22
Zweiter Anlauf
In meinem Erwachsenenleben gab es nur eine
Handvoll Ereignisse, die eine regelrechte Euphorie bei mir
ausgelöst haben. Ich erlebe diesen Zustand normalerweise nur an
anderen Menschen, nicht am eigenen Leib.
Doch an diesem Morgen konnte ich mit Fug und Recht
von mir behaupten, dass ich … glücklich war. Welch seltene
Freude.
Daniel Miller hatte als erster Kandidat seit über
zwei Monaten den Test bestanden, und das war ein Grund zum Feiern.
Keine richtige Party mit Champagner und
Papierschlangen natürlich. Eher eine im ganz kleinen Kreis. Eine
gedankliche.
Ich genehmigte mir eine große Schüssel Honey Loops
und lümmelte mich damit aufs Sofa. Ich kam mir fast vor wie in
einem Werbespot, wie ich so mit den Füßen auf dem Couchtisch mein
ballaststoffreiches Knusperfrühstück verzehrte, während die Sonne
durch meine weißen Satinvorhänge lachte.
Auf derart nahrhafte Weise gestärkt, war ich dann
bereit für die Welt da draußen.
Es war ein herrlicher Tag, und er war im Begriff,
noch besser zu werden, denn in ein paar Stunden würde ich mich
auf den langen, kurvenreichen Weg zu Mrs. Miller machen, um ihr
die erfreuliche Nachricht persönlich zu übermitteln. Wenn es etwas
noch Schöneres gibt als einen bestandenen Test, dann das Treffen
mit der zweifelnden Ehefrau, bei dem ich ihr das erfreuliche
Resultat mitteilen konnte.
Was ehrlich gesagt – leider – noch nicht allzu oft
vorgekommen ist.
Nur ganze neun Mal, genau genommen.
Ich weiß, das klingt erbärmlich. Geradezu
niederschmetternd. Neun von insgesamt etwa zweihundert
Testpersonen, das sind vier Komma fünf Prozent. In der Tat eine
deprimierende Statistik. Man darf allerdings eines nicht vergessen
– und das rufe ich mir immer wieder in Erinnerung, damit ich mich
nicht irgendwann vor Verzweiflung auf der 405 vor einen LKW werfe:
Diese zweihundert sind keine repräsentative Gruppe. Sie zählen
nicht zu den Ehemännern, Freunden und Verlobten von ganz normalen
Frauen, die in einer funktionierenden Beziehung leben. Sie sind die
Kandidaten, deren Gattinnen einen guten Grund haben, sie zu
verdächtigen. Und wenn man auf die Intuition dieser Frauen
vertrauen will, dann steht quasi bei einem Großteil meiner
Testobjekte das Ergebnis von vornherein fest.
Ich behaupte nicht, fünfundneunzig Prozent aller
Männer würden fremdgehen, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu
böte. Vielmehr behaupte ich, fünfundneunzig Prozent aller Frauen
liegen richtig, wenn sie das Gefühl beschleicht, ihr Mann wäre
imstande, sie zu betrügen.
Genau deshalb tue ich, was ich tue. Zumindest fing
es so an. Ich will diesen Frauen die Chance bieten, ihre Zweifel
auszuräumen.
Doch heute war alles anders. Wenn es irgendeinen
Verdacht gibt, den man als Frau gern zerstreut sehen möchte, dann
doch wohl diesen. Der Augenblick, in dem ich Sarah
Miller über das Testresultat informieren konnte, würde für mich
zweifellos das Highlight der Woche sein – und für sie hoffentlich das Highlight des
Jahrhunderts.
Nicht einmal der für Freitagabend anberaumte Test
von Sophies Verlobtem konnte meine Laune jetzt noch trüben. Ich
wusste gar nicht mehr, warum ich mich so dagegen gesträubt hatte.
Er würde selbstverständlich mit Bravour bestehen.
Dieser Auftrag war eine Kleinigkeit. Eric würde
mich keines Blickes würdigen. Wozu auch? Zu Hause wartete eine
umwerfende, aufregende, süße, intelligente Freundin auf ihn. Was
sollte er da mit mir?
Dann kam mir ein verstörender Gedanke. Ich kaute
langsamer, bedächtig schmatzend wie eine Kuh.
Und was, wenn er durchfiel?
Wenn er den Köder schluckte? Wenn er mit mir
flirtete, mir Drinks spendierte, mir ins Dekolleté schielte? Wenn
er mich küsste, den Reißverschluss meines Kleides öffnete und meine
…
Auf einmal war mir übel. Ich knallte die Schüssel
auf den Sofatisch.
Eric war Sophies große Liebe. Und ich wollte mich
an ihn heranmachen, ausgestattet mit einem tief ausgeschnittenen
Top und einem atemberaubenden Augen-Make-up?
Hatte ich den Verstand verloren?
Was für eine Freundin tut denn so was?
Ich griff zum Telefon und wählte Sophies Nummer,
Zahl für Zahl. Die Nummer war zwar eingespeichert, aber es fühlte
sich dramatischer an, die einzelnen Tasten zu drücken.
Proaktiver.
Sie ging nach dem ersten Klingeln ran. »Hi! Was
gibt’s?«
»Bist du sicher, dass du das mit Eric wirklich
durchziehen willst?«, fragte ich beiläufig, als wäre der Anruf am
Dienstag vor dem Test ein Service, den ich all meinen
Auftraggeberinnen
angedeihen lasse. Als gehörte es zum Prozedere sicherzustellen,
dass sie es auch wirklich ernst meinen, ehe ich mich als Wolf im
Schafspelz auf die Weide schleiche.
Sophie schnaubte entnervt in den Hörer. Es klang
wie Darth Vader aus Star Wars. »Das haben
wir doch schon alles durchgekaut, Jen. Ich brauche Gewissheit.«
»Die kann ich dir auch so verschaffen.« Sie durfte
mir meine Verzweiflung auf keinen Fall anmerken. »Er wird mich
abblitzen lassen, glaub mir. Du könntest dir diese Quälerei echt
ersparen.«
Und mir auch, dachte
ich.
»Na, wenn du dir so sicher bist, sollte der Test ja
keine große Sache sein«, sagte sie mit nicht zu widerlegender
Logik.
Mist. Ich hasse es, wenn sie mir mit Logik
kommt.
»Meinst du nicht, wenn er mich kennenlernt, nachdem
er den Test bestanden hat, wird es ihm verdächtig vorkommen, dass
die beste Freundin seiner Verlobten rein
zufällig in derselben Bar war wie er und so getan hat, als
wüsste sie nicht, wen sie vor sich hat?«
Schweigen. Ich hörte förmlich die Zahnräder in
ihrem Kopf knirschen. »Ach, darüber können wir uns den Kopf
zerbrechen, wenn es so weit ist. Mir ist wichtiger, dass ich die
Wahrheit erfahre. Außerdem bist du mir etwas schuldig.«
»Was? Wieso?«
»Weil du volle zwei Jahre deines Lebens vor mir
geheim gehalten hast«, sagte sie nüchtern.
»Ach, deswegen.« Schweigen meinerseits.
Sie lachte. »Ja, deswegen. Und jetzt bekommst du
eine Gelegenheit, es wiedergutzumachen. Wenn du mich fragst, passen
Verbrechen und Sühne ganz gut zueinander, findest du nicht
auch?«
Ich brummte zustimmend und legte auf.
Das war ja nicht gerade nach Plan gelaufen.
Ich konnte nur hoffen, dass mich mein Instinkt in
Bezug auf Eric nicht täuschte.
Als ich wenig später vor dem Haus der Millers
hielt, schwang die Tür auf, noch ehe ich geklingelt hatte. Mrs.
Miller begrüßte mich mit demselben künstlichen Lächeln wie schon
bei unserer ersten Begegnung, doch diesmal war ich darauf
gefasst.
»Frische Cookies?«, fragte sie, sobald ich auf dem
Sofa Platz genommen hatte.
Welche Frau bietet einer Konkurrentin, die
womöglich vor Kurzem mit ihrem Gatten im Bett war, frisch gebackene
Cookies an? Zugegeben, es war nichts dergleichen passiert, aber
dessen konnte sich Sarah Miller unmöglich sicher sein. Und falls
sie es doch war, warum hatte sie mich dann überhaupt hergebeten?
Vielleicht hatte die Ärmste etwas zu viel Zeit vor dem offenen
Backrohr verbracht.
»Nein, danke«, lehnte ich höflich ab. Ich mahnte
mich, absolut professionell zu bleiben und meine persönliche
Begeisterung über das positive Testresultat zu zügeln.
Sie ließ sich lächelnd mir gegenüber nieder. »Sie
gehen ja recht effizient zu Werke – mein Mann war gestern ziemlich
früh zu Hause«, stellte sie fest und blinzelte mir doch tatsächlich
zu.
Ich ignorierte es und ging dazu über, ihr meine
Vorgehensweise zu erläutern. »Mrs. Miller, Sie bestimmen, wie
ausführlich mein Bericht ausfallen soll …«
Sie nickte eifrig. »Ja, ja, verstehe. Was ist
passiert?«
Ich holte tief Luft. »Ich freue mich, Ihnen
mitteilen zu dürfen, dass Ihr Gatte den Treuetest bestanden
hat.«
Wow, laut ausgesprochen klang es sogar noch
berauschender als in Gedanken. Ich ließ sie nicht aus den Augen,
wartete auf
ihren Stoßseufzer der Erleichterung. Immerhin hatte sie quasi seit
fünf Tagen gespannt die Luft angehalten. Ich wartete auf die
Freudentränen. Vielleicht sogar begleitet von einer Umarmung, um
mir ihre Dankbarkeit auszudrücken.
Doch es kam nichts dergleichen.
Sarah Miller wirkte verblüfft. Entgeistert. »Was
soll das heißen, er hat bestanden?«
Offenbar musste ich ihr erst die Terminologie
erklären, damit ihre Reaktion entsprechend ausfallen konnte.
»Das heißt, ich konnte aus seinem Verhalten nicht
auf eine Neigung zur Untreue schließen.«
Sie starrte mich fassungslos an. Ihre Miene
erinnerte an eines dieser Emoticons, mit denen viele Leute ihre
Instant Messages aufpeppen.:s – totale Verwirrung.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie schließlich
kämpferisch, als würde sie das Ergebnis anzweifeln. »Wie kann das
sein?«
Ich war ratlos. Wer hätte gedacht, dass ein
positives Resultat eine solche Skepsis hervorrufen würde? Wie es
aussieht, ist der Ausdruck positiv im Bezug
auf ein Testresultat ziemlich subjektiv.
»Also«, sagte ich vorsichtig. »Er … äh …«
»Sie müssen ihn an einem schlechten Tag erwischt
haben«, unterbrach sie mich. Es klang vorwurfsvoll.
Ich sperrte den Mund auf. Das konnte sie doch
unmöglich ernst meinen!
»Wirkte er zerstreut?«, fuhr sie fort. »Es muss
einen Grund geben. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mein
Mann fremdgeht. Ich möchte Sie bitten, den Test zu wiederholen«,
sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Als würde sie bei
McDonald’s am Tresen stehen und sagen: »Ich hatte einen Big Mac
ohne Senf bestellt; ich möchte Sie bitten,
mir einen neuen zu machen.«
Ȁhm, ich glaube kaum, dass das etwas am Ergebnis
ändern
wird, Mrs. Miller. Ich stehe voll und ganz hinter meiner
Beurteilung. Ihr Mann war eindeutig nicht an einem Seitensprung
interessiert.«
Doch auch diese Antwort stellte sie nicht
zufrieden. Sie verschränkte die Finger im Schoß, so fest, dass die
Knöchel ganz weiß wurden. »Soweit ich mich erinnere, kam er sehr
müde und abgespannt nach Hause. Er war nicht ganz er selbst. Unter
diesen Umständen halte ich eine Wiederholung des Tests für
angebracht. Am Samstagnachmittag ist er unten am Hafen, da könnten
Sie ihm unauffällig über den Weg laufen.«
»Aber …«
»Ich bin sicher, eine so hübsche junge Dame wie Sie
lädt er gern auf seine Jacht ein.«
Ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Da brachte
ich dieser Mrs. Miller die erfreulichsten Neuigkeiten, die man
einer misstrauischen Ehefrau bringen konnte, und statt vor Freude
eine Flasche Schampus aufzumachen oder zu Victorias Secret zu
rennen und neue Reizwäsche zu kaufen, um ihren treuen Gatten zu
belohnen, will sie, dass er noch einmal auf die Probe gestellt
wird?
»Ganz im Ernst, Mrs. Miller, meiner Ansicht nach
ist das absolut überflüssig«, sagte ich so sanft wie möglich.
Doch sie ließ sich nicht davon abbringen.
»Ich bezahle Sie natürlich dafür, falls es das ist,
was Sie abhält. Dasselbe Honorar wie beim ersten Mal.« Schon hatte
sie sich erhoben und war zum Sekretär in der Ecke gegangen, um
einen weiteren dicken Stapel Banknoten aus dem weißen Umschlag
abzuzählen. »Hier.« Sie drückte mir das Geld in die Hand. »Für
Samstagnachmittag.«
Ich starrte ungläubig auf die schwindelerregende
Summe in meiner Hand und konnte mir beim besten Willen nicht
erklären, was dieser Frau durch den Kopf ging. Und ehe ich
noch etwas sagen konnte, wurde ich von ihr praktisch vor die Tür
gesetzt.
»Tja, ich habe noch unheimlich viel zu tun. Ich
höre dann nächste Woche von Ihnen, nehme ich an?«
Schwupps, schon stand ich draußen in der Auffahrt
und fragte mich, was zum Teufel da gerade geschehen war.
»Du musst mich mitkommen
lassen!«, bettelte John, als ich ihm von meinem merkwürdigen Besuch
bei Mrs. Miller erzählte. Wir saßen bei mir zu Hause auf dem
Wohnzimmerboden, guckten Talk Soup und
verzehrten die Köstlichkeiten, die wir uns zuvor beim Inder um die
Ecke geholt hatten.
»Nie im Leben. Bist du verrückt?« Vielleicht hätte
ich doch lieber Zoë statt John anrufen sollen, um die Angelegenheit
zu diskutieren. »Wozu denn überhaupt?«
»Weil ich dich unbedingt
mal in Aktion erleben möchte, nachdem ich dein Gesicht auf dieser
Webseite gesehen hab.«
»Püh.« Ich biss in mein Naanbrot. »Erinnere mich
nicht daran. Gestern hat mir ein Bekannter aus der Highschool den Link weitergeleitet und gefragt, ob
das wirklich ich bin. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich
habe schon panische Angst vor E-Mails,
dabei vergeht zurzeit keine Stunde, in der nicht mindestens einmal
mein Treo meldet, ich hätte eine neue Nachricht erhalten. Jedes
Mal, wenn dieses Ding piepst, bleibt mir fast das Herz stehen, weil
ich fürchte, das könnte jetzt der Todesstoß sein, die E-Mail von Jamie oder meiner Mom. Oder meine
Lehrerin aus der fünften Klasse.«
»Tja, das virale Marketing kennt eben keine
Gnade.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich schätze, damit
erübrigt sich die Frage, ob ich zum zehnjährigen Klassentreffen
gehen soll oder nicht.«
John lachte. »Schon gehört? Jennifer Hunter
verdient
sich ihre Brötchen, indem sie mit verheirateten Männern
schläft.«
»Zum letzten Mal, John, ich schlafe nicht mit ihnen!«
»Ach, bitte, lass mich mitkommen. Lass mich von dir
lernen.«
»Vergiss es! Bei mir gibt es keinen ›bring deinen
schwulen Freund mit ins Büro‹-Tag.«
»Ach, komm!«, quengelte er. »Ich bin so gern unten
am Hafen.«
»Quatsch. Dir geht es doch bloß ums Andocken.« Ich
leckte den letzten Rest Chicken-Tikka-Sauce von meiner Gabel und
erhob mich, um meinen Teller in die Küche zu bringen.
»Bittebittebitte!« Er rutschte auf den Knien vor
mir herum und sah mich flehentlich an.
Ich verdrehte die Augen. »Also gut,
meinetwegen.«
»Ja!« Er sprang auf und vollführte mitten im
Wohnzimmer einen lächerlichen Siegestanz.
»Aber du musst dich unauffällig verhalten. Ich darf
auf keinen Fall auffliegen. Es wird auch so schon verdächtig genug
aussehen, wenn wir uns ein zweites Mal
zufällig über den Weg laufen.«
Er rieb sich die Hände. »Keine Sorge, meine Liebe.
Ich werde mich so gut verkleiden, dass nicht einmal du mich
erkennst.«
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Ȇbertreib
es um Himmels willen nicht.«
Er riss unschuldig die Augen auf. »Was soll das
heißen? Wann hab ich je übertrieben?«
Einundzwanzig Uhr dreizehn. Die Zeit schien
stillzustehen. Ich starrte trotzdem auf meinen Radiowecker.
Wenn ich die Stunden bis Mitternacht doch einfach
überspringen
könnte! Aschenbrödel einmal andersrum. Ich konnte es kaum
erwarten, dass die Uhr zwölf schlug, die Kutsche sich wieder in
einen Kürbis zurückverwandelte und das Kleid in Lumpen, und ich
wieder allein in meinem Schlafzimmer saß.
Im Gegensatz zu mir hatte Aschenbrödel ausgehen
wollen. Hatte es sich so sehnlich
gewünscht, dass eine Fee mit einem Zauberstab erschienen war und
ihr den Wunsch erfüllt hatte.
Hätte ich gewusst, dass da draußen mein
Märchenprinz auf mich wartet, dann hätte ich mir auch gewünscht,
auszugehen.
Doch heute Abend ging es nicht um meinen
Märchenprinzen, sondern um den einer anderen Frau.
Einer Frau, die ich aus ganzem Herzen liebte und
für die ich alles getan hätte, damit sie glücklich wird. Selbst das
hier, wie es aussah.
Die Uhr schaltete auf einundzwanzig Uhr
vierzehn.
Eric Fornell, Sophies große Liebe, saß seit
vierzehn Minuten in der Gesellschaft einiger Freunde, die er seit
dem College nicht mehr gesehen hatte, in einer Bar, die nur ein
paar Minuten von meiner Wohnung entfernt lag.
Und in exakt sechsundvierzig Minuten würde Ashlyn
rein zufällig diese Bar betreten. Jedenfalls sah der Plan vor, dass
ich um Viertel vor zehn das Haus verließ. Somit blieben mir fast
zwei Stunden Zeit, um herauszufinden, ob Eric zu den treulosen
Tomaten gehört oder nicht. Um Mitternacht würde ich Sophie anrufen
und ihr das mit Spannung erwartete Resultat mitteilen.
Bis dahin würde sie neben dem Telefon sitzen und
warten.
Einundzwanzig Uhr fünfzehn.
Mit einem lauten Stöhnen riss ich mich widerwillig
vom Anblick des digitalen Weckers auf meinem Nachttisch los,
erhob mich und ging ins Bad, um mein Augen-Make-Up in Angriff zu
nehmen.
»Halt es eher dezent«, hatte mich Sophie am Vortag
angewiesen. »Eric mag natürliche Schönheit. Aber zeig Busen. Er
steht total auf Brüste, obwohl er das mir gegenüber nie im Leben
zugeben würde. Aber als Frau spürt man so etwas einfach.«
Ich starrte mein Spiegelbild an, rückte den
Push-up-BH zurecht, bis der Busenspalt exakt in der Mitte des
Ausschnitts saß. Dann zog ich die Schminkschublade auf und suchte
das Lidschatten-Trio mit den Erdtönen.
»Und spiel bloß nicht die dämliche Tussi«, hatte
sie ernst hinzugefügt. »Eric steht auf belesene Frauen, die etwas
zur Unterhaltung beisteuern können. Ein hübsches Gesicht allein
reicht ihm nicht.«
Am liebsten hätte ich genau das Gegenteil von
alledem getan, mir die Augen dick mit Eyeliner umrahmt, das
hochgeschlossenste Top in meinem Schrank angezogen, und ein paar
Kommentare vom Stapel gelassen, die den Eindruck erweckten, ich
wäre eine totale Dumpfbacke. »Wenn das ein deutsches Bier ist,
warum ist dann das Etikett auf Englisch?«
Nein. Das wäre unredlich.
Wenn ich das wirklich durchziehen wollte, dann
richtig. Keine Ausflüchte, keine Abkürzungen, keine Finten. Ich
würde Sophies Auftrag genauso konzentriert und gewissenhaft
ausführen wie jeden anderen auch. Wo bleibt dein Arbeitsethos,
Jen?
Einundzwanzig Uhr vierunddreißig.
Gott, ich hasse diesen
Wecker.
Ich setzte mich aufs Bett und starrte erneut wie
hypnotisiert auf das Display.
Einundzwanzig Uhr vierzig.
Ich konnte keinen Finger rühren. Meine Beine waren
an die weiße Tagesdecke geleimt, meine Fußsohlen an den Boden
geschweißt. Meine Augen auf den Radiowecker gerichtet.
Einundzwanzig Uhr zweiundvierzig.
Steh auf!
Es wird ganz einfach, versuchte ich mir einzureden.
Schnell und unkompliziert. Du machst dich auf den Weg, betrittst
die Bar, bestellst ein Getränk. Lokalisierst das Testobjekt und
wirfst ihm ein paar kokette Blicke zu. Hältst ihm deinen Busen
unter die Nase und beeindruckst ihn mit ein paar geistreichen,
intelligenten Bemerkungen, und binnen fünf Minuten – wenn es
überhaupt so lange dauert – ist eure Unterhaltung vorüber.
Dann würde Sophie endlich ruhig schlafen können –
heute und den Rest ihres Lebens, und ich konnte den Adrenalinschub
auskosten, die Genugtuung, wieder jemandem geholfen zu haben. Genau
deshalb machte ich diese Arbeit schließlich.
Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig.
Okay, es wird Zeit, sagte
ich mir. Das ist dein Job. Wenn du das hier
nicht für Sophie tun kannst, was hat es dann überhaupt für einen
Sinn?
Ich weiß nicht, ob es die Pölsterchen in meinem BH
waren oder meine goldene Halskette, oder ob es eine ganz andere,
viel schwerere, abstrakte Bürde war, die mich am Aufstehen
hinderte. Jedenfalls fühlte sich mein Körper an, als würde er
Millionen und Abermillionen Tonnen wiegen.
Ich konnte mich noch immer nicht bewegen.
Um einundzwanzig Uhr sechsundvierzig saß ich noch
am selben Fleck, genau wie um zweiundzwanzig Uhr dreißig.
Elf Uhr. Ich rührte mich nicht.
Ich war gelähmt. Vom Kopf bis zu den Zehen.
Ich konnte mich selbst kaum atmen spüren.
Ob das wohl eine dieser vielzitierten
außerkörperlichen Erfahrungen war? Nein, unmöglich – ich hatte
nicht das Gefühl, mich selbst von oben zu betrachten. Es war
vielmehr, als wäre mein Körper auf dem Bett angeschraubt, hier in
meinem einsamen, weißen Schlafzimmer.
Um Mitternacht kämpften sich meine Arme aus der
unsichtbaren Zwangsjacke, und ich griff wie vereinbart zum Telefon
auf dem Nachttisch.
Wählte Sophies Nummer und wartete.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es
klingelte. Und wie erwartet klingelte es nur ein einziges
Mal.
»Hi.« Sie klang atemlos. Nicht, weil sie gerannt
war, sondern, wie ich vermutete, weil sie bis jetzt nicht zu atmen
gewagt hatte.
Leider wusste ich nur zu gut, wie sie sich
fühlte.
»Hi«, sagte ich vorsichtig, möglichst neutral. Doch
ich wusste, ganz gleich, wie vorsichtig ich war, ganz gleich, wie
sorgfältig ich meine Worte wählte, ich würde lügen. Und das,
nachdem ich mir geschworen hatte, künftig ehrlich zu meinen
Freunden zu sein.
»Was ist passiert?«, fragte sie ohne
Umschweife.
Ich kam mir vor, als wäre ich im Kreis gelaufen.
Vor drei Wochen hätte ich alles darum gegeben, ihr die Wahrheit
sagen zu können. Meinen Schwindeleien ein Ende zu setzen. Und einen
kurzen Augenblick lang hatte ich es ja auch getan.
Doch das hier war etwas anderes.
Jetzt war es wieder an der Zeit, zu lügen.
Denn die Wahrheit war viel zu kompliziert, um sie
auszusprechen – sogar für mich. Und irgendwie war es einfacher zu
lügen. Wie immer.
»Er hat bestanden«, flüsterte ich.