20
Flugzeuge... nicht nur im Bauch
»Du liebe Zeit.« Nachdem ich ihr die grauenhaften Details meines Besuchs bei Raymond Jacobs geschildert hatte, saß Sophie noch eine ganze Weile reglos da.
»Und, was hast du gesagt?«, wollte sie schließlich so gespannt wissen, als würde sie das Episodenfinale von 24 gucken. Was bei der Fülle an Dramen, die sich derzeit in meinem Leben ereigneten, gar nicht so weither geholt war.
Ich sah auf den Boden, wo Sophies Katze Pollo mit einem Faden spielte, der an einem Stab befestigt war. »Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Er weiß, wer meine Mutter ist, er weiß, wo sie wohnt und was sie so treibt. Wenn ich nicht tue, was er von mir verlangt, dann wird er dafür sorgen, dass sie...« – ich schluckte – »... alles herausfindet«, schloss ich leise. Schon bei dem Gedanken wurde mir übel.
»Also du hast es nicht getan?«, hakte sie nach.
»Nein, natürlich nicht!« Ich holte tief Luft. »Noch nicht.«
»Jen!«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Hat er dir ein Ultimatum gestellt?«
Ich starrte resigniert geradeaus. »So was in der Art. Er meinte, ich solle es mir durch den Kopf gehen lassen.« Ich schauderte. »Schon die Vorstellung ist einfach gruslig.«
»Hat er vor, solange die Webseite sperren zu lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das glaube ich kaum.«
»Und bis wann musst du dich entscheiden?«
»Bis in zwei Wochen.« Ich schloss die Augen.
»Und was dann? Dann zerstörst du dich selbst, oder wie?«, scherzte sie.
»Dann werde ich wohl ein größeres Boot brauchen«, sagte ich wie Richard Dreyfuss, als er im Film zum ersten Mal den weißen Hai erblickt.
Sophie nickte zustimmend.
»Ich muss mir schon vorher etwas einfallen lassen, sonst kommt womöglich jemand dahinter. Jamie zum Beispiel. Oder schlimmer noch … meine Mutter! Wenn seine Lakaien herausgefunden haben, wo sie wohnt, ist es bestimmt auch kein Problem für sie, ihre E-Mailadresse auszuspionieren.«
»Deine Mutter hat eine E-Mailadresse?«
»Mhm. Seit der Scheidung ist sie ganz wild darauf, technisch versierter zu werden.«
»Wow. Meine Mom kann gerade mal den DVD-Player bedienen.«
Ich seufzte brunnentief und stützte den Kopf in die Hände. »Es ist hoffnungslos.«
Sophie rieb mir den Rücken »Schhh. Alles wird gut. Uns fällt schon noch etwas ein.«
Mir wurde bewusst, wie sehr ich es vermisst hatte, mich von Sophie trösten zu lassen. Sie war diesbezüglich sehr begabt. Wie gut, dass sie endlich Bescheid wusste.
»Was hältst du davon, deiner Mutter einfach alles zu erzählen?«, schlug sie nachdenklich vor.
Ich hob den Kopf und warf ihr einen Blick zu, der ausdrückte: Bist du von allen guten Geistern verlassen?
Sie fuhr unbeeindruckt fort. »Wenn sie Bescheid weiß, musst du dir keine Sorgen mehr machen, was für E-Mails sie womöglich erhält und von wem.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das halte ich für keine gute Idee.«
»Denk einfach mal darüber nach«, beharrte Sophie. »Es war doch bestimmt auch äußerst mühsam, die Sache vor mir um jeden Preis geheim zu halten, aber jetzt weiß ich es und habe mich damit abgefunden. Und bist du nicht froh, dass es so gekommen ist?«
Ich überlegte. »Das schon, aber …«
»Vielleicht reagiert deine Mutter ja genauso. Vielleicht musst du es ihr bloß …«
»Nein«, unterbrach ich sie. Ich wollte es nicht hören, hätte den verstörenden Gedanken am liebsten aus meinem Gehirn verbannt. »Sie hat drei Jahre gebraucht, um die Scheidung zu verkraften und ihr Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. Wie soll ich ihr beibringen, dass ich mir meinen Lebensunterhalt damit verdiene, landesweit Ehen zu zerstören? Das könnte sie nie und nimmer nachvollziehen. Und alles andere auch nicht.«
Sophie nickte und gab sich geschlagen. »Okay. Aber hör mal, viele Leute öffnen diese weitergeleiteten E-Mails gar nicht. Ich jedenfalls nicht. Ich lösche sie sofort, schon, weil sie mich ärgern.«
»Träum weiter. Meine Mutter liebt weitergeleitete E-Mails. Sie liest jeden noch so unwichtigen Mist. Sie registriert sich sogar für alle möglichen Newsletter, nur um von ihrem Computer den magischen Satz ›Sie haben E-Mail‹ zu hören.«
Ich hob das Katzenspielzeug vom Boden auf und wedelte mit dem Stab, sodass die Schnur wild durch die Luft tanzte. Pollo schlug neugierig mit der Pfote danach. »Ganz abgesehen davon kann ich meinen Job bald an den Nagel hängen, wenn dieses verdammte E-Mail weiter um den Globus geschickt wird.«
Sophie lehnte sich zurück. »Tja. Ich kann jetzt aussprechen, was uns beiden durch den Kopf geht und was wir beide nicht aussprechen wollen, oder ich halte den Mund und warte ab, bis du von allein darauf kommst.«
Ich sah sie erwartungsvoll an. »Worauf denn?«
»Hör auf und such dir einen neuen Job.«
Da war er, der rettende Gedanke, baumelte lockend vor meiner Nase wie die Schnur an der Katzenangel, und bettelte förmlich darum, von mir in Erwägung gezogen zu werden. Der Gedanke, den ich seit fast einem Monat erfolgreich verdrängte. »Ich soll aufhören?«
Aufhören. Aufhören. Aufhören.
Alles hinschmeißen. Von vorn anfangen. Ich hatte gelegentlich flüchtig daran gedacht, so wie andere Leute leichthin behaupten, sie wollten einen Roman schreiben oder einen Tanzkurs machen. Und genau so, wie alle ihre Bekannten wissen, dass es nie so weit kommen wird, hatte ich immer gewusst, dass ich weit davon entfernt war, aufzuhören.
Bis heute.
»Und was dann?«
Sophie sah mich mit großen Augen an. Sie wirkte überrascht, dass ich ihre Anregung wirklich ernst nahm. »Also …« Mein Dilemma spiegelte sich offenbar in meiner Miene wider. »Wie viel Geld hast du denn auf der hohen Kante?«
Ich zuckte die Schultern. »Für ein paar Monate würde es bestimmt reichen. Aber ich müsste vermutlich aus meiner Wohnung ausziehen.«
Sophie nickte. »Vermutlich, ja.«
»Außerdem wüsste ich nicht, was ich sonst tun sollte. Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin ohne diesen Job. Das war zwei Jahre lang mein Leben, und inzwischen bin ich ein völlig neuer Mensch. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ist ja nicht unbedingt so, als gäbe es im Buchhandel einen Ratgeber mit dem Titel Umschulung für Treuetesterinnen – So finden Sie den richtigen Job
Sophie lachte leise. »Du könntest wieder ins Investment Banking einsteigen.«
»Pfff. Wie passend. Super Idee.«
»Also, falls du wirklich aufhörst«, sagte sie leichthin,
»dann sieh aber zu, dass du vorher noch meinen Auftrag erledigst!«
Ich lachte, obwohl mir nach Weinen zumute war. »Okay.« Ich erhob mich und blickte mutlos zur Tür. »Tja, dann geh’ ich mal nach Hause und leg’ mich ins Bett.«
»Okay.«
Ich breitete die Arme aus und drückte sie kräftig an mich. »Danke«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Sie machte sich von mir los. »Wofür? Ich habe doch gar nichts getan.«
»Doch, glaub mir, das hast du«, versicherte ich ihr.
 
Am nächsten Abend stand Jamie Richards zur vereinbarten Zeit bei mir auf der Matte. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde sich wieder telefonisch ankündigen, damit ich wie beim letzten Mal rasch hinunterlaufen konnte. Ich hatte nämlich noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob ich inzwischen bereit war, ihn in meine Wohnung zu lassen. Aber diese Frage erübrigte sich nun ohnehin – wie sähe es aus, wenn ich ihn mit einem kurzen »Bin gleich so weit« im Hausflur warten ließ, bis ich meinen Kram beisammen hatte?
Also zwang ich mich zu einem breiten Lächeln, um mein Unbehagen zu kaschieren, als ich ihm die Tür öffnete. »Hi! Komm doch rein.«
Er küsste mich gleich auf die Wange und machte mir ein Kompliment für mein Aussehen.
Ich lief wieder einmal rot an und bedankte mich.
»Ah, das ist also deine Wohnung«, stellte er fest und trat ein, wobei er anerkennend nickte. »Nicht übel. Du hast es wohl ganz schön weit gebracht. Sie ist sehr … weiß.«
Ich kicherte. »Ja, ich … äh … ich mag Weiß.«
»Ich glaube, der politisch korrekte Ausdruck dafür lautet farblich unauffällig.«
»Ähm, ich brauche noch eine Minute, also …« Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals. »Fühl dich wie zu Hause«, würgte ich hervor.
Ich huschte ins Schlafzimmer und holte meine weiße Chanel-Handtasche aus dem Schrank. Ein letzter Blick in den Spiegel. Ich trug einen knielangen schwarzen Rock in A-Form und ein schwarz-weiß gestreiftes Top mit Dreiviertelärmeln und U-Boot-Ausschnitt. Die Haare hatte ich mir zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Kleine silberne Reif-Ohrringe und schwarze Pumps von Michael Kors mit mattsilbernen Schnallen vervollständigten das Ensemble. Ich fand, in Anbetracht der Tatsache, dass ich ansonsten nicht gerade stilsicher bin, konnte ich stolz auf mich sein.
Als ich zurückkehrte, spazierte Jamie im Wohnzimmer auf und ab und sah sich ungezwungen um. Ich blieb angespannt im Korridor stehen und beobachtete, wie er da und dort ein Detail in Augenschein nahm, vor dem Fernseher stehen blieb und zustimmend nickte, dann in die Essecke schlenderte und mit den Fingerspitzen leicht über die Lehnen der Holzstühle strich. Erst fand ich seine Anwesenheit so unerträglich, dass ich den Drang verspürte, ihn auf der Stelle hinauszukomplimentieren. Doch als er zum Kamin ging, um die gerahmten Fotos zu betrachten, die dort auf dem Sims standen, machte sich plötzlich ein ganz anderes Gefühl in mir bemerkbar.
Ein völlig neues, unbekanntes Gefühl.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er das Foto von meiner Mutter und mir studierte, das vor einigen Jahren auf einer Kreuzfahrt entstanden war. Dann wandte er sich einem Schnappschuss von Sophie, Zoë, John und mir in Jayes Martini Lounge zu. Und da wurde mir etwas klar.
Jamie war der erste Mann, der je meine Wohnung betreten hatte (von John einmal abgesehen). Natürlich war ich nie mit einem meiner Testobjekte hier gewesen, und da meine letzte Verabredung Jahre her war, auch mit keinem anderen Mann.
Jamie war der erste.
Und mit einem Schlag verursachte es mir kein Unbehagen mehr, dass er hier war und mein Leben in Augenschein nahm.
Es fühlte sich … goldrichtig an.
So etwas hatte ich noch nie zuvor empfunden. Es war eine Art Stechen oder Ziehen. Warm und wohlig, zugleich aber auch beängstigend.
Es ließ nicht nach, als wir meine Wohnung verließen.
Es ließ auch dann nicht nach, als wir in Jamies Auto stiegen und in Richtung Wilshire Boulevard fuhren.
Im Gegenteil. Auf dem Weg zu dem französischen Nobelrestaurant, in das er mich zum Dinner ausführte, um mir zu zeigen, dass er sich nicht nur von Hotdogs und Cola ernährt, und auch während des Essens wurde das Gefühl immer intensiver. Als das Dessert serviert wurde, wusste ich nicht mehr, was zum Teufel mit mir los war. Es kam mir vor, als hätte jemand ein Dutzend Kolibris in meinem Bauch freigelassen, und dort schwirrten sie nun unablässig herum.
 
Kurz darauf lagen wir mit Blick auf die Runway des Flughafens von Santa Monica auf der Kühlerhaube von Jamies Jaguar und sahen den kleinen Düsen- und Propellerflugzeugen beim Landen zu.
Er hielt meine Hand, und unsere Beine lagen so nah nebeneinander, dass sie sich berührten, sobald sich einer von uns auch nur einen Zentimeter bewegte. Die Luft war kühl, aber ich bemerkte es kaum. Mir war so warm wie noch nie.
»Also, Flugzeuge, ja?«, stellte ich amüsiert fest.
»Ich dachte, sie könnten so eine Art Motto für uns sein«, erwiderte er und drückte meine Hand.
Ich lächelte in den Himmel. »Klingt einleuchtend.«
Er drehte sich zu mir. »Erzähl mir von deiner Arbeit.«
Ich starrte weiter in den Himmel. Ich konnte ihn nicht ansehen. Nicht, wenn ich eine Frage wie diese beantworten sollte. Nicht, wenn ich ausgerechnet den Menschen anlügen musste, den ich am allerwenigsten anlügen wollte.
Was hätte ich darum gegeben, ihm die Wahrheit sagen zu können! So offen und ehrlich sein zu können wie er – und ich wusste, das war er vom ersten Augenblick an gewesen. Ich wollte ihm alles erzählen. Alles über Raymond Jacobs und seine Erpressungsmethoden, über Andrew Thompson und seine Schwäche für trinkfeste Stewardessen, über Parker Colmans Versuch, mich »umzustimmen«, über Sarah Millers Roboterfassade, sogar über Sophie, meine beste Freundin, und ihre unmögliche Bitte. Und nicht zuletzt über Miranda Keyton und meinen ersten unfreiwilligen Treuetest.
Es war unmöglich, ihn anzulügen. Vor allem, wenn ich so neben ihm lag, seine Hand hielt und den Privatjets zusah, die über uns vorbeizogen.
Okay, fast unmöglich.
»Was möchtest du denn wissen?«, fragte ich beiläufig.
»Na, du hast doch erzählt, du bist im Investment Banking. Was genau machst du da so?«
Ich zuckte die Achseln. »Alles Mögliche.«
»Hör auf! Zu viele Details. Ich habe genug gehört.«
Ich lachte. »Ach, das Übliche eben. Fusionen und Übernahmen und feindliche Übernahmen, Private Equity, Risikomanagement.«
»Wow, du bist ja ein richtiger Tausendsassa.«
»M-hm.« Themenwechsel! »Was ist mit dir? Erzähl mir von deinem Job.«
Ich wünschte mir nichts weiter, als ich selbst sein zu dürfen, und es frustrierte mich unendlich, dass das nicht möglich war.
Jamie sah mich verdutzt an, spürte offenbar mein Unbehagen. Was hat diese Frau bloß für ein Problem? Warum spricht sie so ungern über ihre Arbeit? Doch er fragte nicht nach.
»Wir werden von Firmen engagiert, die zum Beispiel eine neue Marketingstrategie oder ein neues Logo brauchen oder auf der Suche nach neuen Wegen sind, um ihre Zielgruppe anzusprechen.«
Ich wandte den Kopf und lächelte ihn an. »Klingt interessant.«
Er nickte. »Ist es auch … meistens jedenfalls.«
Wir schwiegen eine Weile, während ein weiteres Flugzeug über uns vorbeidröhnte. »Glaubst du, die Leute da oben haben auch vier Stunden auf der Landebahn in Palms Springs verbracht?«, fragte ich, den Blick in den Himmel gerichtet.
»Auf keinen Fall. Diese Landebahn ist für uns reserviert.«
Ich lächelte. »Hast du schon mal von einer Flugzeugtüte gehört?«
»Meinst du diese Papierdinger, in die man sich übergibt?«
Ich lachte und verpasste seinem Bein einen Klaps. »Nein, eine Tüte mit allerhand Kleinigkeiten drin. Für den Flug.«
»Kleinigkeiten für den Flug?«, wiederholte er verwirrt.
»Genau. Etwas zu knabbern, ein Reisespiele-Set, Quartettkarten, Knetmasse und so. Ich habe es geliebt, für mich und meine Eltern solche Tüten zusammenzustellen, bevor wir auf Reisen gingen. Sobald von Urlaub die Rede war, fing ich an, für jeden von uns eine Flugzeugtüte zu packen.«
»Ah, es hatte also jeder seine persönliche Tüte?«
Ich nickte stolz. »Natürlich. Ich war ein richtiger Profi. Quasi die Flugzeugtütenexpertin.«
Schweigen. Dann sagte er: »Findest du es seltsam, dass ich an dich gedacht habe?«
Ich musste lächeln. »Kommt darauf an, wie. Ich meine, als du an mich gedacht hast, hast du mich da auf einem Elefanten durch die Wüste reiten sehen, begleitet von einem Clown und einer Cheerleaderin? Das fände ich in der Tat seltsam.«
Jamie nickte grinsend, dann wurde er wieder ernst. »Nein, ich meinte damit, dass ich … oft an dich gedacht hab.«
Ich sah ihm in die Augen und hätte so gern etwas erwidert. Hätte ihm so gern gesagt, dass ich auch an ihn gedacht hatte. Aber damit waren so viele andere Wahrheiten verbunden. Zum Beispiel: »Ich hab an dich gedacht, weil ich nicht will, dass du erfährst, was ich beruflich mache.« »Ich hab an dich gedacht, weil ich schreckliche Angst davor habe, dass du es herausfindest und dann nichts mehr von mir wissen willst.« Und natürlich die Allerneueste: »Ich hab an dich gedacht, weil ich alle zwei Minuten überlege, ob ich alles hinter mir lassen soll – den Job, das Geld, die Betrüger, die Mission, das Misstrauen … einfach alles … deinetwegen.«
Doch das Einzige, das mir über die Lippen kam, war: »Nein, das finde ich gar nicht seltsam.«
Und das stimmte auch. Genau das wollte ich hören. Zugleich wollte ich es aber auch nicht hören. Wie einfach wäre mein Leben, wenn es Jamie gar nicht gäbe? Wenn ich ihn nie kennengelernt hätte? Oder wenn er beschlossen hätte, dass es für ihn mit einer Frau, die ihm alle Frosties vor der Nase wegschnappt, keine Zukunft gibt?
Er beugte sich über mich, um mich zu küssen. Es war genauso unglaublich, wie ich es in Erinnerung hatte. Möglicherweise sogar noch unglaublicher. Im Hintergrund das Gedudel seines Autoradios, vermischt mit dem Brummen des nächsten sich nähernden Düsenjets. Der Kuss dauerte eine halbe Ewigkeit, und doch wollte ich noch mehr, als er vorbei war.
»Ich hab auch an dich gedacht«, hörte ich mich sagen, als er sich von mir löste und den Kopf wieder auf der Kühlerhaube ablegte. Ich wusste nicht, woher es gekommen war oder ob ich je wieder etwas auch nur annähernd Ähnliches von mir geben würde, aber es hatte gut getan.
Er sah mich an und lächelte. Dann küsste er mich erneut. Diesmal presste er sich an mich, und ich hatte das Gefühl, die unglaubliche Hitze, die sein Körper durch die Kleider hindurch ausstrahlte, könnte mich im Nu schmelzen lassen.
Sterne waren an diesem Abend keine zu sehen – nicht, dass es hier überhaupt je welche zu sehen gäbe. Zu viel Smog, zu viele helle Lichter. Aber ich konnte nicht behaupten, dass ich sie in diesem Augenblick vermisst hätte.
 
Hinterher begleitete mich Jamie noch zur Haustür.
»Danke, dass du den Abend mit mir verbracht hast«, murmelte er und hauchte mir einen Kuss auf den Mund.
Ich schloss die Augen, während ein Kribbeln von meinem Körper Besitz ergriff.
Er wich zurück, gerade so weit, dass er mir in die Augen sehen konnte, und flüsterte: »Ich mag dich.«
Ich schluckte schwer. »Lass das lieber bleiben«, hörte ich mich leise sagen. Ich hatte gehofft, ich hätte es nur gedacht, aber offenbar war es mir doch herausgerutscht.
Er küsste mich zärtlich auf den Hals. »Und warum?«
Weil ich eine Heuchlerin bin. Weil ich dir etwas vorspiele.
Diesmal gelang es mir, meine Gedanken für mich zu behalten. Und dann sagte ich das Einzige, was mir stattdessen in den Sinn kam: »Möchtest du noch mit reinkommen?«
Als er zögerte, fügte ich aus reiner Panik hinzu: »Auf einen Drink, meine ich.« Seltsam. Plötzlich wurde mir klar, dass ich das sonst nie sage. Möchtest du noch mit reinkommen? Meine Regel besagt, dass ich auf die Einladung warten muss, und daran halte ich mich. Ich initiiere nicht, ich reagiere.
Jetzt hatte sich alles ins Gegenteil verkehrt. Ich lechzte danach, dass er meine Einladung annahm. Keine Spur von Unbehagen mehr bei der Vorstellung, ihn in meine vier Wände zu lassen. In mein Leben. Im Gegenteil. Ich hätte ihn am liebsten eingesperrt und nie mehr gehen lassen.
»Das wäre wohl keine so gute Idee«, murmelte er. Es klang gequält. Als würde ihn etwas daran hindern, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als meiner Einladung zu folgen. »Es sei denn, du hast eine Flasche Macallan da drin.«
Ich lachte, erleichtert darüber, dass er seine Zurückweisung mit einem Scherz kaschierte.
»Erwartest du wirklich, dass ein achtundzwanzig Jahre altes Mädchen einen fünfundzwanzig Jahre alten Scotch zu Hause hat?«
»Womit endlich geklärt wäre, wie alt du bist«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Viel zu jung für mich.«
»Ich weiß«, scherzte ich. »Ich finanziere praktisch deine Rente.«
»Uh, das ist heiß.« Er küsste mich noch einmal und schmiegte dann das Gesicht in meine Halsbeuge.
Ich umarmte ihn, fuhr ihm mit den Fingern sanft durch die dunkelbraunen Nackenhaare. Sie fühlten sich weich an auf meiner Haut.
Würde er noch etwas sagen, oder würde er es bei »Das wäre wohl keine so gute Idee« belassen? Eine Aussage wie diese bedurfte doch eigentlich einer Erklärung, aber ich hatte keine Lust, nachzubohren. Kein Wunder – ich hatte einen Korb bekommen, und das war definitiv ein Novum für mich. Und nicht unbedingt ein angenehmes.
Er hob den Kopf. »Ich mag dich sehr, Jen. Aber ich finde, wir sollten es langsam angehen.«
Langsam angehen?, wiederholte ich im Stillen. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Es gab Männer, die es langsam angehen wollten? In meiner Welt wollten die Typen nach zwei Stunden Flirten mit mir ins Bett gehen. Manchmal nach drei. Manchmal auch schon nach einer halben Stunde. Mein Verständnis von es langsam angehen war zwanzig Minuten knutschen, ehe er mir an die Wäsche wollte.
Aber ich wusste natürlich, das war nicht die Norm. Also sagte ich: »Klingt vernünftig.«
Er nickte und lächelte sichtlich erleichtert. »Ich möchte nichts überstürzen. Ehrlich gesagt, habe ich den Eindruck« – er tippte mir ans Kinn – »aus uns könnte was Ernstes werden.«
Ich kicherte mädchenhaft. »Ach, echt?«, fragte ich amüsiert.
Jamie hob eine Augenbraue. »Jawohl.« Er drückte mir einen Kuss auf die Lippen. »Ich muss kommende Woche beruflich nach New York, aber ich möchte dich sehen, sobald ich wieder da bin.«
Ich zuckte kühl die Achseln. »Ich weiß nicht recht. Allmählich ödest du mich an.«
Jamie sah mich bittend an.
»Also gut. Und wann?«
Er tat, als würde er seine Taschen nach etwas absuchen. »Mist, ich habe meinen Organizer nicht dabei. Ich melde mich deswegen noch bei dir.«
Ich lachte, schubste ihn in Richtung Aufzug, so dass er taumelte, und begann in meiner Handtasche nach dem Schlüsselbund zu wühlen. »Mach dich vom Acker, du!«
»Ich werd meine Sekretärin konsultieren und ihr sagen, sie soll sich mit deiner Assistentin in Verbindung setzen. Du hast doch eine Assistentin, oder?«
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. »Na, klar. Wir sehen uns dann irgendwann zum Lunch.«
Er kam noch einmal angerannt, um mir einen allerletzten Kuss zu geben. »Bye.« Dann sah er zu, wie mein Gesicht hinter der Tür verschwand.
Drinnen blieb ich stehen, die Stirn an die Tür gelehnt. Das ist doch verrückt, dachte ich. Niemand verliebt sich so blitzartig. Schon gar nicht ich. Ich dürfte mich von Rechts wegen überhaupt nicht verlieben – es ist mein Job, Distanz zu wahren, was auch immer geschieht.
Was war nur los mit mir? Warum fühlte ich Dinge, die ich nicht hatte fühlen wollen, niemals? Die ich mir geschworen hatte, nicht zu fühlen?
Weil ich überzeugt gewesen war, dass es völlig sinnlos war.
So kann man sich täuschen.
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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