33
Hüte dich vor den Iden des
März
»Du hast dich also entschlossen, mir noch einmal
einen Besuch abzustatten«, stellte Raymond Jacobs selbstgefällig
fest, als ich erneut sein geräumiges Eckbüro betrat und wie schon
beim letzten Mal auf dem Sofa schräg gegenüber von seinem
Schreibtisch Platz nahm.
Ich nickte, wobei ich als Eingeständnis meiner
Niederlage den Kopf gesenkt hielt.
»Welchem Umstand verdanke ich diese Ehre? Ich hoffe
doch, du hast dir mein Angebot durch den Kopf gehen lassen?«
»Ich …« Ich hob ein wenig den Kopf. Kleinlaut,
unsicher. »Ich halte es nicht mehr aus. Die Webseite, die E-Mails,
die Briefe an meine Nichte …« Ich brach ab, als wäre die quälende
Erinnerung an Hannahs fragende Miene einfach zuviel für mich.
Er erhob sich lächelnd, nickte mitfühlend. »Tja, da
bin ich wohl doch etwas zu weit gegangen …«
Ich sah ihn hoffnungsvoll an, während er zu der
kleinen Bar in der Ecke ging und sich einen klaren, dickflüssigen
Drink eingoss. »Kann ich dir auch etwas anbieten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Er nickte selbstsicher und begab sich mit dem Glas
in der Hand zurück zum Schreibtisch. »Nun, was schlägst du vor? Wie
sollen wir weiter vorgehen?«, fragte er, an die Tischkante gelehnt.
Er tat gerade so, als wäre er hocherfreut darüber, dass er endlich
auf meiner Seite sein konnte. Als wollte er
sagen: Wie schön, dass wir endlich dieselbe Sprache sprechen.
»Sie könnten die Webseite zum Beispiel einfach
sperren lassen und mich nicht weiter behelligen«, schlug ich leise
vor.
Er nippte an seinem Drink, während er sich diese
Möglichkeit durch den Kopf gehen ließ. »Ja, das könnte ich
vermutlich«, gab er nachdenklich zurück. »Das wäre eine Lösung. Aber ehrlich gesagt, bezweifle ich,
dass es die beste wäre.«
Er hatte sichtlich seinen Spaß an der Sache. Er
wusste, er hatte wieder die Oberhand, und er genoss es. Denn so war
er es gewohnt, und nur so hatte er es zu dem Vermögen bringen
können, das er heute besaß.
»Wieso?«, fragte ich scheinbar verwirrt.
In seinen Augen glänzte eine hämische Genugtuung.
Er führte erneut sein Getränk an die Lippen. Es musste bitter
schmecken, denn er verzog das Gesicht beim Schlucken. Dann streckte
er, mit dem Glas noch in der Hand, den Zeigefinger in meine
Richtung aus. »Gute Frage.«
Er stieß sich von der Schreibtischkante ab und kam
auf mich zu, nicht drohend diesmal, sondern langsam, vorsichtig,
doch trotzdem zielsicher, als ginge er auf ein kleines Kind zu, das
sich im Einkaufszentrum verirrt hatte und auf die Hilfe eines
Erwachsenen angewiesen war.
Er blieb vor mir stehen und zeigte auf den Platz
neben mir. »Darf ich?«
Ich sah zu ihm hoch und nickte widerstrebend, um
dann ganz an den Rand zu rutschen. Er nahm am anderen Ende des
Sofas Platz, den Drink in der Hand, den Arm lässig auf die Lehne
gelegt.
»Du willst also wissen, weshalb dein
Lösungsvorschlag nicht der bestmögliche ist«, stellte er
fest.
Am liebsten hätte ich ihm das Knie in die Eier
gerammt und ihm seinen dämlichen Drink über den Kopf gekippt, aber
ich nahm mich zusammen und machte gute Miene zum bösen Spiel. Denn
genau das war es für ihn: ein Spiel. Und ich spielte mit.
Wie meine Strategie es vorsah.
Er sollte hundertprozentig sicher sein, dass er aus
dieser Partie als Sieger hervorgehen würde.
Wie es schien, hatte er nicht das Geringste aus der
Geschichte unserer Bekanntschaft gelernt. Nicht zu fassen
eigentlich, dabei war er ein so erfolgreicher Geschäftsmann, der
seinen klugen Entscheidungen und der Fähigkeit, die Stärken und
Schwächen seiner Mitmenschen richtig einzuschätzen, zweifellos viel
Macht und Reichtum verdankte.
Er hätte wissen müssen, dass Ashlyn eine starke
Gegenspielerin war. Aber er hatte wohl schon verdrängt, dass seine
erste Begegnung mit der geheimnisvollen Ashlyn mit einer Niederlage
seinerseits geendet hatte.
»Ja«, erwiderte ich gespannt.
»Nun«, er warf mir vom anderen Ende des Sofas einen
vielsagenden Blick zu, »eine gute Lösung muss beide betroffenen Parteien zufriedenstellen. Und das
tut dein Lösungsvorschlag leider nicht.«
Ich starrte ihn verwirrt an, mit offenem Mund:
Ich habe keinen blassen Schimmer, was Sie
meinen.
Er grinste herablassend, stieß sogar ein kehliges
Lachen hervor. »Mit anderen Worten …« Er nahm das Glas in die
andere Hand und beugte sich dann über die Couch, die zu unserem
persönlichen Schlachtfeld geworden war. »Es springt nichts für mich
dabei raus.«

Anne Jacobs hatte körperlich wie emotional
erschöpft gewirkt, als sie gestern mit einem großen braunen
Umschlag zu mir ins Wohnzimmer zurückgekehrt war. Sie hatte den
Umschlag fest an sich gedrückt, als fiele es ihr schwer, sich davon
zu trennen. Als wäre er das Einzige, das ihr ein Gefühl von
Sicherheit gegeben hatte.
Ich wartete geduldig ab, obwohl ich sehr an mich
halten musste, um sie nicht mit Fragen zu bestürmen – oder ihr den
Umschlag aus der Hand zu reißen und nachzusehen, was er
enthielt.
Ich wusste, ich durfte sie nicht zur Eile drängen.
Ich musste abwarten, bis sie bereit war. Also wartete ich.
»Ich weiß gar nicht, warum ich das hier überhaupt
aufgehoben habe«, sagte sie leise, den Umschlag noch immer fest
umklammert. »Raymond weiß gar nicht, dass ich es habe.«
Ich nickte, um eine verständnisvolle, mitfühlende
Miene bemüht, und presste die Lippen aufeinander. Wenn ich sie auch
nur einen Spalt breit öffnete, würde sich ein ganzer Schwall Fragen
aus meinem Mund ergießen.
Sie setzte sich wieder auf ihren Platz. »Ich fand
es einfach beruhigend, etwas in der Hand zu haben … Etwas, das mir
eine gewisse Sicherheit bietet. Klingt irgendwie albern,
nicht?«
Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein,
überhaupt nicht.«
Sie zuckte die Schultern, dann nickte sie. »Tja,
ich schätze, so albern war es tatsächlich nicht.«
Ich lächelte, obwohl ich wie auf Nadeln saß. Das
musste sie sein. Meine Rettung. Der Schlüssel für die rostigen
Ketten, die mich an diesen ekligen Kerl und seine üblen
Machenschaften fesselten.
Endlich ließ sie zögernd die Arme sinken,
entspannte die Finger, die den braunen Umschlag hielten.
Es kam mir vor, als wäre sie im Begriff, sich von
einem alten Freund zu trennen. Von der Decke, die sie nachts
gewärmt hatte. Von dem Licht in der Dunkelheit ihres Lebens.
Dann lachte sie unversehens über ihre Naivität,
über ihr kindliches Bedürfnis, sich an etwas zu klammern, von dem
sie sich Schutz und Sicherheit erhofft hatte, denn wie sich
inzwischen herausgestellt hatte, gab es keinen Schutz, keine
Sicherheit. Sie schob den Umschlag über den Tisch. »Wie es
aussieht, haben Sie jetzt etwas in der
Hand.«

Raymond Jacobs war sichtlich zufrieden mit
sich.
Er hatte es geschafft – er hatte mich in sein Netz
aus Intrigen und Illusionen gelockt, und ich hatte mich
hoffnungslos darin verstrickt.
Da saß ich nun verloren auf seinem roten Ledersofa
und war ihm hilflos ausgeliefert. Bereit, mich zu ergeben. Mich ihm
nicht nur im übertragenen Sinn zu ergeben und meine Niederlage zu
akzeptieren.
Diesmal ging der Sieg an ihn.
Diesmal hatte er den Bezwinger bezwungen.
Diesmal hatte er dafür
gesorgt, dass ich mir klein und hilflos
vorkam, genau wie ich es mit ihm getan hatte. Und er kostete seinen
verdienten Triumph in vollen Zügen aus.
Er fischte einen zerknitterten Zettel aus der
Hosentasche, zog angeberisch einen glänzenden silbernen
Kugelschreiber aus der Innentasche seines Sakkos, erweckte ihn mit
einem schwungvollen Klicken zum Leben und kritzelte etwas auf den
Zettel.
»Hier, meine Adresse. Sagen wir um halb elf? Es
sollte nicht allzu spät werden, ich muss morgen gleich in aller
Herrgottsfrühe zu einem Meeting.«
Er reichte mir mit einem Augenzwinkern das Stück
Papier. Zögernd nahm ich das Todesurteil aus seiner widerlichen
Pranke entgegen, und noch während ich versuchte, sein schwarzes
Gekritzel zu entziffern, erhob er sich und streckte mir gönnerhaft
lächelnd die Hand hin, als hätten wir soeben ein Geschäft
abgeschlossen. Als könnte ich nun, da wir uns einig waren, mit
meinen Bauarbeiten oder Investitionen oder was auch immer
loslegen.
Doch anstatt sie zu ergreifen, starrte ich erst die
Hand und dann Raymond Jacobs an und sagte ruhig: »Ich fürchte, Sie
täuschen sich.«
Er grinste amüsiert. »Ach ja? Inwiefern?«
Ich schluckte, als käme mir das, was ich gleich
sagen würde, nur sehr schwer über die Lippen, dabei hatte ich
sehnsüchtig, aufgeregt, atemlos auf diesen Moment gewartet, seit
ich zur Tür hereinspaziert war. »Sie täuschen sich, wenn Sie
glauben, bei meinem Vorschlag würde nichts für Sie
herausspringen.«
Er grinste noch immer. Mein vermeintlicher Versuch,
in letzter Minute einen besseren Deal auszuhandeln, erheiterte ihn.
»Was springt denn für mich dabei raus, meine Liebe?«
»Diskretion«, erwiderte ich sachlich.
Er wirkte einen Augenblick verdutzt, hatte sich
aber gleich wieder im Griff. »Diskretion, hm? Wessen
Diskretion?«
»Meine Diskretion.«
Sein selbstgefälliges Grinsen wich einem Ausdruck
der Verärgerung. Er verdrehte die Augen. »Wovon redest du?«,
knurrte er ungeduldig.
Ich hatte im Gegensatz zu ihm noch jede Menge
Geduld. Genug für ein ganzes Leben. »Vom fünfzehnten März 1989«,
erklärte ich schlicht.

Fünfzehnter März 1989, das war mir gestern auf
dem Zettel, den ich hastig aus Anne Jacobs mysteriösem braunen
Umschlag gezogen hatte, als Erstes ins Auge gesprungen. Und zwar
deshalb, weil es jemand mit Textmarker angestrichen hatte. Genau
wie in jeder der zehn Zeilen darunter. Überall dasselbe Datum –
fünfzehnter März 1989.
»Was ist das?«, fragte ich ratlos. Ich konnte meine
Neugier nicht länger zügeln.
»Sehen Sie sich die markierten Stellen an«, befahl
sie. Das tue ich doch schon, dachte ich
frustriert. Sie ergeben keinen Sinn! Ich
überflog sie zum x-ten Mal und hob dann verzweifelt den Blick. »Das
ist eine Liste von Börsengeschäften, die allesamt am fünfzehnten
März 1989 abgeschlossen wurden.« Ich studierte das Blatt noch
einmal. »Jeweils zehntausend KII-Aktien.«
Anne nickte. »KII steht für Kelen Industries
Incorporated.«
Ich starrte ungläubig auf die Liste. Natürlich! Kelen Industries! Raymond Jacobs
Automotoren-Firma. Seltsam, dass ich die Abkürzung nicht gleich
erkannt hatte, obwohl ich im Zuge meiner Vorbereitungen auf den
Auftrag mehrfach darübergestolpert war. Doch warum war das Datum
von so großer Bedeutung? Und wen interessierte es, wenn Raymond
Jacobs Dokumente besaß, die den Kauf seiner eigenen Aktien
belegten? Dann fiel mir auf, was ganz oben auf der Seite stand. Ich
war so auf die neongelb markierten Zeilen fixiert gewesen, das ich
erst jetzt bemerkte, wem diese sogenannten Ausführungsbestätigungen
gehörten – nämlich einem gewissen Kenneth
Pauley. Hm. Der Name sagte mir nichts.
»Wer ist Kenneth Pauley?«, fragte ich Anne.
Sie lehnte sich zurück und faltete die Hände im
Schoß. Wie friedlich und entspannt sie auf einmal wirkte. Als hätte
man ihr eine gewaltige Last, die sie seit Jahren mit sich
herumschleppte,
von den Schultern genommen. »Einer von Raymonds College-Kumpels.
Die beiden haben zusammen ihren MBA gemacht und hatten angeblich
seit dem Abschluss keinen Kontakt mehr. Aber wie Sie sehen« – sie
wies auf das Blatt in meiner Hand – »entspricht das nicht der
Wahrheit.«
Ich starrte sie skeptisch an. Das war alles? Mehr hatte sie dazu nicht zu sagen?
Ich tappte noch immer im Dunkeln. Sollte ich etwa in das Büro ihres
Mannes marschieren und triumphierend verkünden: »Ha-ha, ich weiß, wer Kenneth Pauley ist! Sie sind
geliefert!« Ich hatte noch immer nichts gegen ihn in der
Hand.
»Das ist noch nicht alles«, bemerkte Anne und
deutete auf den Umschlag, den ich achtlos zur Seite gelegt
hatte.
Ich griff ihn mir und zog drei weitere Zettel
heraus, die dem ersten verblüffend ähnlich sahen. Lauter
Ausführungsbestätigungen, alle datiert auf den fünfzehnten März
1989, und überall war hervorgehoben, dass es sich um Aktienkäufe
von Kelen Industries Incorporated handelte.
Es gab nur einen winzigen Unterschied: Auf jedem
Blatt stand oben ein anderer Name. Lawrence
Wilson, Gary Morningstar, Weston Davidson. »Weitere
College-Kumpels?«, fragte ich.
Anne zuckte die Achseln. »Manche, ja.«
Stöhn. Warum tat sie so
verdammt geheimnisvoll? Warum konnte sie
nicht einfach ausspucken, was diese dämlichen Zettel zu bedeuten
hatten?
Sie schien meinen wachsenden Verdruss zu spüren,
denn sie fragte: »Wissen Sie, was am fünfzehnten März 1989 passiert
ist?«
Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Sie sind bei Ihrer Recherche garantiert darauf
gestoßen«, sagte sie, als wollte sie die Antwort aus mir
herauskitzeln. Als wäre das eine Art Abschlussprüfung. Als würden
meine Karriere
und mein bisheriges Leben auf diese eine
Frage hinauslaufen, und sie, freundlich, wie sie war, gab mir einen
kleinen Tipp. Einen Hinweis auf die Seite im Lehrbuch, auf der die
Antwort zu finden war.
Ich versuchte, mir sämtliche Artikel und
Jahresberichte in Erinnerung zu rufen, die ich im Zusammenhang mit
diesem Auftrag auswendig gelernt hatte, doch die Informationen
verschwammen, vermischten sich mit den unzähligen anderen
Geschäfts- und Jahresberichten, die ich bei jedem einzelnen meiner
Tests gelesen hatte.
Automotoren. Daran erinnerte ich mich. Ich wusste
auch noch, dass Raymond Jacobs unmittelbar nach dem
Universitätsabschluss die Firma seines Vaters übernommen hatte.
Irgendwo war seine Erfolgsstory geschildert worden. Er hatte den
kleinen Fertigungsbetrieb seines Vaters in den riesigen Konzern
verwandelt, dem er heute vorstand, und der große Durchbruch …
»Du lieber Himmel«, stieß ich hervor. Mein Magen
vollführte einen kleinen Salto.
Anne lächelte. Sie wusste, ich war
dahintergekommen. Ich hatte in meinen Gehirnwindungen die
entscheidende Erinnerung aufgespürt und die Antwort erraten.
Und wie jede stolze Lehrerin wusste sie, ich würde
bei der Abschlussprüfung glänzend abschneiden.

Raymond Jacobs fuhr entsetzt zurück. Ich ließ ihn
nicht aus den Augen, beobachtete ausdruckslos und ohne ein einziges
Mal zu blinzeln, wie er plötzlich schwankte.
»Was war denn am fünfzehnten März 1989?« Er
versuchte, seine Panik zu überspielen, doch sie war ihm deutlich
anzusehen.
»Ich habe keine Ahnung, worauf du anspielst.«
»Hmm.« Ich gab mich noch immer schüchtern und
bescheiden. »Seltsam. Man möchte meinen, Sie hätten sich dieses
besondere Datum eingeprägt, dem Sie doch einen beträchtlichen Teil
Ihres Erfolgs verdanken …« Ich wies mit einer Kopfbewegung auf sein
luxuriöses Büro.
Er kniff die Augen zusammen. Mit einem derart
vernichtenden Überraschungsangriff hätte er in einer Million Jahren
nicht gerechnet. Dafür würde er sich zweifellos die kommenden ein,
zwei Millionen Jahre daran erinnern.
»Schließlich war der fünfzehnte März 1989 ein
großer Tag für Sie, nicht, Ray?«, fuhr ich
fort, ohne eine Miene zu verziehen, obwohl ich mich diebisch
freute. Es machte viel mehr Spaß, wenn man den arglosen Detektiv
spielte, der nie und nimmer vermutet hätte,
dass der ehrliche, hart arbeitende Geschäftsmann, der ihm
gegenüberstand, in Wahrheit ein ganz übler Kerl war.
Raymond schüttelte stumm den Kopf.
Also machte ich weiter. Ich war nämlich noch lange
nicht fertig. »Soweit ich mich erinnere, war der fünfzehnte März
1989 der Tag vor dem sechzehnten März 1989, und das wiederum war
ein sehr wichtiger Tag für Ihre Firma.« Ich
legte mir den Finger ans Kinn und tat, als müsste ich angestrengt
nachdenken. »Wenn ich nicht irre, haben Sie am sechzehnten März der
Welt verkündet, dass Kelen Industries, ein bescheidenes kleines
Motorenwerk, mit Ford kooperieren und künftig die Motoren für die
neuen Mittelklassewagen der Ford Motor Company produzieren würde.
Wow!« Ich holte tief Luft und stellte eine beeindruckte Miene zur
Schau.
»Man möchte annehmen, anlässlich dieses bedeutenden Ereignisses hätten Sie am Vorabend –
sprich, am fünfzehnten März 1989 – ordentlich gefeiert, aber ich
könnte mir vorstellen, dass Sie dafür zu beschäftigt waren. Hab ich
recht? Es
dauert schließlich seine Zeit, bis man all
seine alten Kommilitonen ausfindig gemacht und ihnen aufgetragen
hat, noch schnell Zehntausende Aktien von Kelen Industries zu
kaufen, ehe diese große, wichtige Neuigkeit an die Öffentlichkeit
gelangt. Ganz abgesehen von den nervenaufreibenden Verhandlungen,
wer wovon wie viel Prozent bekommt und …«
»Was willst du?«, fauchte Raymond wütend.
Ich überhörte es geflissentlich. »Man nennt mich
gelegentlich einen menschlichen Taschenrechner«, fuhr ich fort.
»Und in der Tat habe ich schon so einige komplizierte Kalkulationen
im Kopf angestellt. Aber mit solchen Zahlen zu rechnen wie in Ihrem
Fall, das ist geradezu schwindelerregend: Zweihunderttausend Aktien
zu je fünf Dollar ergibt bereits ein ganz schön beeindruckendes
Sümmchen. Wenn sich dann aber auch noch binnen eines Jahres der
Aktienpreis verzehnfacht … wow, das wären dann ja sagenhafte …« Ich
hielt inne, tippte ein paar Zahlen in einen unsichtbaren
Taschenrechner. »… zehn Millionen Dollar,
nur an Insiderhandel! Von dem Gewinn, den Sie mit dem Deal auf
legale Weise gemacht haben, mal ganz abgesehen.«
»Was willst du?« Raymond
war sichtlich mit den Nerven am Ende.
Ich erhob mich und sah ihm in die Augen. Keine Spur
von Angst oder Unterlegenheit mehr. »Sie wissen ganz genau, was ich
will«, sagte ich fest. Mehr gab es dazu auch nicht zu sagen.
Also zog ich vondannen, wobei ich darauf achtete,
die Tür nicht hinter mir zuzuknallen. Schließlich hatte ich die
heile Welt des lieben Raymond heute schon genügend erschüttert, und
wer hat es schon gern, wenn mit Türen geknallt wird?