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In Ketten
Nach einem schnellen Imbiss am Ufer der Seine –
Salat und Schinkensandwichs – verbrachten Jamie und ich den
Nachmittag mit der Besichtigung einer meiner liebsten unbeachteten
Sehenswürdigkeiten der Stadt.
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich die
Reinkarnation von Marie Antoinette bin«, erklärte ich, während wir
durch die Conciergerie, das alte Gefängnis im ersten
Arrondissement, schlenderten.
»Wurde sie wirklich hier gefangen gehalten, ehe sie
starb?«, fragte Jamie und berührte ehrfürchtig die kalte Steinmauer
des Hauptganges.
»Ehe sie exekutiert wurde«, verbesserte ich
ihn.
Jamie sah zu der dunklen, von Balken gestützten
Decke hoch. »Kein schöner Ort.«
Ich nickte. »Ganz und gar nicht. Vor allem
verglichen mit dem Château, in dem ich davor gelebt habe.«
»Und wie kommst du darauf, dass du ihre
Reinkarnation bist?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß auch nicht.
Wann immer ich etwas über sie lese, beschleicht mich so ein
eigenartiges Gefühl. Ich bin einfach total fasziniert von ihrem
Leben.«
»Vielleicht stehst du bloß auf Kuchen.«
Ich lachte. »Sieh mal an, da weiß jemand
tatsächlich ein wenig über die revolution
française Bescheid.«
»Ich habe in Geschichte eben aufgepasst.« Er tat
blasiert.
»Du meinst, du hast bei dem Film Die verrückte Geschichte der Welt aufgepasst?«
Er tat meine Bemerkung mit einer Handbewegung ab.
»Ich habe das Buch gelesen.«
»Kam da auch Mel Brooks drin vor?«
Er schnitt eine Grimasse.
»Also«, fuhr ich fort, »Marie Antoinette wurde
gefangen genommen und hier eingesperrt bis zu ihrem Prozess, der
natürlich alles andere als fair war. Man warf ihr Hochverrat vor,
nur weil sie dem Königshaus angehörte.« Ich gefiel mir in der Rolle
der Fremdenführerin für amerikanische Amateurhistoriker.
Jamie schlich herbei und legte mir den Zeigefinger
auf die Lippen. »Pst. Ich glaube kaum, dass deine monarchistischen
Ansichten hier so gut ankommen.« Er deutete auf einen
Gefängniswächter aus Wachs, der den Eingang zur Zelle der Königin
bewachte.
Ich verdrehte die Augen. »Wir sind hier in einem
freien Land.«
»Ach, wirklich?«
Ich schüttelte grinsend den Kopf. »Ja,
wirklich.«
Er packte meine Hand und zog mich an sich, sodass
sich unsere Körper berührten. Ob er wohl spürte, wie sich mein
Herzschlag beschleunigte? »Dann soll ich dich also von nun an Marie
nennen?«, fragte er.
Ich schluckte und lächelte verkrampft. »Eigentlich
wurde sie von ihrer Familie und ihren Freunden Antoine genannt«,
murmelte ich.
Jamie kam noch näher, bis sein Mund nur Zentimeter
von
meinem entfernt war. »Okay … Antoine.« Und dann küsste er mich.
Mitten im dunkeln, modrigen Gefängnis der Französischen Revolution
berührten sich unsere Lippen, wir schlossen die Augen, mein Körper
wurde von einer Hitzewelle erfasst. Ich versuchte, dagegen
anzukämpfen, indem ich an seine Frau dachte, um meine Wut zu neuem
Leben zu erwecken. Vergeblich. Karen Richards Gesicht verblasste
noch im selben Moment, in dem ich es mir in Erinnerung rief. Ich
war beim besten Willen nicht in der Lage, auch nur einen negativen
Gedanken zu fassen.
Also machte ich mich von ihm los und ergriff seine
Hand. »Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.«
Jamie salutierte höflich, als wir an dem leblosen
Wachposten vorbei in die kleine Zelle gingen. »Monsieur.«
Ich lachte. »Wie dir vielleicht auffällt, war diese
Zelle hier verglichen mit den anderen, die wir vorhin gesehen
haben, so nobel wie ein Zimmer im Plaza«, sagte ich.
Der Raum war etwa halb so groß wie ein typisches
Motelzimmer und mit einem schmalen, niedrigen Bett in der Ecke und
einem schlichten Tisch möbliert. Hinter einem mit Stoff bezogenen
Paravent stand eine weitere Wachsfigur, die die Zelle aufmerksam zu
bewachen schien, als könnte sich die Königin jeden Moment mit ein
paar Kung-Fu-Tricks befreien und flüchten.
»Was macht der denn da?« Jamie deutete auf den
zweiten Wächter.
Ich hob den Kopf. »Der passt auf, dass sie keinen
Fluchtversuch startet. Das hat sie nämlich tatsächlich einmal,
zusammen mit dem König.«
Jamie beäugte die Statue skeptisch. »Von wegen. Ich
glaube eher, er wartet darauf, dass sie sich auszieht, in der
Hoffnung, einen Blick auf den königlichen Busen zu
erhaschen.«
Ich schnappte nach Luft. »Unsinn!«
Jamie nickte bedauernd. »Ich wette, das war der
begehrteste Posten von allen. Bestimmt haben die Wachen beim
Kartenspielen oder beim Würfeln ausgeknobelt, wer die Bewachung der
Königin übernehmen durfte. Und die Nachtschicht, die war für den
Gefängnisdirektor reserviert.«
Während er einige hinter zentimeterdickem
Panzerglas ausgestellte Relikte der Französischen Revolution
betrachtete, hörte ich mich aus heiterem Himmel sagen: »Der König,
Ludwig der Sechzehnte, hatte übrigens eine Geliebte.«
Als er sich zu mir umwandte, versuchte ich, meine
unerwartete Bemerkung zu überspielen, indem ich willkürlich weitere
Fakten hinzufügte. »Die meisten Könige hielten sich eine Mätresse.
Oder auch mehrere. Manchmal bis zu sieben … eine für jeden Tag der
Woche.« Ich gluckste leise.
Jamie reagierte auf meinen Wortschwall lediglich
mit einem Nicken. Keinerlei Anzeichen von Reue oder
Unbehagen.
Als würde er aufmerksam einem interessanten Vortrag
lauschen, zu dessen Thematik er aber nicht den geringsten
persönlichen Bezug hatte.
Da er schwieg, fuhr ich schamlos fort: »Es würde
mich nicht überraschen, wenn sich Marie Antoinette auch einen
Liebhaber genommen hätte. Als eine Art Mitternachtsimbiss. Ein
Croissant für den kleinen Hunger zwischendurch sozusagen. Damals
war so gut wie niemand seinem Ehepartner
treu. Treue war quasi aus der Mode.«
Ich hoffte auf irgendein Echo, eine wie auch immer
geartete Reaktion. Vielleicht musste ich nur lange genug
nachbohren, die richtigen Worte und Formulierungen finden.
Doch alles, was ihm dazu einfiel, war ein höfliches
»Tja, du weißt ja, wie das damals war. Eine Heirat war eine
politische Übereinkunft. Vor allem Könige und Königinnen haben nie
aus Liebe geheiratet.«
Ich ließ ihn nicht aus den Augen, hielt Ausschau
nach Hinweisen
auf eine unterschwellige Bedeutung, eine versteckte Botschaft.
Wollte er mich etwa dazu bewegen, seinen bösen Machenschaften zu
vertrauen, mich zur Religion der Ehebrecher bekehren? Nein. Er
kannte sich lediglich aus mit Geschichte, und zwar nicht
schlecht.
»Man hat den Menschen geheiratet, von dem man sich
am meisten versprochen hat – sozial, wirtschaftlich, politisch. Und
dann hat man sich in den Menschen verliebt,
der einen glücklich gemacht hat«, fügte er hinzu.
Seine Worte trieben mir fast die Tränen in die
Augen. Ich hätte mich am liebsten in seine Arme gestürzt und ihm
gesagt, dass ich die Frau sein wollte, die ihn glücklich machte.
Dass alles andere nicht wichtig war. Dass wir weglaufen, noch
einmal ganz von vorne anfangen konnten. Alles, was davor geschehen
war, vergessen. Doch meine Füße fühlten sich zentnerschwer an, als
wäre ich festgefroren.
Und obwohl mir meine Erfahrung als Treuetesterin
sagte, dass es nicht ratsam war, während eines Auftrages das Thema
Untreue anzusprechen, konnte ich nicht anders, als ihn zu fragen:
»Glaubst du, das gibt es auch heute noch?«
Er kam zu mir, stützte sich mit den Händen am
hölzernen Geländer ab, das die Touristen von den
Ausstellungsstücken fernhielt. »Politisch motivierte
Eheschließungen, meinst du?«, fragte er ungläubig, als wollte er
sagen: »Lebst du eigentlich auf dem Mond, oder hast du gerade eins
über die Rübe gekriegt?«
»Ganz recht – und die Mätressen«, erwiderte ich
vorsichtig, wobei ich das letzte Wort sehr klar und deutlich
aussprach und erneut auf eine Reaktion wartete. Wieder vergebens.
»Glaubst du, die Männer legen sich auch heute noch Mätressen zu und
halten sie irgendwo versteckt?«
Er lachte. »Wie Schwarzgeld auf einem Schweizer
Bankkonto?«
Ich erwiderte sein Lachen, obwohl ich allmählich
die Geduld verlor. Warum machte er Witze? Warum nahm er meine
Fragen nicht ernst? Das sollte er nämlich! Schließlich hielt er
mich schon die ganze Zeit als seine geheime Geliebte, und ich fand
das ganz und gar nicht zum Lachen.
»Das war nicht im Scherz gemeint«, beharrte ich
sanft.
Er sah mir in die Augen. »Natürlich tun sie das«,
sagte er sachlich. »Wo es Versprechen gibt, gibt es auch gebrochene
Versprechen. Das liegt eben in der Natur des Menschen.«
Ich blinzelte verblüfft. Was zum Teufel sollte
das nun wieder heißen? Dass Regeln dazu da
sind, um gebrochen zu werden, und wir uns damit abfinden sollten?
Ohne mich.
Wir wandten uns wieder der Glasvitrine zu, in der
unter anderem Marie Antoinettes Wasserkrug ausgestellt war sowie
ein unterschriebenes Dokument, das von ihrer Gefangenschaft zeugte.
War Jamies Bemerkung vielleicht als allgemeine Aussage zum Thema
Ehe zu verstehen? Vielleicht wollte er ausdrücken, die Ehe sei nur
ein von Staat und Gesellschaft gutgeheißenes, schriftlich
festgehaltenes Prinzip, aber leider völlig wider die Natur des
Menschen und deshalb quasi dazu verdammt, entweiht zu werden.
Er sah mich an und lächelte. Er hatte keine Ahnung,
was für Gedanken mir durch den Kopf rasten.
Nein, sagte ich mir.
Darum geht es hier nicht. Es geht nicht um ein
Stück Papier oder um Verhaltensnormen, sondern um Ehrlichkeit.
Um einen der wenigen Aspekte des menschlichen Lebens, der sich der
Kontrolle durch eine von Benimmregeln und -empfehlungen geprägte
Gesellschaft entzieht. Er hatte mich angelogen, und seine Frau
ebenfalls. Somit war er keinen Deut besser als ein französischer
König mit einem Schlafzimmer voller Mätressen.
Ich holte tief Luft und sah mich im Raum um.
Schlagartig
wurde mir wieder bewusst, dass ich aus einem bestimmten Grund hier
war. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Vielleicht würde auch Jamie keinen fairen Prozess
bekommen, aber wenn uns die Französische Revolution etwas gelehrt
hat, dann doch wohl, dass im Kampf um eine große Sache kein Platz
für Gefühle ist. Kein Platz für Zweifel.
Verrat ist und bleibt Verrat.
War die Geschichte dazu bestimmt, sich zu
wiederholen? Konnte es sein, dass ich mich heute, zweihundert Jahre
später, als mögliche Reinkarnation von Marie Antoinette, erneut zur
Gefangenen machte?
Und war wirklich ich es, die in Ketten gelegt
wurde? Die ganze Reise war eine Falle, und von außen betrachtet,
musste man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass Jamie im
Begriff war, geradewegs hineinzutappen. Doch insgeheim wusste ich,
dass ich genauso in mein Verderben lief wie er.
Als es Zeit für das Abendessen wurde, setzten wir
uns unweit von unserem Hotel in der Avenue de L’Opera in eines der
romantischen Bistros unter freiem Himmel. Ich beobachtete das
Treiben auf der Straße und fühlte, dem Anlass dieser Reise zum
Trotz, das übliche Kribbeln im Magen. Paris! Die Lichter, der Lärm,
selbst die Gerüche brachten so viele Erinnerungen an meinen letzten
Aufenthalt vor über einem Jahr zurück.
Damals war ich im Auftrag einer Amerikanerin
gekommen, die einen Franzosen geheiratet hatte (einer dieser
Urlaubsflirts, aus denen unversehens Ernst wird). Als der fortan in
den Vereinigten Staaten lebende Gatte zu einem Besuch bei seiner
Familie aufzubrechen gedachte, fürchtete sie, in der Heimat könnte
der typisch französische Schürzenjäger-Instinkt in ihm
erwachen.
»Die meisten französischen Männer glauben gar nicht
an
die Monogamie, müssen Sie wissen«, hatte sie mir bei unserer
ersten Besprechung erzählt.
Und sie sollte recht behalten. Für Pierre LeFavre
war Monogamie offenbar ein unübersetzbares Konzept.
Ich trat als gebildete amerikanische Geschäftsfrau
auf, die wegen eines wichtigen Abschlusses nach Frankreich gereist
war. Mein Französisch sollte »passabel« sein, mein Sinn für guten
Wein und gutes Essen ausgeprägt.
Da mein Schulfranzösisch für diese Zwecke nicht
ausreichte, nahm ich speziell für diesen Auftrag drei Wochen
Intensivunterricht, und nach dem Test verlängerte ich meinen
Aufenthalt in Frankreich um zwei Wochen. Ich hatte mich verliebt.
In Paris. In die Stadt Paris, meine ich.
Damals nahm auch meine Besessenheit von der Geschichte Frankreichs
ihren Anfang.
Jetzt, über ein Jahr später, stellte ich
hocherfreut fest, dass meine Sprachkenntnisse noch immer … passabel
waren.
»Wann musst du anfangen, zu arbeiten?« Ich klappte
die Speisekarte zu und legte sie neben meinen Teller.
Jamie tat es mir nach, seufzte und sagte: »Das
erste Meeting ist morgen früh. Du wirst den Tag also leider ohne
mich verbringen müssen.«
Ich lächelte. »Kein Problem, das schaff ich
schon.«
»Meinst du wirklich, du kommst ganz allein in
dieser Stadt zurecht?«
»Ehrlich gesagt, mache ich mir mehr Sorgen um
dich.« Ich grinste.
Jamie wurde rot. »Da bist du nicht die
Einzige.«
Der Kellner kam, und ich bestellte für uns beide,
denn Jamies Französisch war gelinde gesagt grauenhaft. Geradezu
erbärmlich. Erleichtert und eine Spur erregt verfolgte er, wie die
Sprache der Liebe über meine Lippen kam und in der frischen Pariser
Abendluft verklang.
»Ist dir eigentlich klar, dass wir ohne unsere
Autos gar nicht hier wären?«, bemerkte er, nachdem der Kellner
verschwunden war.
»Was?«
»Wenn du keinen Range Rover fahren würdest und ich
keinen Jag-uu-ar, dann säßen wir jetzt nicht hier. Ich bezweifle,
dass du mich je angerufen hättest. Also verdanken wir diese Reise
im Grunde genommen der Tatsache, dass wir uns damals beim
Autohändler über den Weg gelaufen sind. Ist es nicht unglaublich,
welch verschlungene Wege das Schicksal manchmal einschlägt?«
Ich wand mich auf meinem Stuhl. Gottverdammtes Schicksal. Musst du dich überall
einmischen? Das hatte ich jetzt davon. »Ja, das ist es
wirklich«, murmelte ich.
Er hob sein Weinglas. »Auf Geländewagen und ihren
Spritverbrauch?«
»Genau.« Ich lächelte und hob ebenfalls das Glas.
Warum zum Teufel hatte ich nicht das
Hybridmodell gekauft? »Auf unsere Autos, die dafür gesorgt
haben, dass wir die kommenden fünf Tage gemeinsam in Paris
verbringen können.«
Jetzt wand sich Jamie. Er sah aus, als wäre ihm
nicht wohl in seiner Haut.
Ich nippte an meinem Bordeaux. »Ist alles in
Ordnung?«
»Ich muss dir etwas beichten«, sagte er im selben
Augenblick, als hätte er meine Frage gar nicht gehört.
Das klang besorgniserregend ernst. Geradezu
beklemmend.
Mein Atem ging unwillkürlich flacher.
»Nämlich?«
Jamie rutschte auf seinem Stuhl umher, als träfe er
Vorkehrungen für eine dreistündige Kinovorstellung von Herr der Ringe. »Ich weiß nicht, wie ich es dir
beibringen soll.«
Ich schluckte. »Warum denn?«
»Weil ich fürchte, dass du dich darüber aufregen
wirst.«
»Verstehe.« Ich rüstete mich. Ich wusste, was jetzt
kam. Er würde mir reinen Wein einschenken. Schluss mit den Lügen,
den Betrügereien. Dem Verschweigen der Tatsache, dass er
verheiratet war. Jetzt war das angesagt, was man in den Geschichten
über französische Könige und ihre Mätressen vergeblich sucht:
Ehrlichkeit.
Die große Frage lautete nur: Wollte ich die
Wahrheit überhaupt hören?
Waren seine Sünden lässlich? Würde es alles in
Ordnung bringen, wenn er reinen Tisch machte? Wäre er dann
frei?
Oder war es längst zu spät?
Jedenfalls wäre damit mein Auftrag hinfällig.
Wenn mir ein zu testender Mann gesteht, dass er
verheiratet ist, und dann mit einer höflichen Entschuldigung die
Fliege macht, hat er in meinen Augen bestanden. Dann wandert die
für ihn bestimmte schwarze Karte in den Müll. Nicht, dass das schon
allzu oft der Fall gewesen wäre. Die meisten meiner Testobjekte
geben zwar zu, dass sie verheiratet sind, aber wenn sie Ashlyns
»Na, und?«-Blick aufschnappen, machen sie trotzdem weiter.
Doch wie gesagt, ich konnte Jamie nicht mit den
übrigen Kandidaten vergleichen. Er war ganz anders. Und ich war
definitiv nicht dieselbe wie sonst.
Ich hatte Ashlyn auf diese Reise mitgenommen in der
Hoffnung, sie würde mir helfen, das alles heil durchzustehen, doch
bislang hatte sie sich kaum blicken lassen. Sie passte einfach
nicht in die Gleichung.
Jamie holte tief Luft. Kratzte sich an der Backe
und suchte nach den passenden Worten.
Dann sah er mir in die Augen. »Es kann sein, dass
ich schon früher als geplant nach Hause muss.«
Ich starrte ihn verdutzt an. Was hatte er gesagt?
Ich hatte das Wort »Ehefrau« gar nicht gehört. Vielleicht kam das
ja
im nächsten Satz, wenn er sagte »weil mich meine Frau erwartet«
oder »weil meine Frau möchte, dass ich sie auf eine Dinnerparty
begleite« oder meinetwegen »weil ich vergessen habe, die Kleider
meiner Frau aus der Reinigung zu holen«.
Also setzte ich eine enttäuschte Miene auf und
spielte weiter die Ahnungslose. »Oh, nein! Wieso das denn?«
Er zupfte sich nervös am Ohrläppchen.
Jetzt kommt’s, dachte
ich.
»Weil unser Kunde angeblich in letzter Sekunde ein
weit günstigeres Angebot von einer anderen Firma erhalten hat.
Sollte er sich tatsächlich gegen uns entscheiden, hätte ich
offiziell keinen Grund mehr, hierzubleiben.«
Mit heruntergeklappter Kinnlade lauschte ich seinen
Ausführungen über Auftragsvergabe und Angebotsanfragen, ohne
richtig zuzuhören.
»… Du weißt ja, wie unberechenbar die Leute sind,
vor allem, wenn sie so viel Geld hinblättern müssen. Eben bist du
noch der Star in der Branche, und im nächsten Moment lassen sie
dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Außerdem braucht mich meine
Firma dringend in L.A. Dort warten schon mindestens drei weitere
Kunden.«
»Was?«, würgte ich hervor.
Jamie legte den Kopf schief und fragte sich
offenbar, welches Detail seiner Enthüllung noch weiterer
Erklärungen bedürfen konnte.
»Das wolltest du mir sagen?«
Er runzelte die Stirn. »Ja. Warum fragst du?«
Ich versuchte, meiner Überraschung Herr zu werden,
was ungefähr so gut klappte wie das Reinigen einer
Windschutzscheibe, wenn der Wischer defekt ist. »Dann reisen wir
also früher als geplant ab?«
Jamie seufzte. »Siehst du, ich wusste, du würdest
dich aufregen.
Es tut mir so leid. Morgen erfahre ich hoffentlich Genaueres. Ich
würde ja gern trotzdem bleiben, aber wenn uns der Kunde den
Geldhahn zudreht, wird mich meine Firma stante pede
zurückbeordern.«
Ich nickte benommen. »Schon klar.«
»Bis jetzt steht noch gar nichts fest. Ich wollte
dich nur schon mal vorwarnen. Ich habe es absichtlich nicht früher
erwähnt, um uns nicht den Tag zu verderben.«
Ich klappte den Mund zu und versuchte, mich zu
sammeln und verständnisvoll zu klingen. »Wann müssten wir denn dann
nach Hause fliegen?«
»Übermorgen«, erwiderte er bedrückt. »Du kannst
natürlich gern bleiben, aber ich hätte keine andere Wahl; ich
müsste zurück.«
Ich schwieg, weil ich nicht so recht wusste, was
ich sagen sollte, und weil ich nicht sicher war, dass meine Worte
überhaupt das ausdrücken würden, was ich meinte, falls mir wider
Erwarten etwas einfallen sollte.
Obwohl ich mir meinen Lebensunterhalt damit
verdiene, Gedanken zu lesen und männliches Verhalten vorherzusehen,
mache ich mir keine Illusionen: Man kann nie hundertprozentig
sicher sein. Das hatte Jamie schon mehrfach bewiesen. Was ihn
betraf, hatte ich fast durch die Bank falsch gelegen. Jeder
Versuch, sein Verhalten vorauszusagen, einschließlich dem gerade
eben, hatte mit demselben Gefühlschaos geendet.
Überraschung, Verwirrung, Desillusionierung und
über kurz oder lang totaler Kontrollverlust.
Genau deshalb muss ich emotionslos bleiben.
Gleichgültig. Neutral. Es muss mir egal sein, wie das Ergebnis
ausfällt, ob ich mit meiner Einschätzung richtig liege oder
nicht.
Denn wer keine Erwartungen hegt, wer niemals hofft,
den kann nichts enttäuschen. Ich war sehr stolz darauf gewesen,
diese Lektion gelernt zu haben. Ich hatte mir den Grundsatz fest
eingeprägt und mich an ihm orientiert.
Aber heute Abend hatte ich ihn vergessen, wie so
viele meiner Grundsätze in letzter Zeit. Seit wir uns auf dem Flug
von Vegas kennengelernt hatten, war ich mit jeder Minute in Jamies
Gegenwart vergesslicher geworden. Das Ergebnis gefiel mir gar
nicht.
Ich war noch nie ein großer Fan von Unsicherheit
gewesen. Ich hatte angenommen, ich hätte gelernt,
Unsicherheitsfaktoren auszuschalten. Doch jetzt war die
Unsicherheit hinter mir her, jagte mich durch einen dunklen
Korridor ohne Türen, ohne Fenster, ohne Lichtschalter.
Als Jamie den Arm ausstreckte, um meine Hand zu
tätscheln, zuckte ich zusammen. Das war mir bei keinem Auftrag je
passiert. Ich versuchte, es zu überspielen, indem ich die Hand
umdrehte und unter die seine schob.
»Tut mir leid, dass ich es überhaupt erwähnt habe.
Lass uns erst wieder darüber reden, wenn wir Genaueres wissen,
ja?«
Ich lächelte. »Okay.«
Jamie beugte sich über den Tisch und küsste mich
zärtlich auf die Wange. »Erzähl doch mal, wie kommt es, dass du so
gut Französisch sprichst?«
Ich wich seinem Blick aus, tat, als würde ich
fasziniert das nächtliche Treiben auf den Straßen von Paris
beobachten. Es war mir immer gegen den Strich gegangen, ihn
anzulügen. Aber jetzt, heute Abend, war etwas anders. Eine Stimme
aus meinem Inneren erinnerte mich voller Feindseligkeit, Groll und
Bitterkeit daran, dass es mir nichts ausmachen sollte, weil er
zuerst gelogen hatte. Von Anfang an hatte er gelogen. Jeder
Augenblick, den wir zusammen verbrachten und in dem er seine Frau
nicht erwähnte, war eine Lüge. Mein Vertrauen war bereits in den
Grundfesten erschüttert. Und er hielt den Vorschlaghammer in der
Hand.
Wozu also ein schlechtes Gewissen haben?
»Hab ich in der Schule gelernt«, sagte ich
beiläufig.
»Wow. Erstaunlich. Was du da so von dir gibst,
klingt, als hätte es echt Hand und Fuß. Die meisten Leute vergessen
ihre Sprachkenntnisse aus der Schulzeit, wenn sie die Sprache nicht
regelmäßig verwenden.«
»Nun, ich verwende sie aber regelmäßig, okay? Was
sollen die Fragen?«, fauchte ich.
Wir waren beide gleichermaßen überrascht von diesem
Ausbruch. Ich sank verlegen in mich zusammen, Jamie starrte mich
blinzelnd an und wartete auf die Pointe.
Denn das tun wir normalerweise – wir ziehen
einander auf. Wir spötteln. Wir spielen uns stundenlang gegenseitig
den Ball zu. Inspirieren einander.
Doch diesmal blieb die Pointe aus. Ich lehnte mich
zurück und legte die Hände in den Schoß.
»Entschuldige, ich wollte nicht …«, fing er
vorsichtig an.
»Nein«, unterbrach ich ihn, wütend auf mich selbst,
weil ich mich einen Moment nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Auch
das passiert mir sonst nie. Ich halte meine Gefühle stets unter
Verschluss, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Man durfte sie
offenbar keine Sekunde aus den Augen lassen. Wie die Mitglieder des
französischen Königshauses.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte ich. »Mir
macht wohl doch der Jetlag zu schaffen.«
Jamie musterte mich verunsichert. »Wirklich?«
Ich wedelte mit der Hand. »Ja, ja.«
»Oder bist du vielleicht doch …«
»Es ist nichts«, fuhr ich hastig dazwischen und
lächelte, um ihn zu beruhigen.
Jamie nickte und sah mich aus sanften Augen an. Es
lag so viel aufrichtiges Mitgefühl in seinem Blick, dass ich am
liebsten aufgesprungen wäre, die Serviette auf den Tisch gepfeffert
und »Du bist ein gottverdammter Ehebrecher, also fang endlich an,
dich wie einer zu benehmen!« gebrüllt hätte.
Unsere entrées wurden
serviert. Ich griff schweigend nach der Gabel und begann, mir Steak
Tatare in den Mund zu schaufeln.
Jamie verfolgte, wie ich mich mit rohem Rindfleisch
vollstopfte. »Ich schätze, wir sind beide müde.«
»Mmm-hmm.« Ich nickte mit vollem Mund. Schluckte.
»Ich bin fix und fertig.«
Insgeheim hatte ich wohl die ganze Zeit gehofft, er
würde das Ruder herumreißen, indem er mir reinen Wein einschenkte,
ehe es zu spät war. Dann hätte ich ihm vielleicht, aber nur
vielleicht, verzeihen können. Das schien ja das Motto der Woche zu
sein. Doch es kristallisierte sich zunehmend heraus, dass dieser
Reise nur ein mögliches Ende beschieden war: Jamie würde seinen
Treuetest nicht bestehen. Eine ehrliche Aussprache war mittlerweile
ausgeschlossen – er schien das Wort ehrlich überhaupt nicht zu
kennen. Tja, somit würde die Reise wohl tatsächlich kürzer als
geplant ausfallen, denn heute Abend war Show time. Meine
Unterwäsche aus schwarzrosa Spitze würde die Sache zweifellos
beschleunigen. Wenn alles nach Plan lief, würde ich den Großteil
der heutigen Nacht in meinem eigenen Hotelzimmer verbringen – und
den Großteil des morgigen Tages in der ersten Maschine nach
L.A.
»Wir bringen einfach schnell das Essen hinter uns
und gehen dann schnurstracks ins Hotel«, meinte Jamie
einfühlsam.
Ich schnappte mir ein Stück Brot aus dem Körbchen
und stopfte mir einen viel zu großen Bissen in den Mund. »Klingt
super«, nuschelte ich honigsüß, mit einem leeren Lächeln.