20
Flugzeuge... nicht nur im
Bauch
»Du liebe Zeit.« Nachdem ich ihr die grauenhaften
Details meines Besuchs bei Raymond Jacobs geschildert hatte, saß
Sophie noch eine ganze Weile reglos da.
»Und, was hast du gesagt?«, wollte sie schließlich
so gespannt wissen, als würde sie das Episodenfinale von 24 gucken. Was bei der Fülle an Dramen, die sich
derzeit in meinem Leben ereigneten, gar nicht so weither geholt
war.
Ich sah auf den Boden, wo Sophies Katze Pollo mit
einem Faden spielte, der an einem Stab befestigt war. »Ich wusste
nicht, was ich sagen sollte. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Er
weiß, wer meine Mutter ist, er weiß, wo sie wohnt und was sie so
treibt. Wenn ich nicht tue, was er von mir verlangt, dann wird er
dafür sorgen, dass sie...« – ich schluckte – »... alles
herausfindet«, schloss ich leise. Schon bei dem Gedanken wurde mir
übel.
»Also du hast es nicht getan?«, hakte sie
nach.
»Nein, natürlich nicht!« Ich holte tief Luft. »Noch
nicht.«
»Jen!«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Hat er dir ein Ultimatum gestellt?«
Ich starrte resigniert geradeaus. »So was in der
Art. Er
meinte, ich solle es mir durch den Kopf gehen lassen.« Ich
schauderte. »Schon die Vorstellung ist einfach gruslig.«
»Hat er vor, solange die Webseite sperren zu
lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das glaube ich
kaum.«
»Und bis wann musst du dich entscheiden?«
»Bis in zwei Wochen.« Ich schloss die Augen.
»Und was dann? Dann zerstörst du dich selbst, oder
wie?«, scherzte sie.
»Dann werde ich wohl ein größeres Boot brauchen«,
sagte ich wie Richard Dreyfuss, als er im Film zum ersten Mal den
weißen Hai erblickt.
Sophie nickte zustimmend.
»Ich muss mir schon vorher etwas einfallen lassen,
sonst kommt womöglich jemand dahinter. Jamie zum Beispiel. Oder
schlimmer noch … meine Mutter! Wenn seine Lakaien herausgefunden
haben, wo sie wohnt, ist es bestimmt auch kein Problem für sie,
ihre E-Mailadresse auszuspionieren.«
»Deine Mutter hat eine E-Mailadresse?«
»Mhm. Seit der Scheidung ist sie ganz wild darauf,
technisch versierter zu werden.«
»Wow. Meine Mom kann gerade mal den DVD-Player
bedienen.«
Ich seufzte brunnentief und stützte den Kopf in die
Hände. »Es ist hoffnungslos.«
Sophie rieb mir den Rücken »Schhh. Alles wird gut.
Uns fällt schon noch etwas ein.«
Mir wurde bewusst, wie sehr ich es vermisst hatte,
mich von Sophie trösten zu lassen. Sie war diesbezüglich sehr
begabt. Wie gut, dass sie endlich Bescheid wusste.
»Was hältst du davon, deiner Mutter einfach alles
zu erzählen?«, schlug sie nachdenklich
vor.
Ich hob den Kopf und warf ihr einen Blick zu, der
ausdrückte: Bist du von allen guten Geistern verlassen?
Sie fuhr unbeeindruckt fort. »Wenn sie Bescheid
weiß, musst du dir keine Sorgen mehr machen, was für E-Mails sie
womöglich erhält und von wem.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das halte ich für keine
gute Idee.«
»Denk einfach mal darüber nach«, beharrte Sophie.
»Es war doch bestimmt auch äußerst mühsam, die Sache vor mir um jeden Preis geheim zu halten, aber jetzt weiß
ich es und habe mich damit abgefunden. Und bist du nicht froh, dass
es so gekommen ist?«
Ich überlegte. »Das schon, aber …«
»Vielleicht reagiert deine Mutter ja genauso.
Vielleicht musst du es ihr bloß …«
»Nein«, unterbrach ich sie. Ich wollte es nicht
hören, hätte den verstörenden Gedanken am liebsten aus meinem
Gehirn verbannt. »Sie hat drei Jahre
gebraucht, um die Scheidung zu verkraften und ihr Leben wieder
einigermaßen in den Griff zu bekommen. Wie soll ich ihr beibringen,
dass ich mir meinen Lebensunterhalt damit verdiene, landesweit Ehen
zu zerstören? Das könnte sie nie und nimmer nachvollziehen. Und
alles andere auch nicht.«
Sophie nickte und gab sich geschlagen. »Okay. Aber
hör mal, viele Leute öffnen diese weitergeleiteten E-Mails gar
nicht. Ich jedenfalls nicht. Ich lösche sie sofort, schon, weil sie
mich ärgern.«
»Träum weiter. Meine Mutter liebt weitergeleitete E-Mails. Sie liest jeden noch
so unwichtigen Mist. Sie registriert sich sogar für alle möglichen
Newsletter, nur um von ihrem Computer den magischen Satz ›Sie haben
E-Mail‹ zu hören.«
Ich hob das Katzenspielzeug vom Boden auf und
wedelte mit dem Stab, sodass die Schnur wild durch die Luft tanzte.
Pollo schlug neugierig mit der Pfote danach. »Ganz abgesehen
davon kann ich meinen Job bald an den Nagel hängen, wenn dieses
verdammte E-Mail weiter um den Globus geschickt wird.«
Sophie lehnte sich zurück. »Tja. Ich kann jetzt
aussprechen, was uns beiden durch den Kopf geht und was wir beide
nicht aussprechen wollen, oder ich halte den Mund und warte ab, bis
du von allein darauf kommst.«
Ich sah sie erwartungsvoll an. »Worauf denn?«
»Hör auf und such dir einen neuen Job.«
Da war er, der rettende Gedanke, baumelte lockend
vor meiner Nase wie die Schnur an der Katzenangel, und bettelte
förmlich darum, von mir in Erwägung gezogen zu werden. Der Gedanke,
den ich seit fast einem Monat erfolgreich verdrängte. »Ich soll
aufhören?«
Aufhören. Aufhören.
Aufhören.
Alles hinschmeißen. Von vorn anfangen. Ich hatte
gelegentlich flüchtig daran gedacht, so wie andere Leute leichthin
behaupten, sie wollten einen Roman schreiben oder einen Tanzkurs
machen. Und genau so, wie alle ihre Bekannten wissen, dass es nie so weit kommen wird, hatte ich
immer gewusst, dass ich weit davon entfernt war, aufzuhören.
Bis heute.
»Und was dann?«
Sophie sah mich mit großen Augen an. Sie wirkte
überrascht, dass ich ihre Anregung wirklich ernst nahm. »Also …«
Mein Dilemma spiegelte sich offenbar in meiner Miene wider. »Wie
viel Geld hast du denn auf der hohen Kante?«
Ich zuckte die Schultern. »Für ein paar Monate
würde es bestimmt reichen. Aber ich müsste vermutlich aus meiner
Wohnung ausziehen.«
Sophie nickte. »Vermutlich, ja.«
»Außerdem wüsste ich nicht, was ich sonst tun
sollte. Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin ohne diesen Job. Das
war
zwei Jahre lang mein Leben, und inzwischen bin ich ein völlig
neuer Mensch. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ist ja
nicht unbedingt so, als gäbe es im Buchhandel einen Ratgeber mit
dem Titel Umschulung für Treuetesterinnen – So
finden Sie den richtigen Job.«
Sophie lachte leise. »Du könntest wieder ins
Investment Banking einsteigen.«
»Pfff. Wie passend. Super Idee.«
»Also, falls du wirklich aufhörst«, sagte sie
leichthin,
»dann sieh aber zu, dass du vorher noch meinen
Auftrag erledigst!«
Ich lachte, obwohl mir nach Weinen zumute war.
»Okay.« Ich erhob mich und blickte mutlos zur Tür. »Tja, dann geh’
ich mal nach Hause und leg’ mich ins Bett.«
»Okay.«
Ich breitete die Arme aus und drückte sie kräftig
an mich. »Danke«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Sie machte sich von mir los. »Wofür? Ich habe doch
gar nichts getan.«
»Doch, glaub mir, das hast du«, versicherte ich
ihr.
Am nächsten Abend stand Jamie Richards zur
vereinbarten Zeit bei mir auf der Matte. Insgeheim hatte ich
gehofft, er würde sich wieder telefonisch ankündigen, damit ich wie
beim letzten Mal rasch hinunterlaufen konnte. Ich hatte nämlich
noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob ich inzwischen
bereit war, ihn in meine Wohnung zu lassen. Aber diese Frage
erübrigte sich nun ohnehin – wie sähe es aus, wenn ich ihn mit
einem kurzen »Bin gleich so weit« im Hausflur warten ließ, bis ich
meinen Kram beisammen hatte?
Also zwang ich mich zu einem breiten Lächeln, um
mein Unbehagen zu kaschieren, als ich ihm die Tür öffnete. »Hi!
Komm doch rein.«
Er küsste mich gleich auf die Wange und machte mir
ein Kompliment für mein Aussehen.
Ich lief wieder einmal rot an und bedankte
mich.
»Ah, das ist also deine Wohnung«, stellte er fest
und trat ein, wobei er anerkennend nickte. »Nicht übel. Du hast es
wohl ganz schön weit gebracht. Sie ist sehr … weiß.«
Ich kicherte. »Ja, ich … äh … ich mag Weiß.«
»Ich glaube, der politisch korrekte Ausdruck dafür
lautet farblich unauffällig.«
»Ähm, ich brauche noch eine Minute, also …« Auf
einmal hatte ich einen Kloß im Hals. »Fühl dich wie zu Hause«,
würgte ich hervor.
Ich huschte ins Schlafzimmer und holte meine weiße
Chanel-Handtasche aus dem Schrank. Ein letzter Blick in den
Spiegel. Ich trug einen knielangen schwarzen Rock in A-Form und ein
schwarz-weiß gestreiftes Top mit Dreiviertelärmeln und
U-Boot-Ausschnitt. Die Haare hatte ich mir zu einem strengen
Pferdeschwanz zurückgebunden. Kleine silberne Reif-Ohrringe und
schwarze Pumps von Michael Kors mit mattsilbernen Schnallen
vervollständigten das Ensemble. Ich fand, in Anbetracht der
Tatsache, dass ich ansonsten nicht gerade stilsicher bin, konnte
ich stolz auf mich sein.
Als ich zurückkehrte, spazierte Jamie im Wohnzimmer
auf und ab und sah sich ungezwungen um. Ich blieb angespannt im
Korridor stehen und beobachtete, wie er da und dort ein Detail in
Augenschein nahm, vor dem Fernseher stehen blieb und zustimmend
nickte, dann in die Essecke schlenderte und mit den Fingerspitzen
leicht über die Lehnen der Holzstühle strich. Erst fand ich seine
Anwesenheit so unerträglich, dass ich den Drang verspürte, ihn auf
der Stelle hinauszukomplimentieren. Doch als er zum Kamin ging, um
die gerahmten Fotos zu betrachten, die dort auf dem Sims standen,
machte sich plötzlich ein ganz anderes Gefühl in mir
bemerkbar.
Ein völlig neues, unbekanntes Gefühl.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er das
Foto von meiner Mutter und mir studierte, das vor einigen Jahren
auf einer Kreuzfahrt entstanden war. Dann wandte er sich einem
Schnappschuss von Sophie, Zoë, John und mir in Jayes Martini Lounge
zu. Und da wurde mir etwas klar.
Jamie war der erste Mann, der je meine Wohnung
betreten hatte (von John einmal abgesehen). Natürlich war ich nie
mit einem meiner Testobjekte hier gewesen, und da meine letzte
Verabredung Jahre her war, auch mit keinem anderen Mann.
Jamie war der erste.
Und mit einem Schlag verursachte es mir kein
Unbehagen mehr, dass er hier war und mein Leben in Augenschein
nahm.
Es fühlte sich … goldrichtig an.
So etwas hatte ich noch nie zuvor empfunden. Es war
eine Art Stechen oder Ziehen. Warm und wohlig, zugleich aber auch
beängstigend.
Es ließ nicht nach, als wir meine Wohnung
verließen.
Es ließ auch dann nicht nach, als wir in Jamies
Auto stiegen und in Richtung Wilshire Boulevard fuhren.
Im Gegenteil. Auf dem Weg zu dem französischen
Nobelrestaurant, in das er mich zum Dinner ausführte, um mir zu
zeigen, dass er sich nicht nur von Hotdogs und Cola ernährt, und
auch während des Essens wurde das Gefühl immer intensiver. Als das
Dessert serviert wurde, wusste ich nicht mehr, was zum Teufel mit
mir los war. Es kam mir vor, als hätte jemand ein Dutzend Kolibris
in meinem Bauch freigelassen, und dort schwirrten sie nun
unablässig herum.
Kurz darauf lagen wir mit Blick auf die Runway
des Flughafens von Santa Monica auf der Kühlerhaube von Jamies
Jaguar
und sahen den kleinen Düsen- und Propellerflugzeugen beim Landen
zu.
Er hielt meine Hand, und unsere Beine lagen so nah
nebeneinander, dass sie sich berührten, sobald sich einer von uns
auch nur einen Zentimeter bewegte. Die Luft war kühl, aber ich
bemerkte es kaum. Mir war so warm wie noch nie.
»Also, Flugzeuge, ja?«, stellte ich amüsiert
fest.
»Ich dachte, sie könnten so eine Art Motto für uns
sein«, erwiderte er und drückte meine Hand.
Ich lächelte in den Himmel. »Klingt
einleuchtend.«
Er drehte sich zu mir. »Erzähl mir von deiner
Arbeit.«
Ich starrte weiter in den Himmel. Ich konnte ihn
nicht ansehen. Nicht, wenn ich eine Frage wie diese beantworten
sollte. Nicht, wenn ich ausgerechnet den Menschen anlügen musste,
den ich am allerwenigsten anlügen wollte.
Was hätte ich darum gegeben, ihm die Wahrheit sagen
zu können! So offen und ehrlich sein zu können wie er – und ich
wusste, das war er vom ersten Augenblick an
gewesen. Ich wollte ihm alles erzählen. Alles über Raymond Jacobs
und seine Erpressungsmethoden, über Andrew Thompson und seine
Schwäche für trinkfeste Stewardessen, über Parker Colmans Versuch,
mich »umzustimmen«, über Sarah Millers Roboterfassade, sogar über
Sophie, meine beste Freundin, und ihre unmögliche Bitte. Und nicht
zuletzt über Miranda Keyton und meinen ersten unfreiwilligen
Treuetest.
Es war unmöglich, ihn anzulügen. Vor allem, wenn
ich so neben ihm lag, seine Hand hielt und den Privatjets zusah,
die über uns vorbeizogen.
Okay, fast unmöglich.
»Was möchtest du denn wissen?«, fragte ich
beiläufig.
»Na, du hast doch erzählt, du bist im Investment
Banking. Was genau machst du da so?«
Ich zuckte die Achseln. »Alles Mögliche.«
»Hör auf! Zu viele Details. Ich habe genug
gehört.«
Ich lachte. »Ach, das Übliche eben. Fusionen und
Übernahmen und feindliche Übernahmen, Private Equity,
Risikomanagement.«
»Wow, du bist ja ein richtiger Tausendsassa.«
»M-hm.« Themenwechsel! »Was ist mit dir? Erzähl mir
von deinem Job.«
Ich wünschte mir nichts weiter, als ich selbst sein
zu dürfen, und es frustrierte mich unendlich, dass das nicht
möglich war.
Jamie sah mich verdutzt an, spürte offenbar mein
Unbehagen. Was hat diese Frau bloß für ein
Problem? Warum spricht sie so ungern über ihre Arbeit? Doch er
fragte nicht nach.
»Wir werden von Firmen engagiert, die zum Beispiel
eine neue Marketingstrategie oder ein neues Logo brauchen oder auf
der Suche nach neuen Wegen sind, um ihre Zielgruppe
anzusprechen.«
Ich wandte den Kopf und lächelte ihn an. »Klingt
interessant.«
Er nickte. »Ist es auch … meistens
jedenfalls.«
Wir schwiegen eine Weile, während ein weiteres
Flugzeug über uns vorbeidröhnte. »Glaubst du, die Leute da oben
haben auch vier Stunden auf der Landebahn in Palms Springs
verbracht?«, fragte ich, den Blick in den Himmel gerichtet.
»Auf keinen Fall. Diese Landebahn ist für uns
reserviert.«
Ich lächelte. »Hast du schon mal von einer
Flugzeugtüte gehört?«
»Meinst du diese Papierdinger, in die man sich
übergibt?«
Ich lachte und verpasste seinem Bein einen Klaps.
»Nein, eine Tüte mit allerhand Kleinigkeiten drin. Für den
Flug.«
»Kleinigkeiten für den Flug?«, wiederholte er
verwirrt.
»Genau. Etwas zu knabbern, ein Reisespiele-Set,
Quartettkarten,
Knetmasse und so. Ich habe es geliebt, für mich und meine Eltern
solche Tüten zusammenzustellen, bevor wir auf Reisen gingen. Sobald
von Urlaub die Rede war, fing ich an, für jeden von uns eine
Flugzeugtüte zu packen.«
»Ah, es hatte also jeder seine persönliche
Tüte?«
Ich nickte stolz. »Natürlich. Ich war ein richtiger
Profi. Quasi die Flugzeugtütenexpertin.«
Schweigen. Dann sagte er: »Findest du es seltsam,
dass ich an dich gedacht habe?«
Ich musste lächeln. »Kommt darauf an, wie. Ich meine, als du an mich gedacht hast, hast du
mich da auf einem Elefanten durch die Wüste reiten sehen, begleitet
von einem Clown und einer Cheerleaderin? Das fände ich in der Tat
seltsam.«
Jamie nickte grinsend, dann wurde er wieder ernst.
»Nein, ich meinte damit, dass ich … oft an dich gedacht hab.«
Ich sah ihm in die Augen und hätte so gern etwas
erwidert. Hätte ihm so gern gesagt, dass ich auch an ihn gedacht
hatte. Aber damit waren so viele andere Wahrheiten verbunden. Zum
Beispiel: »Ich hab an dich gedacht, weil ich nicht will, dass du
erfährst, was ich beruflich mache.« »Ich hab an dich gedacht, weil
ich schreckliche Angst davor habe, dass du es herausfindest und
dann nichts mehr von mir wissen willst.« Und natürlich die
Allerneueste: »Ich hab an dich gedacht, weil ich alle zwei Minuten
überlege, ob ich alles hinter mir lassen soll – den Job, das Geld,
die Betrüger, die Mission, das Misstrauen … einfach alles …
deinetwegen.«
Doch das Einzige, das mir über die Lippen kam, war:
»Nein, das finde ich gar nicht seltsam.«
Und das stimmte auch. Genau das wollte ich hören.
Zugleich wollte ich es aber auch nicht hören. Wie einfach wäre mein
Leben, wenn es Jamie gar nicht gäbe? Wenn ich ihn nie kennengelernt
hätte? Oder wenn er beschlossen hätte, dass
es für ihn mit einer Frau, die ihm alle Frosties vor der Nase
wegschnappt, keine Zukunft gibt?
Er beugte sich über mich, um mich zu küssen. Es war
genauso unglaublich, wie ich es in Erinnerung hatte. Möglicherweise
sogar noch unglaublicher. Im Hintergrund das Gedudel seines
Autoradios, vermischt mit dem Brummen des nächsten sich nähernden
Düsenjets. Der Kuss dauerte eine halbe Ewigkeit, und doch wollte
ich noch mehr, als er vorbei war.
»Ich hab auch an dich gedacht«, hörte ich mich
sagen, als er sich von mir löste und den Kopf wieder auf der
Kühlerhaube ablegte. Ich wusste nicht, woher es gekommen war oder
ob ich je wieder etwas auch nur annähernd Ähnliches von mir geben
würde, aber es hatte gut getan.
Er sah mich an und lächelte. Dann küsste er mich
erneut. Diesmal presste er sich an mich, und ich hatte das Gefühl,
die unglaubliche Hitze, die sein Körper durch die Kleider hindurch
ausstrahlte, könnte mich im Nu schmelzen lassen.
Sterne waren an diesem Abend keine zu sehen –
nicht, dass es hier überhaupt je welche zu sehen gäbe. Zu viel
Smog, zu viele helle Lichter. Aber ich konnte nicht behaupten, dass
ich sie in diesem Augenblick vermisst hätte.
Hinterher begleitete mich Jamie noch zur
Haustür.
»Danke, dass du den Abend mit mir verbracht hast«,
murmelte er und hauchte mir einen Kuss auf den Mund.
Ich schloss die Augen, während ein Kribbeln von
meinem Körper Besitz ergriff.
Er wich zurück, gerade so weit, dass er mir in die
Augen sehen konnte, und flüsterte: »Ich mag dich.«
Ich schluckte schwer. »Lass das lieber bleiben«,
hörte ich mich leise sagen. Ich hatte gehofft, ich hätte es nur
gedacht, aber offenbar war es mir doch herausgerutscht.
Er küsste mich zärtlich auf den Hals. »Und
warum?«
Weil ich eine Heuchlerin bin.
Weil ich dir etwas vorspiele.
Diesmal gelang es mir, meine Gedanken für mich zu
behalten. Und dann sagte ich das Einzige, was mir stattdessen in
den Sinn kam: »Möchtest du noch mit reinkommen?«
Als er zögerte, fügte ich aus reiner Panik hinzu:
»Auf einen Drink, meine ich.« Seltsam. Plötzlich wurde mir klar,
dass ich das sonst nie sage. Möchtest du noch
mit reinkommen? Meine Regel besagt, dass ich auf die Einladung
warten muss, und daran halte ich mich. Ich initiiere nicht, ich
reagiere.
Jetzt hatte sich alles ins Gegenteil verkehrt. Ich
lechzte danach, dass er meine Einladung annahm. Keine Spur von
Unbehagen mehr bei der Vorstellung, ihn in meine vier Wände zu
lassen. In mein Leben. Im Gegenteil. Ich hätte ihn am liebsten
eingesperrt und nie mehr gehen lassen.
»Das wäre wohl keine so gute Idee«, murmelte er. Es
klang gequält. Als würde ihn etwas daran hindern, obwohl er sich
nichts sehnlicher wünschte, als meiner Einladung zu folgen. »Es sei
denn, du hast eine Flasche Macallan da drin.«
Ich lachte, erleichtert darüber, dass er seine
Zurückweisung mit einem Scherz kaschierte.
»Erwartest du wirklich, dass ein achtundzwanzig
Jahre altes Mädchen einen fünfundzwanzig Jahre alten Scotch zu
Hause hat?«
»Womit endlich geklärt wäre, wie alt du bist«,
sagte er mit einem breiten Grinsen. »Viel zu jung für mich.«
»Ich weiß«, scherzte ich. »Ich finanziere praktisch
deine Rente.«
»Uh, das ist heiß.« Er küsste mich noch einmal und
schmiegte dann das Gesicht in meine Halsbeuge.
Ich umarmte ihn, fuhr ihm mit den Fingern sanft
durch die dunkelbraunen Nackenhaare. Sie fühlten sich weich an auf
meiner Haut.
Würde er noch etwas sagen, oder würde er es bei
»Das
wäre wohl keine so gute Idee« belassen? Eine Aussage wie diese
bedurfte doch eigentlich einer Erklärung, aber ich hatte keine
Lust, nachzubohren. Kein Wunder – ich hatte einen Korb bekommen,
und das war definitiv ein Novum für mich. Und nicht unbedingt ein
angenehmes.
Er hob den Kopf. »Ich mag dich sehr, Jen. Aber ich
finde, wir sollten es langsam angehen.«
Langsam angehen?, wiederholte ich im Stillen. Ich
hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Es gab Männer, die es
langsam angehen wollten? In meiner Welt wollten die Typen nach zwei
Stunden Flirten mit mir ins Bett gehen. Manchmal nach drei.
Manchmal auch schon nach einer halben Stunde. Mein Verständnis von
es langsam angehen war zwanzig Minuten
knutschen, ehe er mir an die Wäsche wollte.
Aber ich wusste natürlich, das war nicht die Norm.
Also sagte ich: »Klingt vernünftig.«
Er nickte und lächelte sichtlich erleichtert. »Ich
möchte nichts überstürzen. Ehrlich gesagt, habe ich den Eindruck« –
er tippte mir ans Kinn – »aus uns könnte was Ernstes werden.«
Ich kicherte mädchenhaft. »Ach, echt?«, fragte ich
amüsiert.
Jamie hob eine Augenbraue. »Jawohl.« Er drückte mir
einen Kuss auf die Lippen. »Ich muss kommende Woche beruflich nach
New York, aber ich möchte dich sehen, sobald ich wieder da
bin.«
Ich zuckte kühl die Achseln. »Ich weiß nicht recht.
Allmählich ödest du mich an.«
Jamie sah mich bittend an.
»Also gut. Und wann?«
Er tat, als würde er seine Taschen nach etwas
absuchen. »Mist, ich habe meinen Organizer nicht dabei. Ich melde
mich deswegen noch bei dir.«
Ich lachte, schubste ihn in Richtung Aufzug, so
dass er taumelte, und begann in meiner Handtasche nach dem
Schlüsselbund zu wühlen. »Mach dich vom Acker, du!«
»Ich werd meine Sekretärin konsultieren und ihr
sagen, sie soll sich mit deiner Assistentin in Verbindung setzen.
Du hast doch eine Assistentin, oder?«
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. »Na, klar.
Wir sehen uns dann irgendwann zum Lunch.«
Er kam noch einmal angerannt, um mir einen
allerletzten Kuss zu geben. »Bye.« Dann sah er zu, wie mein Gesicht
hinter der Tür verschwand.
Drinnen blieb ich stehen, die Stirn an die Tür
gelehnt. Das ist doch verrückt, dachte ich.
Niemand verliebt sich so blitzartig. Schon gar nicht ich. Ich
dürfte mich von Rechts wegen überhaupt nicht verlieben – es ist
mein Job, Distanz zu wahren, was auch immer geschieht.
Was war nur los mit mir? Warum fühlte ich Dinge,
die ich nicht hatte fühlen wollen, niemals? Die ich mir geschworen
hatte, nicht zu fühlen?
Weil ich überzeugt gewesen war, dass es völlig
sinnlos war.
So kann man sich täuschen.