obwohl wir über sie herrschen.«
»Nicht in Frankreich«, warf Pierre ein.
Edgar beachtete ihn nicht. »Wir …«
»Und auch nicht in Amerika.«
Edgar machte ein Gesicht, als wolle er Pierre am liebsten pfählen. »Wir beherrschen die Menschen, abgesehen von Franzosen und Amerikanern …«, er warf seinem Begleiter einen kurzen Blick zu, doch der unterbrach ihn nicht noch einmal, »… aber anstatt unsere Macht zu feiern, verbergen wir uns hinter Masken. Wir tragen ihre Kleidung, lauschen ihrer Musik, lesen ihre Bücher. Wir versuchen, sie nachzuahmen.« Er schüttelte den Kopf. »Der Wolf ahmt das Schaf nach. Habt ihr je etwas Lächerlicheres gehört?«
Franz-Josef hob die Schultern. »Wölfe sind Schafen auch nicht mit einer Million zu eins unterlegen.«
»Und die wenigsten Schafe wissen, wie man eine Guillotine bedient«, sagte Pierre.
Wütend trat Edgar die Zigarre aus. »Ich kenne all die Argumente. Ich habe lange genug selbst daran geglaubt. Aber seht doch, was dieses Versteckspiel aus uns macht! Wir sind faul geworden und dekadent. Wann habt ihr das letzte Mal einen Menschen gejagt, richtig gejagt, anstatt ihn zu betören und sein Blut zu trinken, ohne dass er weiß, wie ihm geschieht? Wann habt ihr das letzte Mal getötet, ohne dass man es euch erlaubt hatte?«
Franz-Josef schwieg. Er musste darüber nicht nachdenken, er kannte die Antwort auch so: kein einziges Mal.
Pierre hingegen begann lautlos, etwas an seinen Fingern abzuzählen.
»Und?«, fragte Edgar, als seine Antwort ausblieb.
Pierre sah ihn an. »Zählen Tiere?«
»Nein.«
»Auch nicht, wenn sie Menschen gehört haben?«
»Nein!« Edgar schrie beinah.
Franz-Josef wurde langsam klar, wie ernst er es meinte. »Und wann hast du das letzte Mal ohne Erlaubnis getötet?«, fragte er. Der große Vampir zögerte, nicht aus Scham, das sah Franz-Josef ihm an, sondern aus einem anderen, weniger klar erkennbaren Grund.
»Vorgestern«, sagte Edgar nach einem Moment.
Franz-Josef blickte ihn ungläubig an. »Was? Du lügst. Das …«
»Psst.« Pierre stieß ihn an und legte einen Finger auf die Lippen. »Riecht ihr das?«
»Unterbrich mich nicht. Das ist wichtiger …« als deine Spielchen, wollte Franz-Josef fortfahren, doch dann roch er es auch. Der Wind trug den Duft zu ihm herüber, vermischt mit dem Geruch nach Harz und Tannennadeln. Süß und leicht stach er daraus hervor.
»Ein Mensch«, sagte Edgar. Seine Stimme war kaum mehr als ein Zischen.
Pierre nickte. »Ein Mensch allein im Wald zu dieser Stunde? Der Herr muss es gut mit uns meinen.«
Edgar hob die Nase in die Luft. »Er ist nicht weit von hier. Kommt, sehen wir ihn uns einmal an.«
Er ging los, ohne auf die anderen zu achten. Pierre folgte ihm mit langen Schritten, Franz-Josef eher zögernd. Edgars Geständnis ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte nicht nur gegen Sophies Befehl, sondern auch gegen das uralte Gebot der Königshäuser verstoßen und das so leichthin zugegeben, als sei es nicht mehr als ein unerlaubtes Knabbern an einer betörten Zofe. Franz-Josef wusste nicht, was er tun sollte, wenn Edgar beschloss, auch den Menschen zu töten, dem sie nun folgten.
Er hätte dem Dilemma aus dem Weg gehen können, wenn er sich einfach umgedreht und zur Residenz zurückgekehrt wäre, doch die Neugier trieb ihn weiter – und der süße, lockende Geruch des Blutes.
Hintereinander folgten sie dem Weg hinunter ins Tal, Edgar als Erster, dann Pierre und Franz-Josef. Ein Bach plätscherte, Grillen zirpten, Zweige knackten unter ihren Stiefelsohlen. Am Rand einer Lichtung blieb Edgar stehen. Franz-Josef schloss zu ihm auf und sah ein Pferd, das neben einem Baum stand und graste. Ein Umhang und ein Sattel lagen im Gras, ausgebreitet wie ein improvisiertes Nachtlager. Jemand hatte Holz zu einem Lagerfeuer aufgeschichtet, aber es nicht entzündet. Der Geruch wurde stärker.
»Er ist ganz nah«, flüsterte Edgar. Er zog die Lippen hoch und leckte sich über seine spitzen Eckzähne. »Meine Freunde, heute Nacht sind wir nicht nur Fürsten, sondern wir werden auch speisen wie Fürsten.«
Pierre kicherte, Franz-Josef räusperte sich. »Was das Speisen angeht …«, begann er. »Es wäre vielleicht besser, zu fasten. Sophie wird uns ansehen, was wir getan haben. Ich glaube nicht, dass einer von uns Antworten auf ihre Fragen hätte. Oder besser gesagt, Antworten, nach denen unser Kopf noch auf den Schultern sitzt.«
Edgar spie aus. »Memme.« Er ließ Franz-Josef stehen und betrat die Lichtung, die Nase weiter in die Luft gereckt.
Das Pferd sah kurz auf und graste weiter. Tiere reagierten nur selten auf Vampire, wahrscheinlich, weil sie nach nichts rochen. Genau wusste das niemand.
»Nimm es nicht persönlich«, sagte Pierre leise. »Wenn er nostalgisch wird, prallen die Forderungen der modernen Welt einfach an ihm ab.«
»Sophie wird ihn umbringen, wenn sie erfährt, was er tut.«
Pierre hob die Schultern. In seinem Blick mischten sich Liebe und Bedauern. »Vielleicht, aber so ist er nun mal. Ich könnte ihn nicht ändern, selbst wenn ich es wollte.«
Edgar winkte ungeduldig, dass sie ihm folgen sollten.
»Du musst nicht mitkommen«, sagte Pierre, als er auf die Lichtung trat. »Du bist jetzt der Kaiser. Lass dich nicht von ein paar alten Spinnern wie uns zum Ungehorsam anstiften.«
Franz-Josef antwortete nicht, aber er blieb auch nicht zurück. Es war der Geruch des Menschen, der ihn weitergehen ließ. Tag für Tag war er von Menschen umgeben, aber so stark, so verführerisch hatte er ihn noch nie wahrgenommen. Vielleicht lag es an der klaren, kalten Nachtluft, vielleicht am Vollmond, aber er würde nicht eher umdrehen, bis er den Menschen, dem dieser Geruch anhaftete, gesehen hatte.
Edgar wirkte überrascht, sogar ein wenig beeindruckt, als er Franz-Josef sah. »Da hinten«, flüsterte er mit einem Blick auf einen Pfad, der ins Dickicht führte. »Er ist dort hineingegangen. Und wir sind nicht die Einzigen, die ihm folgen.«
Er zeigte auf eine Stelle vor sich im Gras. Franz-Josef erkannte die Abdrücke nackter Zehen im weichen Boden.
»Der wilde Vampir?«, fragte er.
»Wer sonst? Hast du je gesehen, wie sie töten?«
Franz-Josef schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht, aber das würde ich gern ändern.« Edgar wollte weitergehen, aber Pierre legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Dann kriegen wir doch alle, was wir wollen«, sagte er. »Du siehst dir deinen wilden Vampir an, Franz und ich warten, bis du damit fertig bist, dann gehen wir alle nach Hause und erzählen Sophie, wir hätten ihn nicht gefunden.«
»Wir jagen den wilden Vampir nicht?«, hakte Edgar nach. Er fragte Pierre, aber sein Blick richtete sich auf Franz-Josef.
»Nein«, sagte der. »Wir jagen ihn nicht. Niemand muss sterben … außer dem Menschen natürlich, wenn wir es zulassen.«
Pierre winkte ab. »Ach, die sterben doch ständig. Einer mehr oder weniger fällt da nicht ins Gewicht.«
»Also gut.« Edgar wirkte erleichtert. Der Gedanke an Sophies Rache hatte ihn wohl doch nicht ganz kalt gelassen. »Dann folgt mir.«
»Danke«, flüsterte Pierre, als sie die Lichtung verließen.
Franz nickte knapp, obwohl er insgeheim stolz auf seine Lösung war. Es war die erste eigenständige Entscheidung, die er als Kaiser getroffen hatte.
Der Pfad brachte sie zu einem Bach, der sich zwischen Bäumen und Felsen hindurchwand. Sie sprangen über einige Steine, um ans andere Ufer zu gelangen. Franz-Josef sah nasse Sohlenabdrücke auf dem Fels. Der Mensch, den sie verfolgten, hatte erstaunlich kleine Füße. Er fragte sich, ob es ein Kind war und ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn das der Fall war.
Edgar blieb plötzlich stehen. »Da«, sagte er leise.
Franz-Josef blickte über Edgars Schulter. Vor ihnen wurde der Wald dichter und unwegsamer. Sträucher wuchsen zwischen umgestürzten Bäumen, Moos und Farne bedeckten den Boden. Edgar stieß Franz-Josef an und zeigte auf eine große Eiche, die mehr als einen Steinwurf entfernt aus dem Unterholz hoch in den Nachthimmel ragte. Im ersten Moment wusste er nicht, was Edgar dort gesehen hatte, doch dann entdeckte er die Gestalt, die am Stamm emporkletterte.
Der wilde Vampir war nackt und dreckverkrustet. Geschickt und lautlos wie ein Affe sprang er vom Stamm auf einen breiten Ast und lief auf ihm entlang zum nächsten Baum. Sein Blick war nach unten gerichtet, sein Körper so angespannt, dass die Sehnen seines Halses hervortraten.
Franz-Josef suchte zwischen den Sträuchern nach der Beute, die er ausgemacht hatte. Der Geruch des Menschen war stark. Er musste ganz in der Nähe sein, irgendwo unter dem Vampir.
Und dann sah er sie. Wie eine vornehme Dame, die am Sonntag nach der Kirche durch die Stadt flanierte, schlenderte sie durch den Wald. Den Stoff ihres Rocks hatte sie zusammengerafft. Sie schien Nüsse und Beeren darin zu sammeln, denn sie bückte sich immer wieder und legte etwas in die Kuhle, die der Stoff bildete. Im Licht des Vollmonds wirkte ihr Gesicht weiß und so ebenmäßig wie Porzellan. Langes braunes Haar fiel offen über ihren Rücken. Wenn sich der Mond darin fing, sah es aus, als flösse Wasser von ihrem Kopf herab.
Sie ist wunderschön. Es traf ihn wie ein Schlag und es war der einzige Gedanke, zu dem Franz-Josef fähig war. Er starrte sie an, wollte keine Bewegung verpassen, keine Geste übersehen, keinen Blick an etwas anderes als ihr Gesicht verschwenden.
»Hübsches Mädchen«, flüsterte Pierre leidenschaftslos. »Ist schade um sie.«
Edgar brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Nicht reden«, sagte er leise. »Es geht los.«
Franz-Josef ballte die Fäuste, als sich der Vampir erneut in Bewegung setzte. Er hatte das Mädchen fast erreicht, wandte sich aber im nächsten Moment ab und verschwand zwischen den hohen Farnen.
»Ich muss ihr helfen«, flüsterte Franz-Josef.
Edgar und Pierre sahen sich an. Dann, als hätte ihnen die kurze Geste als Absprache gereicht, packten sie ihn an den Armen.
»Lass den Dingen ihren Lauf«, sagte Pierre leise.
Franz-Josef wand sich im Griff der beiden, aber sie waren stärker und älter als er. Edgar presste ihm die freie Hand auf Mund und Nase.
Der wilde Vampir hockte auf einem Ast über den Farnen, hinter denen das Mädchen verschwunden war. Ansatzlos stieß er sich ab. Franz-Josef wehrte sich verzweifelt, kämpfte gegen den Griff seiner Begleiter, trat nach ihren Beinen und warf den Kopf hin und her, um die Hand über seinem Mund abzuschütteln, doch er kam nicht frei.
Ein Sturm schien durch die Farne zu toben, doch nach nur wenigen Lidschlägen beruhigten sie sich wieder. Franz-Josef hörte weder Schreie noch Stöhnen, nur die Stille der Nacht, die sich über den Wald senkte. Es war vorbei.
»Und wir haben nichts gesehen.« Edgar nahm die Hand von Franz-Josefs Mund. »Nur wegen dir.«
»Vielen Dank, Franz.« Pierre trat einen Schritt zurück. »Jetzt darf ich mich erst mal ein paar Nächte mit seiner schlechten Laune herumschlagen.« Er legte Edgar eine Hand auf die Wange. »Willst du vielleicht noch etwas umbringen, Schatz? Ich bin sicher, wir finden einen Rehbock, oder wie wäre es mit dem Pferd hinten auf der Lichtung?«
»Behandle mich nicht wie ein Kind.« Edgar wischte seine Hand beiseite. »Es wird bald Tag. Lass uns gehen. Aber halte die Memme von mir fern, sonst muss sich Sophie einen neuen Speichellecker suchen.«
Franz-Josef stieß ihn so fest an, dass Edgar beinah das Gleichgewicht verlor. »So darfst du nicht mit mir reden. Ich bin der Kaiser.«
Erst als die Worte heraus waren, erkannte er, wie albern sie klangen. Edgar und Pierre schüttelten den Kopf und ließen ihn stehen. Mit langen Sprüngen, schneller und weiter, als es einem Menschen möglich gewesen wäre, kehrten sie auf den Pfad zurück und verschwanden im Wald.
Franz-Josef sah ihnen nach, dann kehrte sein Blick zurück zu den Farnen. Er wollte nicht sehen, was dahinter geschah, aber er spürte den seltsamen Drang, das Mädchen, was dort wohl gerade leer getrunken wurde, zu begraben. Auch wenn er es nur einen Augenblick lang gesehen hatte, so wusste er doch, dass er es seine Existenz lang nicht vergessen würde.
Ich hätte sie retten müssen, dachte er.
Es raschelte. Franz-Josef hob den Kopf. Die Farne bewegten sich, eine Hand schob sie zur Seite, dann trat das Mädchen zwischen ihnen hervor und klopfte sich Tannennadeln und Dreck aus der Kleidung. Franz-Josef wünschte, sein Herz hätte einen Schlag aussetzen können. Es wäre eine der Situation angemessene Reaktion gewesen. Stattdessen starrte er das Mädchen nur stumm an, unternahm nicht einmal den Versuch, sich vor ihm zu verbergen.
Er hat sie verschont, dachte er. Der wilde Vampir hat sie tatsächlich verschont. Er muss das Gleiche in ihr gesehen haben wie ich.
Das Mädchen machte einige Schritte auf ihn zu, entdeckte ihn dann plötzlich und wich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Ihre Hand glitt unter ihren Gürtel und verharrte dort.
»Wer sind Sie?« Ihre Stimme war weich wie das Mondlicht und hell wie der Gesang einer Lerche. Irgendwo weit entfernt röhrte ein Hirsch.
Franz-Josef versuchte, sich locker und unbefangen zu geben. Solange sie den Vampir nicht erwähnte, würde er es auch nicht tun. Vielleicht hatte er sie betört und ihr die Erinnerung an die Begegnung genommen.
»Das Gleiche könnte ich sie auch fragen«, sagte er. »Was macht sie denn hier zu solch später Stunde ganz allein im Wald?«
Das Mädchen nahm die Hand aus dem Gürtel und stemmte sie in die Hüfte. »Was fällt Ihnen ein, mich in der dritten Person anzusprechen? Denken Sie, Sie wären etwas Besseres als ich, nur weil ich mich im Wald verlaufen habe und Nüsse suche, um meinen Hunger zu stillen, oder gehen Sie mit jedem so um, den Sie treffen?«
Franz-Josef trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihre Stimme klang nicht mehr weich, sondern kämpferisch. »Nein, natürlich nicht. Ich habe nur … das ist so eine Angewohnheit … dumme Angewohnheit. Ich …« Etwas in ihm warnte ihn davor, ihr zu verraten, wer er war. Stattdessen streckte er die Hand aus. »Ich bin der Franz. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Sie zögerte, bevor sie seine Hand ergriff. Er spürte Schwielen an ihren Fingern, die nicht zu ihrem Aussehen passten.
»Ich bin die Sissi und so spät ist es gar nicht, eher früh. Die Sonne geht ja schon auf.«
Wie? Sie hatte recht. Der Horizont färbte sich bereits rosa und der Weg zur Residenz war weit. Er musste sich beeilen.
»Da habe ich bei der Jagd glatt die Zeit vergessen.« Franz-Josef hielt Sissis Hand länger als nötig fest, aber sie ließ ebenfalls nicht los. Ihr Blick glitt über sein Gesicht.
»Dann müssen Sie jetzt wohl gehen«, sagte sie. Er hoffte, dass er sich das Bedauern in ihrer Stimme nicht nur einbildete.
»Ja, das muss ich.«
Einige Lidschläge lang standen sie sich schweigend gegenüber, dann ließ Franz-Josef ihre Hand los. »Jetzt, da ich Sie getroffen habe, bedaure ich nicht mehr, die Nacht im Wald verbracht zu haben, ohne dass mir das Jagdglück zuteilgeworden ist.« Errötete sie etwa? Er war sich nicht sicher.
»Und ich bedaure nur ein wenig, dass ich zu dumm war, die Straße nach Bad Ischl zu finden.«
»Bad Ischl? Das ist nur wenige Kilometer entfernt. Sie war also nicht so dumm, wie sie dachte … ich meine, Sie waren also …«
In seiner ganzen Existenz hatte er noch nie einen Menschen anders als in der dritten Person angesprochen, doch das konnte er Sissi kaum sagen.
Sie lachte. »Lassen Sie’s gut sein, Franz. Erklären Sie mir nur, wo ich lang muss, dann verzeihe ich Ihnen auch Ihre seltsame Angewohnheit.«
»Natürlich.« Er erklärte ihr den Weg, dann riss er sich mühsam von ihr los.
»Leben Sie wohl«, sagte er. »Ich hoffe, Sie verlaufen sich bald wieder in dieser Gegend.«
Sie senkte den Kopf und lächelte.
Er wandte sich ab.
Ruf mich zurück!, dachte er. Sag, dass du mich wiedersehen willst.
Er hatte den Bach fast erreicht, als er ihre Stimme hörte.
»Franz?«
Er fuhr herum. »Ja?«
»Mein Vater ist ein passionierter Jäger. Er würde sich sicher freuen, wenn ich ihm bei seinem nächsten Aufenthalt in Bad Ischl die besten Wildwechsel zeigen könnte. Vielleicht wären Sie so nett …« Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen.
Franz-Josef grinste. »Es wäre mir eine Ehre.«
Seine Kleidung dampfte bereits, als er in den Schatten der Schlossmauer eintauchte.
Die Gänge der Residenz waren verlassen, in den Gemächern herrschte Stille. Durch die verhangenen Fenster drang kein Sonnenstrahl ins Innere. Die menschlichen Dienstboten hatten nur unter Aufsicht Zugang zum Haupthaus, die Vampire zogen es vor, unter sich zu sein.
Franz-Josef öffnete die Tür zu seinem Privatquartier und ging ins Schlafzimmer. Er war erschöpft von dem Wettrennen gegen die Sonne, aber zu aufgeregt, um an Schlaf zu denken. Noch nie hatte ihn die Begegnung mit einem anderen Wesen so aufgewühlt. Er wusste nicht, was er fühlte, warum er in Sissi keine Beute, sondern eine Frau sah, aber es gefiel ihm.
Ich will jede Stunde der Nacht mit dir verbringen, dachte er, als er seine Stiefel auszog und die Jacke aufknöpfte, für den Rest meiner Existenz.
Er nahm den Zettel vom Nachttisch, so wie jeden Morgen, bevor er zu Bett ging. Sophie schrieb ihm stets seine Termine für den nächsten Abend auf.
Dort stand in ihrer gestochenen, beinah gedruckt wirkenden Handschrift:
1. Todesurteile unterschreiben (Audienzsaal)
2. Helene kennenlernen (Namen merken!)
3. Ferdinands Chinesen probieren (wenn nötig, lügen)
Franz-Josef knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den erloschenen Kamin. Dann rutschte er unter das breite Bett – eine Spezialkonstruktion, die sich mit einem Hebel hermetisch gegen Tageslicht, Anarchisten und Feuer abdichten ließ – und verschränkte die Arme unter dem Kopf.
Helene, dachte er, ich werde dich nicht heiraten, egal, wie sehr Sophie sich das wünscht.
Die Erinnerung an Sissis Lachen verfolgte ihn bis in den Schlaf.