KAPITEL EINS
An seinem neunundachtzigsten Geburtstag tanzte Ramses der Große vor seinem Volk. Vielleicht war dies der Tag, an dem sich erste Zweifel regten. An dem Männer und Frauen einander flüsternd fragten: »Was für ein Ungeheuer beten wir da an?« Als sie sich schließlich gegen ihren fremden Herrn erhoben, als Echnaton, der letzte menschliche Pharao, die Sonne zum Gott erklärte und ihn anflehte, die Nacht zu vertreiben, war es längst zu spät. Und doch ist sein Name bis heute unvergessen unter denen, die sich dem Widerstand verschrieben haben, die für eine immer noch ahnungslose Menschheit kämpfen und nicht aufgeben werden, bis das letzte Ungeheuer zu Staub zerfallen ist. Sie selbst nennen sich »die Kinder Echnatons«. Ihre Feinde nennen sie »die Pfähler«.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
»Grüß Gott, Prinzessin.«
»Grüß Gott, Frau Huber.«
Sissi zügelte ihr Pferd im Hof des Schlosses, sprang aus dem Sattel und übergab es einem Stallknecht. Der Mann lächelte freundlich und führte die Stute zu den Ställen im hinteren Teil des Hofs. Das Haupthaus lag rechts. Trotz der Morgensonne wirkte es mit seinen dunklen Holzfassaden und den kleinen Fenstern düster. Sissi sah, dass die Eingangstür offen stand, und eilte darauf zu. Wenn sie Glück hatte, erwischte sie ihren Vater noch vor einem seiner morgendlichen Ausflüge.
»War’ns scho zu Besorgungen in Possenhofen, Prinzessin?« Frau Huber stützte sich schwer auf ihren Besen. Sie schien den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als den Hof zu fegen, aber Sissis Vater ließ sie gewähren. Ihr Leben lang hatte sie für die Familie gearbeitet, da würde er sie im Alter nicht fallen lassen.
»Nur ein Telegramm.« Sissi tastete nach dem Stück Papier in ihrer Weste. Ihr Vater musste so schnell wie möglich davon erfahren. Sie wollte weitergehen, aber Frau Huber winkte ab, schien ihre Eile nicht zu bemerken.
»Neimodisch’s Zeig«, sagte sie. »Heut muas immer ois schnell geh’n. Wia mei Onkel Loisl damals vom Schlag troffa worn is, ham wir das erst fünf Joahr später erfahr’n, weil er ja zu dene Preiß’n gangen is und sei Vetter, der Klaus, dann erst wieder in d’ Heimat z’ruck kemma is.«
Sissi nickte und lächelte. »Ich muss jetzt wirklich …«
»Und hat’s uns g’schadt? Naa. Ganz andersrum. Des woar, ois hätt der lieba Herrgott ihn no fünf Joahr leb’n lass’n für uns. ’s is no koana glücklich word’n, der wo schneller schlechte Nachricht’n g’hört hod.«
»Da haben Sie recht.« Sissi nickte erneut. »Ich werd’s dem Papili gleich sagen.«
Wenn ich je zu ihm komme, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Passt scho, Prinzessin.« Frau Huber hob den Zeigefinger wie eine aufgebrachte Lehrerin, obwohl sie in ihrem ganzen Leben keine Schule besucht hatte. Das Kreuz, das sie um den Hals trug, blitzte in der Sonne. »Und sagt’s eahm, in da Bibel kriagt a koana a Telegramm.«
Sissi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also lächelte sie nur. Bevor sie sich abwenden konnte, machte Frau Huber einen Schritt auf sie zu. Erstaunlich schnell streckte sie die Hand aus. Sissi hob instinktiv den Arm, als wolle sie einen Schlag abwehren, ließ ihn jedoch wieder sinken, bevor die alte Frau etwas merkte.
Frau Huber tätschelte ihr mit rauen, groben Fingern die Wange. »Bist a guat’s Kind, Prinzessin. Lass dir von koanam net wos anders sag’n.«
Sissi runzelte die Stirn. »Wer sagt denn was anderes?«, fragte sie, aber Frau Huber winkte nur ab und machte sich daran, weiter den Hof zu fegen. Sissi wollte nachhaken, aber eine hell flötende Stimme unterbrach sie.
»Sissi? Sissi, da bist du ja. Schau doch nur, was die Mutter hat kommen lassen.«
Sie drehte sich um. Helene, ihre ältere Schwester, stand auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür und drehte sich im Kreis. Das Kleid, das sie trug, bauschte sich im Wind. Es hatte die Farbe einer Aprikose und war mit Rüschen besetzt. Helene lachte bei jeder Drehung.
»Oh Néné!«, zwitscherte Sissi zurück. »Wie wundervoll du darin aussiehst. Ich freue mich ja so für dich!«
Frau Huber lächelte, nickte und wollte gerade etwas sagen, doch Sissi kam ihr hastig zuvor: »Das sollten wir gleich dem Va… dem Papili zeigen. Ist er im Haus?«
Helene unterbrach abrupt ihre Drehung, stolperte und musste sich an einem Balken festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Nein, wieso?«, fragte sie zurück. Auf Sissis warnenden Blick räusperte sie sich und flötete: »Der Vater ist mit den Buben zum See gegangen. Er wollte nachschauen, ob die Fische heute beißen.«
Sissi lachte gekünstelt. »Sie beißen doch nie, wenn die Buben dabei sind.«
Scheinbar aufgeregt klatschte Néné in die Hände. »Dann wird er sich umso mehr freuen, wenn wir ihn besuchen. Komm, lass uns gleich loslaufen, bevor die Mutter mir verbietet, das Kleid anzubehalten.«
Sie sprang die breite, geschwungene Steintreppe hinunter, ergriff Sissis Hand und zog sie auf den Weg zu, der am Haus vorbei hinunter zum See führte.
»Wos is der Herr Herzog doch g’segnet, dass er a solcherde Familie hod«, hörte Sissi Frau Huber noch sagen, dann ließen sie den Hof hinter sich.
»Was ist passiert?«, fragte Helene, aber Sissi schüttelte nur den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Das Telegramm ist an Vater gerichtet.« Sissi zog ihre Jacke enger um den Körper. Der Winter war mild, der Schnee fast geschmolzen. Trotzdem war ihr kalt. »Es stammt vom Cousin aus Wien«, fügte sie nach einem Moment hinzu.
Helene schwieg, raffte ihr Kleid zusammen und ging schneller. Sissi folgte ihr den steilen Weg hinunter. An seinem Ende lag ein Steg, der auf den See hinausführte. Das Wasser glitzerte in der Wintersonne. Eisschollen trieben träge dahin. Dazwischen ankerten Boote mit ausgeworfenen Netzen. Der Wind trug vereinzelte Worte zu Sissi herauf. Die Fischer sprachen übers Wetter, den Fang und die kleinen Skandale im Dorf.
»Da ist er«, sagte Helene. Sie zeigte auf einen kleinen Schuppen neben dem Steg.
Herzog Max Joseph saß auf einem Schemel vor der offenen Tür, die Buben standen aufgereiht wie Soldaten vor ihm. Er trug einen langen Wollmantel, aber keinen Hut. Sein Gesicht war rund und gütig, eher das eines Mönchs als eines Feldherrn. Er winkte, als er seine Töchter sah.
Helene winkte zurück. »Er sollte nicht mit ihnen allein sein«, sagte sie. »Das ist zu gefährlich.«
»Ach was.« Sissi sprang über eine Baumwurzel. »Wenn etwas mit ihnen nicht stimmen würde, hätte sich das schon längst gezeigt.«
»Das weißt du nicht.« Helene stieg vorsichtig über die Wurzel. »Niemand weiß es.«
Sissi ging nicht darauf ein. So wie Frau Huber den ganzen Tag den Hof fegte, schienen ihre Schwester und ihre Mutter den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun, als sich Sorgen zu machen. Ihr Vater zog sie deswegen oft auf. Zu Recht, wie Sissi fand.
Ein wenig außer Atem blieb sie vor dem Schuppen stehen.
Die Buben begrüßten sie höflich, zogen sich aber nach einer knappen Geste des Herzogs zum Steg zurück. Dort konnten die Fischer auf den Booten sie sehen, also begannen sie zu spielen und zu lachen, als seien sie ganz normale Kinder.
»Was ist geschehen?«, fragte Herzog Max.
Sissi zog das Telegramm aus ihrer Westentasche. »Es stammt von Vetter Roland.«
Ihr Vater nahm es wortlos entgegen und riss das Kuvert mit dem Daumen auf. Er musste die Augen zusammenkneifen, um den Inhalt zu lesen.
Er wird alt, dachte Sissi. Es war ein erschreckender Gedanke.
Nach einem Moment knüllte ihr Vater das Papier zusammen. »Dieser verdammte Narr«, knurrte er leise. Ein seltsamer Unterton schwang in seinen Worten mit.
»Wer?«, fragte Helene. Sie hatte eine Hand auf ihr Herz gelegt, als wolle sie es beruhigen.
»János.«
»Er hat es getan?«
»Er hat es versucht.« Herzog Max fuhr sich mit dem Zeigefinger über den breiten Schnauzbart. »Alles in seinem Leben hat er nur versucht. Zum Husaren taugte er nicht, zum Schneider nicht und zum Attentäter erst recht nicht. Der Kaiser lebt und er? Er ist tot.«
Sissi erinnerte sich an János, einen unauffälligen kleinen Mann, den Vetter Ronald ihrem Vater empfohlen hatte. Er war zweimal mit ihnen auf die Jagd gegangen, nicht in Possenhofen, sondern an einem Ort, an dem sie keiner kannte. Es hatte ihr gefallen, unter falschem Namen zu reisen, als eine Bürgerliche namens Regina. Nach dem zweiten Jagdausflug war János nicht mehr aufgetaucht.
»Ist er gefoltert worden?«, fragte Néné.
Ihr Vater hob die Schultern. »Wahrscheinlich, aber für uns spielt das keine Rolle. Er hat nichts gewusst, was uns gefährlich werden könnte.« Er schüttelte den Kopf und nahm ein Päckchen Streichhölzer aus der Tasche. »Was für ein Dummkopf.«
Sissi sah zu, wie er das Telegramm verbrannte. Sie hielt es nicht für dumm, sich Kaiser Franz-Josef entgegenzustellen. Zu handeln, anstatt die ganze Zeit nur zu reden und Pläne zu schmieden, die vielleicht nie Früchte tragen würden. Wenigstens hatte János versucht, wovon sie alle träumten. In Sissis Augen war er ein Held, wenn auch ein gescheiterter. Doch das sagte sie nicht. Weder ihr Vater noch ihre Schwester hätten ihr zugestimmt.
»Beeinträchtigt das unseren Plan?«, fragte Néné. Sie klang nervös.
»Das werden wir bald erfahren.« Herzog Max ließ das brennende Telegramm fallen und wischte sich die Hände an der Hose ab. Ein Windstoß trieb die Asche auseinander. »Erst einmal machen wir weiter wie bisher.« Er sah Sissi an. »Wonach steht dir heute der Sinn?«
Sie musste nicht lange überlegen. »Die Beidhänder.«
Néné verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder.«
Ihr Vater lächelte. »Dann geh sie holen. Und vergiss nicht die Kurzschwerter für die Buben«, rief er Sissi nach, die bereits den Weg hinauflief.
Sie winkte, ohne sich umzudrehen.