22
Zweiter Anlauf
In meinem Erwachsenenleben gab es nur eine Handvoll Ereignisse, die eine regelrechte Euphorie bei mir ausgelöst haben. Ich erlebe diesen Zustand normalerweise nur an anderen Menschen, nicht am eigenen Leib.
Doch an diesem Morgen konnte ich mit Fug und Recht von mir behaupten, dass ich … glücklich war. Welch seltene Freude.
Daniel Miller hatte als erster Kandidat seit über zwei Monaten den Test bestanden, und das war ein Grund zum Feiern. Keine richtige Party mit Champagner und Papierschlangen natürlich. Eher eine im ganz kleinen Kreis. Eine gedankliche.
Ich genehmigte mir eine große Schüssel Honey Loops und lümmelte mich damit aufs Sofa. Ich kam mir fast vor wie in einem Werbespot, wie ich so mit den Füßen auf dem Couchtisch mein ballaststoffreiches Knusperfrühstück verzehrte, während die Sonne durch meine weißen Satinvorhänge lachte.
Auf derart nahrhafte Weise gestärkt, war ich dann bereit für die Welt da draußen.
Es war ein herrlicher Tag, und er war im Begriff, noch besser zu werden, denn in ein paar Stunden würde ich mich auf den langen, kurvenreichen Weg zu Mrs. Miller machen, um ihr die erfreuliche Nachricht persönlich zu übermitteln. Wenn es etwas noch Schöneres gibt als einen bestandenen Test, dann das Treffen mit der zweifelnden Ehefrau, bei dem ich ihr das erfreuliche Resultat mitteilen konnte.
Was ehrlich gesagt – leider – noch nicht allzu oft vorgekommen ist.
Nur ganze neun Mal, genau genommen.
Ich weiß, das klingt erbärmlich. Geradezu niederschmetternd. Neun von insgesamt etwa zweihundert Testpersonen, das sind vier Komma fünf Prozent. In der Tat eine deprimierende Statistik. Man darf allerdings eines nicht vergessen – und das rufe ich mir immer wieder in Erinnerung, damit ich mich nicht irgendwann vor Verzweiflung auf der 405 vor einen LKW werfe: Diese zweihundert sind keine repräsentative Gruppe. Sie zählen nicht zu den Ehemännern, Freunden und Verlobten von ganz normalen Frauen, die in einer funktionierenden Beziehung leben. Sie sind die Kandidaten, deren Gattinnen einen guten Grund haben, sie zu verdächtigen. Und wenn man auf die Intuition dieser Frauen vertrauen will, dann steht quasi bei einem Großteil meiner Testobjekte das Ergebnis von vornherein fest.
Ich behaupte nicht, fünfundneunzig Prozent aller Männer würden fremdgehen, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu böte. Vielmehr behaupte ich, fünfundneunzig Prozent aller Frauen liegen richtig, wenn sie das Gefühl beschleicht, ihr Mann wäre imstande, sie zu betrügen.
Genau deshalb tue ich, was ich tue. Zumindest fing es so an. Ich will diesen Frauen die Chance bieten, ihre Zweifel auszuräumen.
Doch heute war alles anders. Wenn es irgendeinen Verdacht gibt, den man als Frau gern zerstreut sehen möchte, dann doch wohl diesen. Der Augenblick, in dem ich Sarah Miller über das Testresultat informieren konnte, würde für mich zweifellos das Highlight der Woche sein – und für sie hoffentlich das Highlight des Jahrhunderts.
Nicht einmal der für Freitagabend anberaumte Test von Sophies Verlobtem konnte meine Laune jetzt noch trüben. Ich wusste gar nicht mehr, warum ich mich so dagegen gesträubt hatte. Er würde selbstverständlich mit Bravour bestehen.
Dieser Auftrag war eine Kleinigkeit. Eric würde mich keines Blickes würdigen. Wozu auch? Zu Hause wartete eine umwerfende, aufregende, süße, intelligente Freundin auf ihn. Was sollte er da mit mir?
Dann kam mir ein verstörender Gedanke. Ich kaute langsamer, bedächtig schmatzend wie eine Kuh.
Und was, wenn er durchfiel?
Wenn er den Köder schluckte? Wenn er mit mir flirtete, mir Drinks spendierte, mir ins Dekolleté schielte? Wenn er mich küsste, den Reißverschluss meines Kleides öffnete und meine …
Auf einmal war mir übel. Ich knallte die Schüssel auf den Sofatisch.
Eric war Sophies große Liebe. Und ich wollte mich an ihn heranmachen, ausgestattet mit einem tief ausgeschnittenen Top und einem atemberaubenden Augen-Make-up?
Hatte ich den Verstand verloren?
Was für eine Freundin tut denn so was?
Ich griff zum Telefon und wählte Sophies Nummer, Zahl für Zahl. Die Nummer war zwar eingespeichert, aber es fühlte sich dramatischer an, die einzelnen Tasten zu drücken. Proaktiver.
Sie ging nach dem ersten Klingeln ran. »Hi! Was gibt’s?«
»Bist du sicher, dass du das mit Eric wirklich durchziehen willst?«, fragte ich beiläufig, als wäre der Anruf am Dienstag vor dem Test ein Service, den ich all meinen Auftraggeberinnen angedeihen lasse. Als gehörte es zum Prozedere sicherzustellen, dass sie es auch wirklich ernst meinen, ehe ich mich als Wolf im Schafspelz auf die Weide schleiche.
Sophie schnaubte entnervt in den Hörer. Es klang wie Darth Vader aus Star Wars. »Das haben wir doch schon alles durchgekaut, Jen. Ich brauche Gewissheit
»Die kann ich dir auch so verschaffen.« Sie durfte mir meine Verzweiflung auf keinen Fall anmerken. »Er wird mich abblitzen lassen, glaub mir. Du könntest dir diese Quälerei echt ersparen.«
Und mir auch, dachte ich.
»Na, wenn du dir so sicher bist, sollte der Test ja keine große Sache sein«, sagte sie mit nicht zu widerlegender Logik.
Mist. Ich hasse es, wenn sie mir mit Logik kommt.
»Meinst du nicht, wenn er mich kennenlernt, nachdem er den Test bestanden hat, wird es ihm verdächtig vorkommen, dass die beste Freundin seiner Verlobten rein zufällig in derselben Bar war wie er und so getan hat, als wüsste sie nicht, wen sie vor sich hat?«
Schweigen. Ich hörte förmlich die Zahnräder in ihrem Kopf knirschen. »Ach, darüber können wir uns den Kopf zerbrechen, wenn es so weit ist. Mir ist wichtiger, dass ich die Wahrheit erfahre. Außerdem bist du mir etwas schuldig.«
»Was? Wieso?«
»Weil du volle zwei Jahre deines Lebens vor mir geheim gehalten hast«, sagte sie nüchtern.
»Ach, deswegen.« Schweigen meinerseits.
Sie lachte. »Ja, deswegen. Und jetzt bekommst du eine Gelegenheit, es wiedergutzumachen. Wenn du mich fragst, passen Verbrechen und Sühne ganz gut zueinander, findest du nicht auch?«
Ich brummte zustimmend und legte auf.
Das war ja nicht gerade nach Plan gelaufen.
Ich konnte nur hoffen, dass mich mein Instinkt in Bezug auf Eric nicht täuschte.
 
Als ich wenig später vor dem Haus der Millers hielt, schwang die Tür auf, noch ehe ich geklingelt hatte. Mrs. Miller begrüßte mich mit demselben künstlichen Lächeln wie schon bei unserer ersten Begegnung, doch diesmal war ich darauf gefasst.
»Frische Cookies?«, fragte sie, sobald ich auf dem Sofa Platz genommen hatte.
Welche Frau bietet einer Konkurrentin, die womöglich vor Kurzem mit ihrem Gatten im Bett war, frisch gebackene Cookies an? Zugegeben, es war nichts dergleichen passiert, aber dessen konnte sich Sarah Miller unmöglich sicher sein. Und falls sie es doch war, warum hatte sie mich dann überhaupt hergebeten? Vielleicht hatte die Ärmste etwas zu viel Zeit vor dem offenen Backrohr verbracht.
»Nein, danke«, lehnte ich höflich ab. Ich mahnte mich, absolut professionell zu bleiben und meine persönliche Begeisterung über das positive Testresultat zu zügeln.
Sie ließ sich lächelnd mir gegenüber nieder. »Sie gehen ja recht effizient zu Werke – mein Mann war gestern ziemlich früh zu Hause«, stellte sie fest und blinzelte mir doch tatsächlich zu.
Ich ignorierte es und ging dazu über, ihr meine Vorgehensweise zu erläutern. »Mrs. Miller, Sie bestimmen, wie ausführlich mein Bericht ausfallen soll …«
Sie nickte eifrig. »Ja, ja, verstehe. Was ist passiert?«
Ich holte tief Luft. »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihr Gatte den Treuetest bestanden hat.«
Wow, laut ausgesprochen klang es sogar noch berauschender als in Gedanken. Ich ließ sie nicht aus den Augen, wartete auf ihren Stoßseufzer der Erleichterung. Immerhin hatte sie quasi seit fünf Tagen gespannt die Luft angehalten. Ich wartete auf die Freudentränen. Vielleicht sogar begleitet von einer Umarmung, um mir ihre Dankbarkeit auszudrücken.
Doch es kam nichts dergleichen.
Sarah Miller wirkte verblüfft. Entgeistert. »Was soll das heißen, er hat bestanden
Offenbar musste ich ihr erst die Terminologie erklären, damit ihre Reaktion entsprechend ausfallen konnte.
»Das heißt, ich konnte aus seinem Verhalten nicht auf eine Neigung zur Untreue schließen.«
Sie starrte mich fassungslos an. Ihre Miene erinnerte an eines dieser Emoticons, mit denen viele Leute ihre Instant Messages aufpeppen.:s – totale Verwirrung.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie schließlich kämpferisch, als würde sie das Ergebnis anzweifeln. »Wie kann das sein
Ich war ratlos. Wer hätte gedacht, dass ein positives Resultat eine solche Skepsis hervorrufen würde? Wie es aussieht, ist der Ausdruck positiv im Bezug auf ein Testresultat ziemlich subjektiv.
»Also«, sagte ich vorsichtig. »Er … äh …«
»Sie müssen ihn an einem schlechten Tag erwischt haben«, unterbrach sie mich. Es klang vorwurfsvoll.
Ich sperrte den Mund auf. Das konnte sie doch unmöglich ernst meinen!
»Wirkte er zerstreut?«, fuhr sie fort. »Es muss einen Grund geben. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mein Mann fremdgeht. Ich möchte Sie bitten, den Test zu wiederholen«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Als würde sie bei McDonald’s am Tresen stehen und sagen: »Ich hatte einen Big Mac ohne Senf bestellt; ich möchte Sie bitten, mir einen neuen zu machen.«
»Ähm, ich glaube kaum, dass das etwas am Ergebnis ändern wird, Mrs. Miller. Ich stehe voll und ganz hinter meiner Beurteilung. Ihr Mann war eindeutig nicht an einem Seitensprung interessiert.«
Doch auch diese Antwort stellte sie nicht zufrieden. Sie verschränkte die Finger im Schoß, so fest, dass die Knöchel ganz weiß wurden. »Soweit ich mich erinnere, kam er sehr müde und abgespannt nach Hause. Er war nicht ganz er selbst. Unter diesen Umständen halte ich eine Wiederholung des Tests für angebracht. Am Samstagnachmittag ist er unten am Hafen, da könnten Sie ihm unauffällig über den Weg laufen.«
»Aber …«
»Ich bin sicher, eine so hübsche junge Dame wie Sie lädt er gern auf seine Jacht ein.«
Ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Da brachte ich dieser Mrs. Miller die erfreulichsten Neuigkeiten, die man einer misstrauischen Ehefrau bringen konnte, und statt vor Freude eine Flasche Schampus aufzumachen oder zu Victorias Secret zu rennen und neue Reizwäsche zu kaufen, um ihren treuen Gatten zu belohnen, will sie, dass er noch einmal auf die Probe gestellt wird?
»Ganz im Ernst, Mrs. Miller, meiner Ansicht nach ist das absolut überflüssig«, sagte ich so sanft wie möglich.
Doch sie ließ sich nicht davon abbringen.
»Ich bezahle Sie natürlich dafür, falls es das ist, was Sie abhält. Dasselbe Honorar wie beim ersten Mal.« Schon hatte sie sich erhoben und war zum Sekretär in der Ecke gegangen, um einen weiteren dicken Stapel Banknoten aus dem weißen Umschlag abzuzählen. »Hier.« Sie drückte mir das Geld in die Hand. »Für Samstagnachmittag.«
Ich starrte ungläubig auf die schwindelerregende Summe in meiner Hand und konnte mir beim besten Willen nicht erklären, was dieser Frau durch den Kopf ging. Und ehe ich noch etwas sagen konnte, wurde ich von ihr praktisch vor die Tür gesetzt.
»Tja, ich habe noch unheimlich viel zu tun. Ich höre dann nächste Woche von Ihnen, nehme ich an?«
Schwupps, schon stand ich draußen in der Auffahrt und fragte mich, was zum Teufel da gerade geschehen war.
 
»Du musst mich mitkommen lassen!«, bettelte John, als ich ihm von meinem merkwürdigen Besuch bei Mrs. Miller erzählte. Wir saßen bei mir zu Hause auf dem Wohnzimmerboden, guckten Talk Soup und verzehrten die Köstlichkeiten, die wir uns zuvor beim Inder um die Ecke geholt hatten.
»Nie im Leben. Bist du verrückt?« Vielleicht hätte ich doch lieber Zoë statt John anrufen sollen, um die Angelegenheit zu diskutieren. »Wozu denn überhaupt?«
»Weil ich dich unbedingt mal in Aktion erleben möchte, nachdem ich dein Gesicht auf dieser Webseite gesehen hab.«
»Püh.« Ich biss in mein Naanbrot. »Erinnere mich nicht daran. Gestern hat mir ein Bekannter aus der Highschool den Link weitergeleitet und gefragt, ob das wirklich ich bin. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich habe schon panische Angst vor E-Mails, dabei vergeht zurzeit keine Stunde, in der nicht mindestens einmal mein Treo meldet, ich hätte eine neue Nachricht erhalten. Jedes Mal, wenn dieses Ding piepst, bleibt mir fast das Herz stehen, weil ich fürchte, das könnte jetzt der Todesstoß sein, die E-Mail von Jamie oder meiner Mom. Oder meine Lehrerin aus der fünften Klasse.«
»Tja, das virale Marketing kennt eben keine Gnade.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich schätze, damit erübrigt sich die Frage, ob ich zum zehnjährigen Klassentreffen gehen soll oder nicht.«
John lachte. »Schon gehört? Jennifer Hunter verdient sich ihre Brötchen, indem sie mit verheirateten Männern schläft.«
»Zum letzten Mal, John, ich schlafe nicht mit ihnen!«
»Ach, bitte, lass mich mitkommen. Lass mich von dir lernen.«
»Vergiss es! Bei mir gibt es keinen ›bring deinen schwulen Freund mit ins Büro‹-Tag.«
»Ach, komm!«, quengelte er. »Ich bin so gern unten am Hafen.«
»Quatsch. Dir geht es doch bloß ums Andocken.« Ich leckte den letzten Rest Chicken-Tikka-Sauce von meiner Gabel und erhob mich, um meinen Teller in die Küche zu bringen.
»Bittebittebitte!« Er rutschte auf den Knien vor mir herum und sah mich flehentlich an.
Ich verdrehte die Augen. »Also gut, meinetwegen.«
»Ja!« Er sprang auf und vollführte mitten im Wohnzimmer einen lächerlichen Siegestanz.
»Aber du musst dich unauffällig verhalten. Ich darf auf keinen Fall auffliegen. Es wird auch so schon verdächtig genug aussehen, wenn wir uns ein zweites Mal zufällig über den Weg laufen.«
Er rieb sich die Hände. »Keine Sorge, meine Liebe. Ich werde mich so gut verkleiden, dass nicht einmal du mich erkennst.«
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu. »Übertreib es um Himmels willen nicht.«
Er riss unschuldig die Augen auf. »Was soll das heißen? Wann hab ich je übertrieben?«
 
Einundzwanzig Uhr dreizehn. Die Zeit schien stillzustehen. Ich starrte trotzdem auf meinen Radiowecker.
Wenn ich die Stunden bis Mitternacht doch einfach überspringen könnte! Aschenbrödel einmal andersrum. Ich konnte es kaum erwarten, dass die Uhr zwölf schlug, die Kutsche sich wieder in einen Kürbis zurückverwandelte und das Kleid in Lumpen, und ich wieder allein in meinem Schlafzimmer saß.
Im Gegensatz zu mir hatte Aschenbrödel ausgehen wollen. Hatte es sich so sehnlich gewünscht, dass eine Fee mit einem Zauberstab erschienen war und ihr den Wunsch erfüllt hatte.
Hätte ich gewusst, dass da draußen mein Märchenprinz auf mich wartet, dann hätte ich mir auch gewünscht, auszugehen.
Doch heute Abend ging es nicht um meinen Märchenprinzen, sondern um den einer anderen Frau.
Einer Frau, die ich aus ganzem Herzen liebte und für die ich alles getan hätte, damit sie glücklich wird. Selbst das hier, wie es aussah.
Die Uhr schaltete auf einundzwanzig Uhr vierzehn.
Eric Fornell, Sophies große Liebe, saß seit vierzehn Minuten in der Gesellschaft einiger Freunde, die er seit dem College nicht mehr gesehen hatte, in einer Bar, die nur ein paar Minuten von meiner Wohnung entfernt lag.
Und in exakt sechsundvierzig Minuten würde Ashlyn rein zufällig diese Bar betreten. Jedenfalls sah der Plan vor, dass ich um Viertel vor zehn das Haus verließ. Somit blieben mir fast zwei Stunden Zeit, um herauszufinden, ob Eric zu den treulosen Tomaten gehört oder nicht. Um Mitternacht würde ich Sophie anrufen und ihr das mit Spannung erwartete Resultat mitteilen.
Bis dahin würde sie neben dem Telefon sitzen und warten.
Einundzwanzig Uhr fünfzehn.
Mit einem lauten Stöhnen riss ich mich widerwillig vom Anblick des digitalen Weckers auf meinem Nachttisch los, erhob mich und ging ins Bad, um mein Augen-Make-Up in Angriff zu nehmen.
»Halt es eher dezent«, hatte mich Sophie am Vortag angewiesen. »Eric mag natürliche Schönheit. Aber zeig Busen. Er steht total auf Brüste, obwohl er das mir gegenüber nie im Leben zugeben würde. Aber als Frau spürt man so etwas einfach.«
Ich starrte mein Spiegelbild an, rückte den Push-up-BH zurecht, bis der Busenspalt exakt in der Mitte des Ausschnitts saß. Dann zog ich die Schminkschublade auf und suchte das Lidschatten-Trio mit den Erdtönen.
»Und spiel bloß nicht die dämliche Tussi«, hatte sie ernst hinzugefügt. »Eric steht auf belesene Frauen, die etwas zur Unterhaltung beisteuern können. Ein hübsches Gesicht allein reicht ihm nicht.«
Am liebsten hätte ich genau das Gegenteil von alledem getan, mir die Augen dick mit Eyeliner umrahmt, das hochgeschlossenste Top in meinem Schrank angezogen, und ein paar Kommentare vom Stapel gelassen, die den Eindruck erweckten, ich wäre eine totale Dumpfbacke. »Wenn das ein deutsches Bier ist, warum ist dann das Etikett auf Englisch?«
Nein. Das wäre unredlich.
Wenn ich das wirklich durchziehen wollte, dann richtig. Keine Ausflüchte, keine Abkürzungen, keine Finten. Ich würde Sophies Auftrag genauso konzentriert und gewissenhaft ausführen wie jeden anderen auch. Wo bleibt dein Arbeitsethos, Jen?
Einundzwanzig Uhr vierunddreißig.
Gott, ich hasse diesen Wecker.
Ich setzte mich aufs Bett und starrte erneut wie hypnotisiert auf das Display.
Einundzwanzig Uhr vierzig.
Ich konnte keinen Finger rühren. Meine Beine waren an die weiße Tagesdecke geleimt, meine Fußsohlen an den Boden geschweißt. Meine Augen auf den Radiowecker gerichtet.
Einundzwanzig Uhr zweiundvierzig.
Steh auf!
Es wird ganz einfach, versuchte ich mir einzureden. Schnell und unkompliziert. Du machst dich auf den Weg, betrittst die Bar, bestellst ein Getränk. Lokalisierst das Testobjekt und wirfst ihm ein paar kokette Blicke zu. Hältst ihm deinen Busen unter die Nase und beeindruckst ihn mit ein paar geistreichen, intelligenten Bemerkungen, und binnen fünf Minuten – wenn es überhaupt so lange dauert – ist eure Unterhaltung vorüber.
Dann würde Sophie endlich ruhig schlafen können – heute und den Rest ihres Lebens, und ich konnte den Adrenalinschub auskosten, die Genugtuung, wieder jemandem geholfen zu haben. Genau deshalb machte ich diese Arbeit schließlich.
Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig.
Okay, es wird Zeit, sagte ich mir. Das ist dein Job. Wenn du das hier nicht für Sophie tun kannst, was hat es dann überhaupt für einen Sinn?
Ich weiß nicht, ob es die Pölsterchen in meinem BH waren oder meine goldene Halskette, oder ob es eine ganz andere, viel schwerere, abstrakte Bürde war, die mich am Aufstehen hinderte. Jedenfalls fühlte sich mein Körper an, als würde er Millionen und Abermillionen Tonnen wiegen.
Ich konnte mich noch immer nicht bewegen.
Um einundzwanzig Uhr sechsundvierzig saß ich noch am selben Fleck, genau wie um zweiundzwanzig Uhr dreißig.
Elf Uhr. Ich rührte mich nicht.
Ich war gelähmt. Vom Kopf bis zu den Zehen.
Ich konnte mich selbst kaum atmen spüren.
Ob das wohl eine dieser vielzitierten außerkörperlichen Erfahrungen war? Nein, unmöglich – ich hatte nicht das Gefühl, mich selbst von oben zu betrachten. Es war vielmehr, als wäre mein Körper auf dem Bett angeschraubt, hier in meinem einsamen, weißen Schlafzimmer.
Um Mitternacht kämpften sich meine Arme aus der unsichtbaren Zwangsjacke, und ich griff wie vereinbart zum Telefon auf dem Nachttisch.
Wählte Sophies Nummer und wartete.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es klingelte. Und wie erwartet klingelte es nur ein einziges Mal.
»Hi.« Sie klang atemlos. Nicht, weil sie gerannt war, sondern, wie ich vermutete, weil sie bis jetzt nicht zu atmen gewagt hatte.
Leider wusste ich nur zu gut, wie sie sich fühlte.
»Hi«, sagte ich vorsichtig, möglichst neutral. Doch ich wusste, ganz gleich, wie vorsichtig ich war, ganz gleich, wie sorgfältig ich meine Worte wählte, ich würde lügen. Und das, nachdem ich mir geschworen hatte, künftig ehrlich zu meinen Freunden zu sein.
»Was ist passiert?«, fragte sie ohne Umschweife.
Ich kam mir vor, als wäre ich im Kreis gelaufen. Vor drei Wochen hätte ich alles darum gegeben, ihr die Wahrheit sagen zu können. Meinen Schwindeleien ein Ende zu setzen. Und einen kurzen Augenblick lang hatte ich es ja auch getan.
Doch das hier war etwas anderes.
Jetzt war es wieder an der Zeit, zu lügen.
Denn die Wahrheit war viel zu kompliziert, um sie auszusprechen – sogar für mich. Und irgendwie war es einfacher zu lügen. Wie immer.
»Er hat bestanden«, flüsterte ich.
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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