29
In Ketten
Nach einem schnellen Imbiss am Ufer der Seine – Salat und Schinkensandwichs – verbrachten Jamie und ich den Nachmittag mit der Besichtigung einer meiner liebsten unbeachteten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich die Reinkarnation von Marie Antoinette bin«, erklärte ich, während wir durch die Conciergerie, das alte Gefängnis im ersten Arrondissement, schlenderten.
»Wurde sie wirklich hier gefangen gehalten, ehe sie starb?«, fragte Jamie und berührte ehrfürchtig die kalte Steinmauer des Hauptganges.
»Ehe sie exekutiert wurde«, verbesserte ich ihn.
Jamie sah zu der dunklen, von Balken gestützten Decke hoch. »Kein schöner Ort.«
Ich nickte. »Ganz und gar nicht. Vor allem verglichen mit dem Château, in dem ich davor gelebt habe.«
»Und wie kommst du darauf, dass du ihre Reinkarnation bist?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß auch nicht. Wann immer ich etwas über sie lese, beschleicht mich so ein eigenartiges Gefühl. Ich bin einfach total fasziniert von ihrem Leben.«
»Vielleicht stehst du bloß auf Kuchen.«
Ich lachte. »Sieh mal an, da weiß jemand tatsächlich ein wenig über die revolution française Bescheid.«
»Ich habe in Geschichte eben aufgepasst.« Er tat blasiert.
»Du meinst, du hast bei dem Film Die verrückte Geschichte der Welt aufgepasst?«
Er tat meine Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Ich habe das Buch gelesen.«
»Kam da auch Mel Brooks drin vor?«
Er schnitt eine Grimasse.
»Also«, fuhr ich fort, »Marie Antoinette wurde gefangen genommen und hier eingesperrt bis zu ihrem Prozess, der natürlich alles andere als fair war. Man warf ihr Hochverrat vor, nur weil sie dem Königshaus angehörte.« Ich gefiel mir in der Rolle der Fremdenführerin für amerikanische Amateurhistoriker.
Jamie schlich herbei und legte mir den Zeigefinger auf die Lippen. »Pst. Ich glaube kaum, dass deine monarchistischen Ansichten hier so gut ankommen.« Er deutete auf einen Gefängniswächter aus Wachs, der den Eingang zur Zelle der Königin bewachte.
Ich verdrehte die Augen. »Wir sind hier in einem freien Land.«
»Ach, wirklich?«
Ich schüttelte grinsend den Kopf. »Ja, wirklich.«
Er packte meine Hand und zog mich an sich, sodass sich unsere Körper berührten. Ob er wohl spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte? »Dann soll ich dich also von nun an Marie nennen?«, fragte er.
Ich schluckte und lächelte verkrampft. »Eigentlich wurde sie von ihrer Familie und ihren Freunden Antoine genannt«, murmelte ich.
Jamie kam noch näher, bis sein Mund nur Zentimeter von meinem entfernt war. »Okay … Antoine.« Und dann küsste er mich. Mitten im dunkeln, modrigen Gefängnis der Französischen Revolution berührten sich unsere Lippen, wir schlossen die Augen, mein Körper wurde von einer Hitzewelle erfasst. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, indem ich an seine Frau dachte, um meine Wut zu neuem Leben zu erwecken. Vergeblich. Karen Richards Gesicht verblasste noch im selben Moment, in dem ich es mir in Erinnerung rief. Ich war beim besten Willen nicht in der Lage, auch nur einen negativen Gedanken zu fassen.
Also machte ich mich von ihm los und ergriff seine Hand. »Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.«
Jamie salutierte höflich, als wir an dem leblosen Wachposten vorbei in die kleine Zelle gingen. »Monsieur.«
Ich lachte. »Wie dir vielleicht auffällt, war diese Zelle hier verglichen mit den anderen, die wir vorhin gesehen haben, so nobel wie ein Zimmer im Plaza«, sagte ich.
Der Raum war etwa halb so groß wie ein typisches Motelzimmer und mit einem schmalen, niedrigen Bett in der Ecke und einem schlichten Tisch möbliert. Hinter einem mit Stoff bezogenen Paravent stand eine weitere Wachsfigur, die die Zelle aufmerksam zu bewachen schien, als könnte sich die Königin jeden Moment mit ein paar Kung-Fu-Tricks befreien und flüchten.
»Was macht der denn da?« Jamie deutete auf den zweiten Wächter.
Ich hob den Kopf. »Der passt auf, dass sie keinen Fluchtversuch startet. Das hat sie nämlich tatsächlich einmal, zusammen mit dem König.«
Jamie beäugte die Statue skeptisch. »Von wegen. Ich glaube eher, er wartet darauf, dass sie sich auszieht, in der Hoffnung, einen Blick auf den königlichen Busen zu erhaschen.«
Ich schnappte nach Luft. »Unsinn!«
Jamie nickte bedauernd. »Ich wette, das war der begehrteste Posten von allen. Bestimmt haben die Wachen beim Kartenspielen oder beim Würfeln ausgeknobelt, wer die Bewachung der Königin übernehmen durfte. Und die Nachtschicht, die war für den Gefängnisdirektor reserviert.«
Während er einige hinter zentimeterdickem Panzerglas ausgestellte Relikte der Französischen Revolution betrachtete, hörte ich mich aus heiterem Himmel sagen: »Der König, Ludwig der Sechzehnte, hatte übrigens eine Geliebte.«
Als er sich zu mir umwandte, versuchte ich, meine unerwartete Bemerkung zu überspielen, indem ich willkürlich weitere Fakten hinzufügte. »Die meisten Könige hielten sich eine Mätresse. Oder auch mehrere. Manchmal bis zu sieben … eine für jeden Tag der Woche.« Ich gluckste leise.
Jamie reagierte auf meinen Wortschwall lediglich mit einem Nicken. Keinerlei Anzeichen von Reue oder Unbehagen.
Als würde er aufmerksam einem interessanten Vortrag lauschen, zu dessen Thematik er aber nicht den geringsten persönlichen Bezug hatte.
Da er schwieg, fuhr ich schamlos fort: »Es würde mich nicht überraschen, wenn sich Marie Antoinette auch einen Liebhaber genommen hätte. Als eine Art Mitternachtsimbiss. Ein Croissant für den kleinen Hunger zwischendurch sozusagen. Damals war so gut wie niemand seinem Ehepartner treu. Treue war quasi aus der Mode.«
Ich hoffte auf irgendein Echo, eine wie auch immer geartete Reaktion. Vielleicht musste ich nur lange genug nachbohren, die richtigen Worte und Formulierungen finden.
Doch alles, was ihm dazu einfiel, war ein höfliches »Tja, du weißt ja, wie das damals war. Eine Heirat war eine politische Übereinkunft. Vor allem Könige und Königinnen haben nie aus Liebe geheiratet.«
Ich ließ ihn nicht aus den Augen, hielt Ausschau nach Hinweisen auf eine unterschwellige Bedeutung, eine versteckte Botschaft. Wollte er mich etwa dazu bewegen, seinen bösen Machenschaften zu vertrauen, mich zur Religion der Ehebrecher bekehren? Nein. Er kannte sich lediglich aus mit Geschichte, und zwar nicht schlecht.
»Man hat den Menschen geheiratet, von dem man sich am meisten versprochen hat – sozial, wirtschaftlich, politisch. Und dann hat man sich in den Menschen verliebt, der einen glücklich gemacht hat«, fügte er hinzu.
Seine Worte trieben mir fast die Tränen in die Augen. Ich hätte mich am liebsten in seine Arme gestürzt und ihm gesagt, dass ich die Frau sein wollte, die ihn glücklich machte. Dass alles andere nicht wichtig war. Dass wir weglaufen, noch einmal ganz von vorne anfangen konnten. Alles, was davor geschehen war, vergessen. Doch meine Füße fühlten sich zentnerschwer an, als wäre ich festgefroren.
Und obwohl mir meine Erfahrung als Treuetesterin sagte, dass es nicht ratsam war, während eines Auftrages das Thema Untreue anzusprechen, konnte ich nicht anders, als ihn zu fragen: »Glaubst du, das gibt es auch heute noch?«
Er kam zu mir, stützte sich mit den Händen am hölzernen Geländer ab, das die Touristen von den Ausstellungsstücken fernhielt. »Politisch motivierte Eheschließungen, meinst du?«, fragte er ungläubig, als wollte er sagen: »Lebst du eigentlich auf dem Mond, oder hast du gerade eins über die Rübe gekriegt?«
»Ganz recht – und die Mätressen«, erwiderte ich vorsichtig, wobei ich das letzte Wort sehr klar und deutlich aussprach und erneut auf eine Reaktion wartete. Wieder vergebens. »Glaubst du, die Männer legen sich auch heute noch Mätressen zu und halten sie irgendwo versteckt?«
Er lachte. »Wie Schwarzgeld auf einem Schweizer Bankkonto?«
Ich erwiderte sein Lachen, obwohl ich allmählich die Geduld verlor. Warum machte er Witze? Warum nahm er meine Fragen nicht ernst? Das sollte er nämlich! Schließlich hielt er mich schon die ganze Zeit als seine geheime Geliebte, und ich fand das ganz und gar nicht zum Lachen.
»Das war nicht im Scherz gemeint«, beharrte ich sanft.
Er sah mir in die Augen. »Natürlich tun sie das«, sagte er sachlich. »Wo es Versprechen gibt, gibt es auch gebrochene Versprechen. Das liegt eben in der Natur des Menschen.«
Ich blinzelte verblüfft. Was zum Teufel sollte das nun wieder heißen? Dass Regeln dazu da sind, um gebrochen zu werden, und wir uns damit abfinden sollten? Ohne mich.
Wir wandten uns wieder der Glasvitrine zu, in der unter anderem Marie Antoinettes Wasserkrug ausgestellt war sowie ein unterschriebenes Dokument, das von ihrer Gefangenschaft zeugte. War Jamies Bemerkung vielleicht als allgemeine Aussage zum Thema Ehe zu verstehen? Vielleicht wollte er ausdrücken, die Ehe sei nur ein von Staat und Gesellschaft gutgeheißenes, schriftlich festgehaltenes Prinzip, aber leider völlig wider die Natur des Menschen und deshalb quasi dazu verdammt, entweiht zu werden.
Er sah mich an und lächelte. Er hatte keine Ahnung, was für Gedanken mir durch den Kopf rasten.
Nein, sagte ich mir. Darum geht es hier nicht. Es geht nicht um ein Stück Papier oder um Verhaltensnormen, sondern um Ehrlichkeit. Um einen der wenigen Aspekte des menschlichen Lebens, der sich der Kontrolle durch eine von Benimmregeln und -empfehlungen geprägte Gesellschaft entzieht. Er hatte mich angelogen, und seine Frau ebenfalls. Somit war er keinen Deut besser als ein französischer König mit einem Schlafzimmer voller Mätressen.
Ich holte tief Luft und sah mich im Raum um. Schlagartig wurde mir wieder bewusst, dass ich aus einem bestimmten Grund hier war. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Vielleicht würde auch Jamie keinen fairen Prozess bekommen, aber wenn uns die Französische Revolution etwas gelehrt hat, dann doch wohl, dass im Kampf um eine große Sache kein Platz für Gefühle ist. Kein Platz für Zweifel.
Verrat ist und bleibt Verrat.
War die Geschichte dazu bestimmt, sich zu wiederholen? Konnte es sein, dass ich mich heute, zweihundert Jahre später, als mögliche Reinkarnation von Marie Antoinette, erneut zur Gefangenen machte?
Und war wirklich ich es, die in Ketten gelegt wurde? Die ganze Reise war eine Falle, und von außen betrachtet, musste man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass Jamie im Begriff war, geradewegs hineinzutappen. Doch insgeheim wusste ich, dass ich genauso in mein Verderben lief wie er.
 
Als es Zeit für das Abendessen wurde, setzten wir uns unweit von unserem Hotel in der Avenue de L’Opera in eines der romantischen Bistros unter freiem Himmel. Ich beobachtete das Treiben auf der Straße und fühlte, dem Anlass dieser Reise zum Trotz, das übliche Kribbeln im Magen. Paris! Die Lichter, der Lärm, selbst die Gerüche brachten so viele Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt vor über einem Jahr zurück.
Damals war ich im Auftrag einer Amerikanerin gekommen, die einen Franzosen geheiratet hatte (einer dieser Urlaubsflirts, aus denen unversehens Ernst wird). Als der fortan in den Vereinigten Staaten lebende Gatte zu einem Besuch bei seiner Familie aufzubrechen gedachte, fürchtete sie, in der Heimat könnte der typisch französische Schürzenjäger-Instinkt in ihm erwachen.
»Die meisten französischen Männer glauben gar nicht an die Monogamie, müssen Sie wissen«, hatte sie mir bei unserer ersten Besprechung erzählt.
Und sie sollte recht behalten. Für Pierre LeFavre war Monogamie offenbar ein unübersetzbares Konzept.
Ich trat als gebildete amerikanische Geschäftsfrau auf, die wegen eines wichtigen Abschlusses nach Frankreich gereist war. Mein Französisch sollte »passabel« sein, mein Sinn für guten Wein und gutes Essen ausgeprägt.
Da mein Schulfranzösisch für diese Zwecke nicht ausreichte, nahm ich speziell für diesen Auftrag drei Wochen Intensivunterricht, und nach dem Test verlängerte ich meinen Aufenthalt in Frankreich um zwei Wochen. Ich hatte mich verliebt. In Paris. In die Stadt Paris, meine ich. Damals nahm auch meine Besessenheit von der Geschichte Frankreichs ihren Anfang.
Jetzt, über ein Jahr später, stellte ich hocherfreut fest, dass meine Sprachkenntnisse noch immer … passabel waren.
»Wann musst du anfangen, zu arbeiten?« Ich klappte die Speisekarte zu und legte sie neben meinen Teller.
Jamie tat es mir nach, seufzte und sagte: »Das erste Meeting ist morgen früh. Du wirst den Tag also leider ohne mich verbringen müssen.«
Ich lächelte. »Kein Problem, das schaff ich schon.«
»Meinst du wirklich, du kommst ganz allein in dieser Stadt zurecht?«
»Ehrlich gesagt, mache ich mir mehr Sorgen um dich.« Ich grinste.
Jamie wurde rot. »Da bist du nicht die Einzige.«
Der Kellner kam, und ich bestellte für uns beide, denn Jamies Französisch war gelinde gesagt grauenhaft. Geradezu erbärmlich. Erleichtert und eine Spur erregt verfolgte er, wie die Sprache der Liebe über meine Lippen kam und in der frischen Pariser Abendluft verklang.
»Ist dir eigentlich klar, dass wir ohne unsere Autos gar nicht hier wären?«, bemerkte er, nachdem der Kellner verschwunden war.
»Was?«
»Wenn du keinen Range Rover fahren würdest und ich keinen Jag-uu-ar, dann säßen wir jetzt nicht hier. Ich bezweifle, dass du mich je angerufen hättest. Also verdanken wir diese Reise im Grunde genommen der Tatsache, dass wir uns damals beim Autohändler über den Weg gelaufen sind. Ist es nicht unglaublich, welch verschlungene Wege das Schicksal manchmal einschlägt?«
Ich wand mich auf meinem Stuhl. Gottverdammtes Schicksal. Musst du dich überall einmischen? Das hatte ich jetzt davon. »Ja, das ist es wirklich«, murmelte ich.
Er hob sein Weinglas. »Auf Geländewagen und ihren Spritverbrauch?«
»Genau.« Ich lächelte und hob ebenfalls das Glas. Warum zum Teufel hatte ich nicht das Hybridmodell gekauft? »Auf unsere Autos, die dafür gesorgt haben, dass wir die kommenden fünf Tage gemeinsam in Paris verbringen können.«
Jetzt wand sich Jamie. Er sah aus, als wäre ihm nicht wohl in seiner Haut.
Ich nippte an meinem Bordeaux. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich muss dir etwas beichten«, sagte er im selben Augenblick, als hätte er meine Frage gar nicht gehört.
Das klang besorgniserregend ernst. Geradezu beklemmend.
Mein Atem ging unwillkürlich flacher. »Nämlich?«
Jamie rutschte auf seinem Stuhl umher, als träfe er Vorkehrungen für eine dreistündige Kinovorstellung von Herr der Ringe. »Ich weiß nicht, wie ich es dir beibringen soll.«
Ich schluckte. »Warum denn?«
»Weil ich fürchte, dass du dich darüber aufregen wirst.«
»Verstehe.« Ich rüstete mich. Ich wusste, was jetzt kam. Er würde mir reinen Wein einschenken. Schluss mit den Lügen, den Betrügereien. Dem Verschweigen der Tatsache, dass er verheiratet war. Jetzt war das angesagt, was man in den Geschichten über französische Könige und ihre Mätressen vergeblich sucht: Ehrlichkeit.
Die große Frage lautete nur: Wollte ich die Wahrheit überhaupt hören?
Waren seine Sünden lässlich? Würde es alles in Ordnung bringen, wenn er reinen Tisch machte? Wäre er dann frei?
Oder war es längst zu spät?
Jedenfalls wäre damit mein Auftrag hinfällig.
Wenn mir ein zu testender Mann gesteht, dass er verheiratet ist, und dann mit einer höflichen Entschuldigung die Fliege macht, hat er in meinen Augen bestanden. Dann wandert die für ihn bestimmte schwarze Karte in den Müll. Nicht, dass das schon allzu oft der Fall gewesen wäre. Die meisten meiner Testobjekte geben zwar zu, dass sie verheiratet sind, aber wenn sie Ashlyns »Na, und?«-Blick aufschnappen, machen sie trotzdem weiter.
Doch wie gesagt, ich konnte Jamie nicht mit den übrigen Kandidaten vergleichen. Er war ganz anders. Und ich war definitiv nicht dieselbe wie sonst.
Ich hatte Ashlyn auf diese Reise mitgenommen in der Hoffnung, sie würde mir helfen, das alles heil durchzustehen, doch bislang hatte sie sich kaum blicken lassen. Sie passte einfach nicht in die Gleichung.
Jamie holte tief Luft. Kratzte sich an der Backe und suchte nach den passenden Worten.
Dann sah er mir in die Augen. »Es kann sein, dass ich schon früher als geplant nach Hause muss.«
Ich starrte ihn verdutzt an. Was hatte er gesagt? Ich hatte das Wort »Ehefrau« gar nicht gehört. Vielleicht kam das ja im nächsten Satz, wenn er sagte »weil mich meine Frau erwartet« oder »weil meine Frau möchte, dass ich sie auf eine Dinnerparty begleite« oder meinetwegen »weil ich vergessen habe, die Kleider meiner Frau aus der Reinigung zu holen«.
Also setzte ich eine enttäuschte Miene auf und spielte weiter die Ahnungslose. »Oh, nein! Wieso das denn?«
Er zupfte sich nervös am Ohrläppchen.
Jetzt kommt’s, dachte ich.
»Weil unser Kunde angeblich in letzter Sekunde ein weit günstigeres Angebot von einer anderen Firma erhalten hat. Sollte er sich tatsächlich gegen uns entscheiden, hätte ich offiziell keinen Grund mehr, hierzubleiben.«
Mit heruntergeklappter Kinnlade lauschte ich seinen Ausführungen über Auftragsvergabe und Angebotsanfragen, ohne richtig zuzuhören.
»… Du weißt ja, wie unberechenbar die Leute sind, vor allem, wenn sie so viel Geld hinblättern müssen. Eben bist du noch der Star in der Branche, und im nächsten Moment lassen sie dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Außerdem braucht mich meine Firma dringend in L.A. Dort warten schon mindestens drei weitere Kunden.«
»Was?«, würgte ich hervor.
Jamie legte den Kopf schief und fragte sich offenbar, welches Detail seiner Enthüllung noch weiterer Erklärungen bedürfen konnte.
»Das wolltest du mir sagen?«
Er runzelte die Stirn. »Ja. Warum fragst du?«
Ich versuchte, meiner Überraschung Herr zu werden, was ungefähr so gut klappte wie das Reinigen einer Windschutzscheibe, wenn der Wischer defekt ist. »Dann reisen wir also früher als geplant ab?«
Jamie seufzte. »Siehst du, ich wusste, du würdest dich aufregen. Es tut mir so leid. Morgen erfahre ich hoffentlich Genaueres. Ich würde ja gern trotzdem bleiben, aber wenn uns der Kunde den Geldhahn zudreht, wird mich meine Firma stante pede zurückbeordern.«
Ich nickte benommen. »Schon klar.«
»Bis jetzt steht noch gar nichts fest. Ich wollte dich nur schon mal vorwarnen. Ich habe es absichtlich nicht früher erwähnt, um uns nicht den Tag zu verderben.«
Ich klappte den Mund zu und versuchte, mich zu sammeln und verständnisvoll zu klingen. »Wann müssten wir denn dann nach Hause fliegen?«
»Übermorgen«, erwiderte er bedrückt. »Du kannst natürlich gern bleiben, aber ich hätte keine andere Wahl; ich müsste zurück.«
Ich schwieg, weil ich nicht so recht wusste, was ich sagen sollte, und weil ich nicht sicher war, dass meine Worte überhaupt das ausdrücken würden, was ich meinte, falls mir wider Erwarten etwas einfallen sollte.
Obwohl ich mir meinen Lebensunterhalt damit verdiene, Gedanken zu lesen und männliches Verhalten vorherzusehen, mache ich mir keine Illusionen: Man kann nie hundertprozentig sicher sein. Das hatte Jamie schon mehrfach bewiesen. Was ihn betraf, hatte ich fast durch die Bank falsch gelegen. Jeder Versuch, sein Verhalten vorauszusagen, einschließlich dem gerade eben, hatte mit demselben Gefühlschaos geendet.
Überraschung, Verwirrung, Desillusionierung und über kurz oder lang totaler Kontrollverlust.
Genau deshalb muss ich emotionslos bleiben. Gleichgültig. Neutral. Es muss mir egal sein, wie das Ergebnis ausfällt, ob ich mit meiner Einschätzung richtig liege oder nicht.
Denn wer keine Erwartungen hegt, wer niemals hofft, den kann nichts enttäuschen. Ich war sehr stolz darauf gewesen, diese Lektion gelernt zu haben. Ich hatte mir den Grundsatz fest eingeprägt und mich an ihm orientiert.
Aber heute Abend hatte ich ihn vergessen, wie so viele meiner Grundsätze in letzter Zeit. Seit wir uns auf dem Flug von Vegas kennengelernt hatten, war ich mit jeder Minute in Jamies Gegenwart vergesslicher geworden. Das Ergebnis gefiel mir gar nicht.
Ich war noch nie ein großer Fan von Unsicherheit gewesen. Ich hatte angenommen, ich hätte gelernt, Unsicherheitsfaktoren auszuschalten. Doch jetzt war die Unsicherheit hinter mir her, jagte mich durch einen dunklen Korridor ohne Türen, ohne Fenster, ohne Lichtschalter.
Als Jamie den Arm ausstreckte, um meine Hand zu tätscheln, zuckte ich zusammen. Das war mir bei keinem Auftrag je passiert. Ich versuchte, es zu überspielen, indem ich die Hand umdrehte und unter die seine schob.
»Tut mir leid, dass ich es überhaupt erwähnt habe. Lass uns erst wieder darüber reden, wenn wir Genaueres wissen, ja?«
Ich lächelte. »Okay.«
Jamie beugte sich über den Tisch und küsste mich zärtlich auf die Wange. »Erzähl doch mal, wie kommt es, dass du so gut Französisch sprichst?«
Ich wich seinem Blick aus, tat, als würde ich fasziniert das nächtliche Treiben auf den Straßen von Paris beobachten. Es war mir immer gegen den Strich gegangen, ihn anzulügen. Aber jetzt, heute Abend, war etwas anders. Eine Stimme aus meinem Inneren erinnerte mich voller Feindseligkeit, Groll und Bitterkeit daran, dass es mir nichts ausmachen sollte, weil er zuerst gelogen hatte. Von Anfang an hatte er gelogen. Jeder Augenblick, den wir zusammen verbrachten und in dem er seine Frau nicht erwähnte, war eine Lüge. Mein Vertrauen war bereits in den Grundfesten erschüttert. Und er hielt den Vorschlaghammer in der Hand.
Wozu also ein schlechtes Gewissen haben?
»Hab ich in der Schule gelernt«, sagte ich beiläufig.
»Wow. Erstaunlich. Was du da so von dir gibst, klingt, als hätte es echt Hand und Fuß. Die meisten Leute vergessen ihre Sprachkenntnisse aus der Schulzeit, wenn sie die Sprache nicht regelmäßig verwenden.«
»Nun, ich verwende sie aber regelmäßig, okay? Was sollen die Fragen?«, fauchte ich.
Wir waren beide gleichermaßen überrascht von diesem Ausbruch. Ich sank verlegen in mich zusammen, Jamie starrte mich blinzelnd an und wartete auf die Pointe.
Denn das tun wir normalerweise – wir ziehen einander auf. Wir spötteln. Wir spielen uns stundenlang gegenseitig den Ball zu. Inspirieren einander.
Doch diesmal blieb die Pointe aus. Ich lehnte mich zurück und legte die Hände in den Schoß.
»Entschuldige, ich wollte nicht …«, fing er vorsichtig an.
»Nein«, unterbrach ich ihn, wütend auf mich selbst, weil ich mich einen Moment nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Auch das passiert mir sonst nie. Ich halte meine Gefühle stets unter Verschluss, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Man durfte sie offenbar keine Sekunde aus den Augen lassen. Wie die Mitglieder des französischen Königshauses.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte ich. »Mir macht wohl doch der Jetlag zu schaffen.«
Jamie musterte mich verunsichert. »Wirklich?«
Ich wedelte mit der Hand. »Ja, ja.«
»Oder bist du vielleicht doch …«
»Es ist nichts«, fuhr ich hastig dazwischen und lächelte, um ihn zu beruhigen.
Jamie nickte und sah mich aus sanften Augen an. Es lag so viel aufrichtiges Mitgefühl in seinem Blick, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre, die Serviette auf den Tisch gepfeffert und »Du bist ein gottverdammter Ehebrecher, also fang endlich an, dich wie einer zu benehmen!« gebrüllt hätte.
Unsere entrées wurden serviert. Ich griff schweigend nach der Gabel und begann, mir Steak Tatare in den Mund zu schaufeln.
Jamie verfolgte, wie ich mich mit rohem Rindfleisch vollstopfte. »Ich schätze, wir sind beide müde.«
»Mmm-hmm.« Ich nickte mit vollem Mund. Schluckte. »Ich bin fix und fertig.«
Insgeheim hatte ich wohl die ganze Zeit gehofft, er würde das Ruder herumreißen, indem er mir reinen Wein einschenkte, ehe es zu spät war. Dann hätte ich ihm vielleicht, aber nur vielleicht, verzeihen können. Das schien ja das Motto der Woche zu sein. Doch es kristallisierte sich zunehmend heraus, dass dieser Reise nur ein mögliches Ende beschieden war: Jamie würde seinen Treuetest nicht bestehen. Eine ehrliche Aussprache war mittlerweile ausgeschlossen – er schien das Wort ehrlich überhaupt nicht zu kennen. Tja, somit würde die Reise wohl tatsächlich kürzer als geplant ausfallen, denn heute Abend war Show time. Meine Unterwäsche aus schwarzrosa Spitze würde die Sache zweifellos beschleunigen. Wenn alles nach Plan lief, würde ich den Großteil der heutigen Nacht in meinem eigenen Hotelzimmer verbringen – und den Großteil des morgigen Tages in der ersten Maschine nach L.A.
»Wir bringen einfach schnell das Essen hinter uns und gehen dann schnurstracks ins Hotel«, meinte Jamie einfühlsam.
Ich schnappte mir ein Stück Brot aus dem Körbchen und stopfte mir einen viel zu großen Bissen in den Mund. »Klingt super«, nuschelte ich honigsüß, mit einem leeren Lächeln.
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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