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Senderwechsel
Der Mann, den ich suchte, hatte es sich an einem
der Tische am Rande der Hotelbar gemütlich gemacht. Dunkles Haar,
dunkler Anzug, Krawatte gelockert, oberster Hemdknopf offen. Er
hatte den linken Arm über die Rücklehne der Sitzbank drapiert,
trommelte mit den Fingern im Takt der dezenten Loungemusik auf den
roten Samt und nahm dann und wann einen Schluck von seinem
Schlummertrunk.
Ich stand im Durchgang zur Hotellobby und
beobachtete ihn unbemerkt.
Er langweilte sich. Wartete auf Unterhaltung,
Zerstreuung. Zumindest für diesen Abend.
Er ließ sein geschultes Auge durch den Raum
schweifen und taxierte das einzige weibliche Wesen in der Bar:
Bundfaltenhose, biederer Rollkragenpulli. Resigniert wandte er den
Blick ab und nippte erneut an seinem Drink.
Das war mein Zeichen.
Ich strich mir eine lose Haarsträhne aus der Stirn
und betrat die Bar. Ganz gemächlich, damit er auch wirklich von mir
Notiz nehmen konnte, was aufgrund der übersichtlichen Anzahl an
Gästen und seiner bereits geschärften Wahrnehmung nicht weiter
schwierig war.
Manchmal ist einem das Glück eben besonders
hold.
Normalerweise sehen sie zuerst auf die Beine. Die
meisten Männer haben eine Schwäche für nackte Beine. Tatsache. Vor
zwei Jahren hätte ich noch behauptet, die Gesamtheit der
heterosexuellen Männer würde zu gleichen Teilen auf Beine, Po oder
Brüste sehen (die »Dreifaltigkeit der weiblichen Reize«, wie ich es
nenne). Doch inzwischen weiß ich: Die Mehrheit guckt zuerst auf die
Beine. Ich habe trotzdem immer drei Outfits im Gepäck, die je ein
Element der Dreifaltigkeit besonders betonen. Nur für alle Fälle.
Aber ich fange immer mit den Beinen an, und ich liege selten falsch
damit.
Ich war auf Firmenflittchen getrimmt: knappes
schwarzes Kostüm, schwarze Riemchensandalen von Manolo, keine
Strumpfhose. Seriös, aber durchaus freizügig. Ein Ensemble, das
signalisiert: Ich will ernst genommen werden – aber es gefällt mir
auch, wenn ich von den Männern bemerkt werde.
In meinem Fall geht es nicht darum, ob es mir
gefällt, bemerkt zu werden. Es gehört zu
meinem Job, bemerkt zu werden. Ich erledige nur meine Arbeit, auch
wenn manch einer diesen Aspekt kritisch sieht.
Im Grunde war es ziemlich einerlei, ob ich es mit
einem Beinfetischisten zu tun hatte oder nicht, als sein Blick erst
einmal von meinen Knöcheln über die Schenkel nach oben bis zum Saum
meines Minirocks gewandert war. Natürlich hörte er dort nicht auf;
das tun die wenigsten. Allerdings können sie sich ab hier nicht
mehr auf die Augen verlassen. Vom Rocksaum aufwärts ist die
Fantasie gefordert.
Ich stolzierte an seinem Tisch vorüber zum Tresen,
als würde ich seine hungrigen Blicke nicht bemerken, und nahm auf
einem der Barhocker Platz.
»Grey Goose Wodka Gimlet, bitte.«
Der Barkeeper nickte, erfreut darüber, dass es an
diesem ereignislosen Mittwochabend endlich etwas zu tun gab
(abgesehen
vom Polieren der Martinigläser), und legte mir eine
Cocktailserviette hin.
Mit einem ermatteten Seufzer stützte ich einen
Ellbogen auf den Tresen und verfolgte, das Kinn in die Hand
gestützt, wie mein Drink gemixt wurde. Meine Körpersprache
signalisierte Überdruss. Langer Tag, lange Reise, lange, einsame Nacht in Aussicht.
Es wirkte.
Als mir der Barkeeper meinen Drink servierte und
ich nach dem Portemonnaie griff, registrierte ich aus dem
Augenwinkel, wie eine druckfrische Hundertdollarnote über den
Tresen geschoben wurde. »Das geht auf mich.«
Ich wandte den Kopf und musterte meinen Gönner
etwas verdutzt, als hätte ich überhaupt nicht mit seinem Erscheinen
gerechnet. Wie sollte ich auch?
»Sehr liebenswürdig, danke«, sagte ich.
Er grinste schmierig. »Gern geschehen.«

Ich saß in dieser Bar, weil ich etwa eine Woche
zuvor einen Anruf bekommen hatte. Von einer Frau, die meine Hilfe
benötigte.
Das tut jeder, der diese spezielle Nummer wählt.
Genau deshalb gibt es die Nummer ja auch.
Wir hatten ein Treffen für den darauffolgenden Tag
vereinbart.
»Ich komme zu Ihnen«, hatte ich wie immer
angeboten. Wer besagte Nummer wählt, will diese Unterredung
normalerweise in vertrauter Umgebung hinter sich bringen.
Und so fand ich mich tags darauf in ihrem großen,
elegant eingerichteten Wohnzimmer wieder und hörte mir ihre
Geschichte an. Das Übliche. Ich hatte sie bestimmt schon
mindestens zweihundert Mal gehört, mal mit leichten Abweichungen,
mal beinahe Wort für Wort gleichlautend.
Aber das Motiv war stets dasselbe: Angst.
»Das hier hat unser Hausmädchen neulich beim
Waschen in der Hosentasche meines Mannes gefunden.« Sie griff nach
einem kleinen, zerknitterten Zettel auf dem Sofatisch, studierte
ihn in Gedanken versunken, als hoffte sie, wenn sie ihn zum
hundertundzweiten Mal las, würde dort plötzlich etwas anderes
stehen, oder es würde sich eine neue, weniger unerfreuliche
Erklärung dafür finden, damit sie mich nach Hause schicken
konnte.
Vergeblich.
Mit einem bedrückten Seufzen reichte sie mir
widerstrebend das Stück Papier und putzte sich mit einem
gebrauchten Kleenex die Nase. »Entschuldigen Sie, ich bin völlig
durch den Wind. Ich kann nicht fassen, was ich hier mache.«
Ich betrachtete die handgeschriebene Notiz und
nickte verständnisvoll.
»Es war gut, dass Sie mich angerufen haben.
Klarheit zu schaffen, ist auf alle Fälle besser als sich ständig
mit Fragen zu quälen, nicht wahr?«
Sie starrte mich zweifelnd an. »Vermutlich,
ja.«
»Es ist besser«, versicherte ich ihr, wie schon
unzähligen Frauen vor ihr. »Vertrauen Sie mir.«
Manchmal ist es für die Betroffenen in einer
solchen Situation nicht leicht, das zu erkennen. Genauer gesagt,
wollen es manche Frauen einfach nicht wahrhaben. Herz und Verstand sind sich in derartigen
Angelegenheiten nur allzu oft uneins.
»Was könnte das Ihrer Ansicht nach bedeuten?« Sie
zeigte auf den zerknitterten Zettel in meiner Hand.
Ich fuhr mit der Daumenkuppe über die schwarze
Tinte. »Schwer zu sagen«, erwiderte ich wahrheitsgetreu. »Solche
Zettel sehe ich oft. Manche entpuppen sich als harmlos, andere
wiederum« – ich legte eine Pause ein, damit sie sich seelisch
darauf einstellen konnte – »sind nicht ganz so harmlos.«
Sie wandte sich mit Tränen in den Augen ab und
seufzte brunnentief. »Die Freundin, die mir Ihre Dienste empfohlen
hat, meinte, Sie würden eine Art Test
durchführen.«

Ich sah meinem Gegenüber in die Augen, während
wir einander zuprosteten und dann synchron die Gläser zum Mund
führten.
»Was führt Sie denn nach Denver?«, fragte ich und
biss mir auf die Unterlippe – ein hervorragender Kniff, um zu
suggerieren, dass ich zwar gerade mal
selbstbewusst genug war, diese Frage zu stellen, aber nicht so
selbstbewusst, dass mich die Situation nicht nervös machen
würde.
Auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, wusste
ich nämlich eine ganze Menge über diesen Mann. Jedenfalls mehr als
ihm lieb war. Und mit Sicherheit mehr als jede andere x-beliebige
Frau in einer Hotelbar.
Ich wusste zum Beispiel, dass er selbstsichere
Frauen mag. Aber nicht zu selbstsicher, sonst hat er nicht mehr das
Gefühl, sie erobert zu haben. Wenn sie eine
Spur schüchtern ist, ist die Herausforderung größer. Er mag es,
wenn die Frau Interesse signalisiert, den ersten Schritt tut, aber
danach möchte er das Kommando übernehmen.
Mit diesem Typ Mann habe ich häufig zu tun.
»Meine Firma kauft ein hier ansässiges
Unternehmen«, erklärte er.
Ich nickte fasziniert, als würde mich das brennend
interessieren. »Ach, ja? Wie heißt denn Ihre Firma?«
Der Mann hob einen Finger, als wollte er sagen
»Zügeln
Sie Ihre Neugier noch eine Sekunde«, griff in seine Jackentasche
und legte eine Visitenkarte vor mir auf den Tresen. Wozu viele Worte machen, wenn eine Karte alles
sagt?
Ich zog sie näher. »Kelen Industries«, las ich
halblaut, mit schief gelegtem Kopf und gespielter Neugier, als
wüsste ich noch nicht, was darauf stand.
Ich hob den Kopf.
»Moment mal«, murmelte ich, als käme mir der Name
bekannt vor. »Diese Firma kenne ich.« Ich legte die Stirn in
Falten, als würde ich angestrengt nachdenken.
Der Mann lachte leise, beinahe herablassend. »Das
wage ich, zu bezweifeln. Wir produzieren...«
»Automotoren!«, unterbrach ich ihn mit der
Begeisterung eines Groupies beim Anblick seines
Lieblingsstars.
»Stimmt.« Er musterte mich erstaunt.
»Sie haben doch gerade den neuen
Fünf-Komma-zwei-Liter-Zehnzylinder herausgebracht! Konkurrenz für
den V8 aus Japan.«
Er blinzelte ungläubig und musterte mich dann
derart sehnsüchtig, dass ich schon fürchtete, er würde gleich an
Ort und Stelle über mich herfallen.
»Wie kommt es, dass sich eine junge Frau wie
Sie« – er betrachtete mich noch einmal
eingehend, um zu überprüfen, ob nicht doch eine mit Heftpflaster
zusammengeflickte Nickelbrille aus meiner Brusttasche lugte oder
ein grafischer Taschenrechner aus meiner Handtasche – »so gut mit
Automotoren auskennt?«
»Ist bloß ein Hobby von mir«, sagte ich und schlug
die Augen nieder, als hätte er gerade eine heimliche Schwäche von
mir entdeckt. Ein peinliches Geheimnis, das ich vor einem Insider
wie ihm allerdings nur schwer verhehlen konnte.
Er lächelte. »Ich sitze dort drüben«, sagte er ohne
Umschweife. »Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?«
Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass er eine
solche Einladung aussprach, so rasch, wie sie gekommen war. Aber
ich hatte bereits vorhergesehen, dass ich mich nicht sonderlich
würde ins Zeug legen müssen. Der Mann war ein notorischer
Aufreißer. Zum Glück bin ich nicht eifersüchtig.
Es ist mein Job, der Einladung zu folgen.
Aber ich muss darauf warten, bis sie ausgesprochen
wird, ganz egal, wie lange es dauert. Die Einladung ist
obligatorisch. Ich darf Einladungen annehmen, nicht aber selbst
einladen. Das ist eine der Regeln. Und da ich die Regeln selbst
aufgestellt habe, wäre es ziemlich dumm, sie zu brechen. Regeln
sind in meinen Augen dazu da, um eingehalten zu werden. Sie
existieren aus einem bestimmten Grund, und zwar meist aus einem
triftigen.
»Also, ich...« Ich sah zögernd auf die Uhr.
»Nur ein paar Minuten«, drängte er und lächelte
gewinnend.
Ich überlegte, gerade lange genug, um ihn den
Nervenkitzel einer möglichen Zurückweisung spüren zu lassen – und
den daraus resultierenden Adrenalinkick eines ersten kleinen
Sieges. Männer wie er leben für diesen Nervenkitzel, den sie zu
Hause schon lange nicht mehr erleben. Und in Anbetracht seines
dicken Bankkontos vermutlich auch sonst nicht oft. Wer so reich ist
wie er, bekommt selten einen Korb, und das wusste er auch.
»Also, gut«, gab ich nach.
Er lächelte, nahm zuvorkommend unsere Getränke und
ging voran zu seinem Tisch, an den problemlos fünf Personen gepasst
hätten. Sechs, wenn sie sich gut leiden konnten. Er wartete, bis
ich saß, stellte die Gläser ab und nahm dann neben mir Platz.
»Woher kommen Sie?«, erkundigte er sich und nippte
an seinem Drink.
»Aus L.A.«, gab ich zurück und liebkoste versonnen
mein Glas. »Und Sie?«
Während er meine Frage überdachte (nicht, dass sie
besonders kompliziert gewesen wäre, aber zu diesem Zeitpunkt ist
die Blutzufuhr zum Gehirn erfahrungsgemäß bereits beeinträchtigt,
sodass selbst die Beantwortung einfacher Fragen schwerfällt), griff
ich nach unten, um eines meiner Fersenriemchen
zurechtzurücken.
Dieses Manöver erfüllt gleich mehrere Zwecke. Es
bietet mir die Möglichkeit, die Hand lasziv an meinem Bein entlang
nach unten gleiten zu lassen, und für ihn ist es eine gute
Gelegenheit, unbemerkt den Ehering abzunehmen, wenn er will.
Er wollte.
Als ich mich aufrichtete und unauffällig auf seine
linke Hand schielte, war der Ring verschwunden.
»Newport, Orange County«, sagte er ungerührt. »Wie
es aussieht, sind wir Nachbarn.« Nichts an seiner unbekümmerten
Antwort deutete darauf hin, dass er das symbolträchtige
Schmuckstück abgelegt hatte. Als wäre das keine große Affäre. Mit
derselben Selbstverständlichkeit, mit der andere Menschen abends
vor dem Zubettgehen ihre Uhr ablegen, legte er, wenn er in einer
Bar ein Mädchen kennenlernte, den Ehering ab.
Ich schenkte ihm ein breites Lächeln. »Oh, ich
liebe diese Gegend! Wunderschöne Strände. Meine beste Freundin
wohnt gleich nebenan in Huntington.«
»Sie sollten mich mal besuchen kommen«, regte er
mit einem vielsagenden Grinsen an. »Ich habe einen tollen Pool mit
Blick auf den Pazifik.«
Ich kicherte verlegen, um ihn glauben zu lassen,
dass ich mich zwar nicht ganz wohl in meiner Haut fühlte, mich
davon aber nicht weiter beirren ließ.
»Ja, vielleicht mache ich das mal«, murmelte ich,
obwohl
wir beide – wenngleich aus
unterschiedlichen Gründen – wussten, dass das eher unwahrscheinlich
war, was auch immer in den kommenden Stunden noch passieren mochte.
Es geht doch nichts über einen klaren Wissensvorsprung.

»Ich nenne es den Treuetest«, hatte ich der Frau
erläutert, die mir mit Tränen in den Augen gegenüber saß. »Wir
werden jetzt gemeinsam überlegen, wann und wo ich den Test
durchführen werde. Am besten irgendwo auswärts, denn meiner
Erfahrung nach passieren die meisten Seitensprünge unterwegs, etwa
auf Geschäftsreisen. Dann werde ich eine ›zufällige‹ Begegnung
inszenieren und mich Ihrem Mann als ›Gelegenheit‹
präsentieren.«
Sie lauschte meinen Worten konzentriert, nahm jedes
schmerzliche Detail auf, nickte bedächtig.
»Ich werde nicht den ersten Schritt tun, also nicht
initiieren, sondern ausschließlich reagieren.«
»Und was dann?«, fragte sie verzweifelt, in der
Hoffnung, ich könnte ihr die Antworten auf dem Silbertablett
servieren: ein Reparaturset für ihre Ehe, praktisch verpackt in
einem platzsparenden kleinen Köfferchen. Doch da musste ich sie
leider enttäuschen. Ein Seitensprung hinterlässt tiefe Risse, die
sich nicht so einfach kitten lassen. Aber es gibt eine Lösung, und genau deshalb war ich
hier.
»Mrs. Jacobs«, sagte ich sanft. »Ich liefere
lediglich Informationen. Was Sie damit tun, bleibt Ihnen
überlassen.«
Sie nickte und versuchte, zu lächeln.
Der Zettel war der erste Hinweis. Es gibt immer
einen Hinweis. Es kommt nur darauf an, was man damit macht.
Ignoriert man ihn und lebt einfach weiter mit der Ungewissheit,
stets von Zweifeln geplagt? Oder unternimmt man etwas?
In diesem Fall bestand der Hinweis aus einem Namen
und einer Telefonnummer. »Alexis«, stand da, in unverkennbar
weiblicher Handschrift, und darunter eine Telefonnummer und der
Zusatz »Badehose fakultativ«.
Ich wollte nicht gleich schwarzmalen, aber ich
kenne genügend Frauen, die ständig solche Zettel verteilen – Name,
Telefonnummer und irgendein lustiger Einzeiler, ein Insider-Witz
als Erinnerung an das vorangegangene Gespräch. »Es gibt also
niemanden im Bekanntenkreis Ihres Mannes, der so heißt?«, fragte
ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.
Die Tochter unserer Nachbarn heißt Alexis, aber die ist erst zehn.
Ich bezweifle, dass sie das geschrieben hat.«
»Ich auch.« Ich nickte zustimmend und schenkte ihr
ein aufmunterndes Lächeln. Sie rutschte unruhig auf ihrem Sessel
hin und her. Starrte auf ihre Hände, auf die ineinander
verkrampften Finger. Das war eindeutig nicht die Antwort, die sie
gern gehört hätte.
Wir saßen einen Moment schweigend da, bis sie
schließlich den Kopf hob und mir in die Augen sah. »Was würden Sie
tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?«, fragte sie leise.
Ich musterte sie mitfühlend, entschlossen, ihr zu
helfen, so gut es ging. »Ich würde Gewissheit haben wollen«, sagte
ich aufrichtig.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte der Mann in
der Bar.
»Ashlyn.« Ich streckte ihm die Hand hin.
Das ist natürlich mein Deckname. Ich verwende nie
meinen richtigen Namen. »Ashlyn« existiert in Wirklichkeit gar
nicht. Sie ist ein Hologramm. Die Protagonistin eines
Theaterstücks, das ich schon Hunderte Male aufgeführt habe, in
Hunderten von Hotelbars. Und die Handlung ist stets verblüffend
ähnlich. Seit zwei Jahren immer dieselbe Show.
»Was für ein schöner Name«, bemerkte er und stützte
entspannt die Arme auf die Rückenlehne.
Ich bedankte mich höflich. Das hörte ich nicht zum
ersten Mal. Ja, es ist ein schöner Name – genau deshalb habe ich
ihn gewählt. Wenn man für eine Sache kämpft, dann braucht man einen
guten Codenamen.
»Sehr erfreut, Ashlyn. Ich heiße Raymond.«
Das wusste ich bereits. Der Name ist eines der
Basics. Und ich wusste noch mehr über den Mann, der neben mir
saß.
Mehr als auf seiner Visitenkarte stand.
Raymond Jacobs, Geschäftsführer des zweitgrößten
Automotorenherstellers in ganz Nordamerika, knapp achtunddreißig
Jahre alt, lebt mit seiner Frau Anne und drei Kindern in Newport
Beach, Kalifornien. Hobbys: Segeln, Golf, Skifahren, Weinproben.
Für derlei hat er neben der Arbeit allerdings wenig Zeit. Er mag
Sushi, aber nur, wenn es teuer ist. Blauflossenthunfisch. Billiger
roher Fisch ist ihm suspekt. Er schaut sich jedes Hockey- und
Basketballspiel an, an dem eine Mannschaft aus Texas beteiligt ist,
denn dort ist er aufgewachsen. Er hat an der University of Texas
studiert (Maschinenbau) und ein Jahr nach dem Abschluss sein
College-Sweetheart geheiratet. Aber auch seiner Studentenverbindung
(Sigma Phi Epsilon) hat er lebenslange Treue geschworen.
Ich recherchiere immer sehr gründlich. Das
erleichtert mir die Arbeit ganz beträchtlich.
»Ja, ich weiß«, sagte ich mit dem Anflug eines
Lächelns, wobei ich die Lippen öffnete, damit er sah, wie ich mir
mit der Zungenspitze über die Rückseite der Schneidezähne
fuhr.
Sobald ich seinen Blick aufschnappte, klappte ich
den Mund zu und presste die Lippen aufeinander, denn heute Abend,
in der Gegenwart von Raymond Jacobs, dem Vorstand
von Kelen Industries, war es Ashlyn unangenehm, unverhohlen sexy
aufzutreten. Zumal sich noch andere Menschen im Raum befanden. Sie
übt diesen Trick mindestens zweimal wöchentlich vor dem Spiegel...
wenn sie allein ist. Aber wenn es darum geht, ihn anzuwenden, ist
sie nicht mehr ganz so mutig.
»Raymond Jacobs«, sagte ich gewichtig.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er argwöhnisch,
wohlwissend, dass er mir nicht seinen vollen Namen genannt
hatte.
Ich wedelte mit seiner Visitenkarte.
»Ach, richtig.« Er lachte erleichtert über sich
selbst. Einen ganz kurzen Moment lang hatte er schon befürchtet,
ich könnte nicht die sein, für die ich mich ausgab.
Und das war ich ja tatsächlich nicht.
Doch der Mensch sieht nur, was er sehen will.
»Und warum sind Sie in
Denver?«, erkundigte sich Raymond rasch, um die Unterhaltung wieder
in die gewünschte Richtung zu lenken. »Geschäftlich oder zum Vergnügen?« Pfff. Reichlich plump. Ließ keine
Gelegenheit aus, um eine Anspielung unterzubringen.
Ich lachte nervös angesichts dieser Andeutung.
Ashlyn war vielleicht schüchtern, aber sie war nicht dumm. Er ließ
mich nicht aus den Augen, wartete darauf, dass mein leichtes
Unbehagen wieder der unbeschwerten Flirtlaune wich.
Tja, was soll ich sagen.
Ashlyn legte prompt den Hebel um.
»Geschäftlich«, sagte ich und stieß einen
flüchtigen Seufzer hervor, um zu unterstreichen, dass ich mich
fürchterlich langweilte und nach etwas Ablenkung sehnte.
»Was machen Sie denn beruflich?«
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich
arbeite als Research Manager für eine Anwaltskanzlei.«
Ashlyn ist beruflich äußerst vielseitig. Heute
Abend sollte
ihr Job interessant und wichtig klingen. Nicht unbedingt
weltbewegend, aber doch so anspruchsvoll, dass man ein bisschen
Grips dafür braucht. Ashlyns Beruf spielt zuweilen eine wichtige
Rolle. Doch Raymond Jacobs schien bereits von Ashlyns Beinen derart
beeindruckt, dass es wohl ziemlich egal war, womit sie den Rest
ihres Lebens verbrachte, solange sie sich heute Nacht ein wenig
Zeit für ihn nahm.
»Wow. Klingt aufregend«, sagte er und gab sich
Mühe, ein möglichst aufrichtig wirkendes Interesse zu
heucheln.
Er wusste, was er wollte, und er wusste auch, was
dafür vonnöten war: Aufmerksamkeit und Interesse, denn genau das
musste man erfahrungsgemäß zeigen, um Mädchen wie Ashlyn
herumzukriegen.
Ich lächelte wie jemand, der seine Arbeit liebt.
»Ist es auch. Sehr abwechslungsreich. Man kommt viel rum, schließt
ständig neue Bekanntschaften, und die Recherchen, die ich anstelle,
sind oft richtig spannend, dabei hätte ich mich für die
Sachgebiete, mit denen ich mich auseinandersetzen muss, aus freien
Stücken wohl nie und nimmer interessiert.«
Ich musste innerlich schmunzeln, als mir aufging,
dass all diese Kriterien auch auf meinen tatsächlichen Beruf
zutrafen: Ich komme wirklich viel rum und lerne am laufenden Band
neue Leute kennen – wenn auch nicht unbedingt die anständigsten.
Aber immerhin. Und manchmal gewähren mir die erforderlichen
Recherchen tatsächlich faszinierende Einblicke. So habe ich mir in
den vergangenen zwei Jahren beispielsweise Grundkenntnisse in
Französisch, Spanisch, Italienisch, Japanisch, Deutsch, Russisch
und sogar etwas Arabisch angeeignet. Es stört mich nicht, dass die
Unterhaltungen, die ich in diesen Sprachen führe, ausschließlich
dazu dienen, herauszufinden, ob meine Gesprächspartner mich mit auf
ihr Hotelzimmer nehmen würden.
Kein Grund zur Klage also.
Jeder muss zwischendurch ein bisschen
schweißtreibende körperliche Arbeit erledigen, und bei mir ist der
Ausdruck eben ziemlich wörtlich zu verstehen.
Je länger ich mit Raymond Jacobs plauderte, desto
mehr kam ich zu der Überzeugung, dass er zu den »Umschaltern«
gehörte. Er kannte kein schlechtes Gewissen. Das sind die Typen,
wegen denen ich nachts wach liege. Die, die ihre Frau mit derselben
Selbstverständlichkeit hintergehen, wie sie beim Fernsehen in der
Werbepause umschalten, um mal eben zu gucken, was auf den anderen
Kanälen läuft. Das ist übrigens ein guter Test: Steht ein Mann eine
ganze Werbepause durch, ohne umzuschalten? Falls ja, dann hat er
Potenzial. Falls nicht, setzt man ihn am besten umgehend vor die
Tür. Leider schränken Erfindungen wie der Festplattenrekorder diese
Testmöglichkeit zusehends ein.
Wie auch immer, eines würde
Raymond Jacobs auf jeden Fall verspüren: Bedauern. Wenn auch
vermutlich nicht deshalb, weil er seine Frau betrogen hatte,
sondern eher, weil er sich dabei hatte erwischen lassen.
Erfolgreiche Männer geben sich nur ungern eine Blöße – im wahrsten
Sinne des Wortes.
Ob sie sich danach ändern oder nicht, das ist die
große Frage.
Nach drei Drinks und zwei endlos scheinenden
Stunden sinnloser Konversation sah ich auf meine Armbanduhr und
machte »Oh!«, als wäre ich überrascht, dass ich derart das
Zeitgefühl verloren hatte. »Schon fast Mitternacht. Ich sollte
zusehen, dass ich ins Bett komme. Ich muss morgen ziemlich früh
raus.«
Ich setzte mein Glas an die Lippen, legte den Kopf
in den Nacken und leerte es genüsslich, damit Raymond meine Worte
verdauen konnte, während die letzten Tropfen meines Drinks meine
Kehle hinunterrannen.
Ein kleiner Bluff, der seine Wirkung nie
verfehlt.
Sobald die Beute zu entwischen droht, wird das
Verlangen übermächtig.
Funktioniert garantiert bei jedem Mann, egal ob
verheiratet, single oder geschieden, ob schwul, hetero oder bi. Auf
den Jagdinstinkt ist Verlass.
Ich schlang mir den Riemen meiner kleinen schwarzen
Handtasche über die Schulter, rutschte an den Rand der Bank und
erhob mich. Dann wandte ich mich zu ihm um und hielt einen Moment
inne, ehe ich etwas sagte. Das lieferte ihm die nötige Zeit, um den
Blick von meinem Schritt, der sich jetzt auf seiner Augenhöhe
befand, zu meinem Gesicht zu heben.
»War nett, Ihre Bekanntschaft zu machen,
Raymond.«
Er räusperte sich. »Müssen Sie wirklich schon
gehen?« Er ließ sich seine Enttäuschung anmerken. Spielte bewusst
die »gebrochenes Herz«-Karte aus, weil das bei Mädchen wie Ashlyn
ankommt.
Ich nickte. Schwankte leicht, als würde ich den
Alkohol spüren. »Ja, ich sollte jetzt wirklich ins Bett. Vielen
Dank für die Drinks.« Ich kicherte. »Alle drei.« Ich streckte ihm
die Hand hin, damit er sie schütteln, spüren, auf sich wirken
lassen konnte. Sich nach ihrer Berührung sehnen konnte. »Und viel
Glück bei den Verhandlungen«, gurrte ich und wandte mich
seelenruhig zum Gehen.
»Gleichfalls«, murmelte er verdattert. Ich sah
förmlich, wie er sich das Hirn zermarterte, sich fieberhaft den
nächsten Schachzug zurechtlegte. Noch hatte er die Königin nicht
erobert, so viel stand fest. Aber ich wusste, so rasch würde er
nicht die Flinte ins Korn werfen. Genau deshalb inszenierte ich so
ungerührt meinen Abgang.
»Wissen Sie was?«, setzte er an, um Zeit zu
schinden. Ließ quasi die Hand nachdenklich über dem Läufer
schweben, um bei der Schachanalogie zu bleiben.
Ich wandte mich verwundert zu ihm um, als hätte ich
keine Ahnung, was er gleich sagen würde. Als wäre ich ihm nicht
schon fünf Züge voraus, wie sich das für einen guten Schachspieler
gehört.
»Die Minibar in meinem Zimmer ist noch ganz
unberührt. Wollen Sie auf einen Drink mit raufkommen?«
Schachmatt.
Ich tat, als würde ich zögern. Mir sein Angebot
überlegen.
Das musste ich. Alles
andere wäre verdächtig gewesen, und Ashlyn fällt grundsätzlich nicht aus der Rolle.
Ich musste geschmeichelt wirken und mir zugleich
unschlüssig auf die Unterlippe beißen, während ich darüber
nachdachte.
Also tat ich genau das.
Dieses Manöver soll einerseits suggerieren, dass
ich Bedenken habe, mit einem Unbekannten auf sein Zimmer zu gehen.
Es dient aber noch einem ganz anderen Zweck, der auf den ersten
Blick kontraproduktiv erscheinen mag: Es liefert dem Mann die
Chance, den Rückzug anzutreten. Ich muss sicher sein, dass er es
wirklich will. Rein theoretisch besteht nämlich ein grundlegender
Unterschied zwischen Test und Verführung, aber in der Praxis drohen
die Grenzen zuweilen zu verschwimmen. Ich verführe nicht. Ich
stelle keine Fallen in der Hoffnung, dass die Männer reihenweise
hineintappen. Ich überlasse ihnen die Führung und beobachte, wie
weit sie mit einer willigen Mitspielerin zu gehen bereit
sind.
Tatsache ist: Heutzutage lauert an jeder Ecke die
Verführung.
Ich bin nur die Kamera, die diese Tatsache
dokumentiert.
Ich neigte kaum merklich den Kopf. »Gern.«
Er erhob sich mit vor Stolz geschwellter Brust.
Genoss die
Freude über seinen Erfolg, den Kick, nach dem er sich tagtäglich
sehnte, die wachsende Erregung, während wir zwischen den Tischen
hindurch aus der Bar und hinaus in die Lobby gingen.
Im Aufzug drückte er P für
Penthouse, und kaum hatten sich die Türen geschlossen, stürzte er
sich auf mich. Sein Kuss war weder sanft noch zärtlich. Er war
entschlossen. Ich hatte seine Einladung angenommen und damit meine
Einwilligung gegeben. Ein ungeschriebenes Gesetz. Eines, das
Raymond offenbar nur allzu vertraut war.
Sobald ich seine Lippen auf den meinen spürte,
breitete sich die gewohnte Leere in meinem Kopf aus. Ich stellte
das Denken ein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die Kunst des
Nicht-Denkens beherrschte. Ich hatte stets die Meinung vertreten,
es sei praktisch unmöglich, nicht zu denken. Vor allem für eine
Frau. Ständig rasen unsere Gedanken, ständig analysieren und planen
wir. Doch nach mehreren Meditationskursen und der Lektüre
zahlreicher Bücher über die Kunst des Zen – und nicht zuletzt dank
stundenlangen Übens – war ich schließlich eine Meisterin des
Nicht-Denkens geworden. In meinem Kopf herrschte auf Kommando
Leere.
Das musste auch so sein in Momenten wie
diesem.
Denn es gab weiß Gott genug, woran man in einem
solchen Augenblick denken könnte: an seine Frau, seine Kinder,
seine wunderschöne Villa in irgendeiner beeindruckenden Stadt, an
seinen Ehering, das Symbol der Treue, versteckt in der Brusttasche
seines Hemdes.
Der Schein trügt oft bei Männern wie Raymond
Jacobs. Für das ungeschulte Auge mag es aussehen, als hätten sie
eine Bilderbuchfamilie und eine Bilderbuchkarriere. Als führten sie
ein Leben wie im Fernsehen. Ein Musterbeispiel des amerikanischen
Traumes. Doch eine Expertin wie ich blickt hinter die
Fassade.
Schon seltsam. Wenn ich als Kind Jede Menge Familie und Wunderbare Jahre guckte, hätte ich mir nie und
nimmer träumen lassen, dass ich Ehemännern und Vätern wie denen aus
diesen Serien später einmal unter solchen Umständen begegnen würde.
Aber ich habe bald begriffen, dass eine Sitcom nie die Wirklichkeit
darstellt. Sie ist eine idealistische Utopie, erschaffen von einem
Produzenten, der es darauf abgesehen hat, unsere gefühlsbetonte
Seite anzusprechen. Der Unterschied zwischen dieser Utopie und
unserer realen Welt könnte größer nicht sein.
Bislang jedenfalls. Aber ich gebe die Hoffnung
nicht auf.
Pling! Die Aufzugtüren öffneten sich. Ich setzte
ein neckisches Grinsen auf, als mich Raymond an der Hand packte und
den Korridor entlang zu seinem Zimmer führte.
Jetzt bloß nicht unvorsichtig werden. Leichtsinn
ist gefährlich, auch wenn das Spiel fast vorüber ist. Jeder noch so
kleine Fehler, jede uncharakteristische Verhaltensweise oder
Äußerung konnte sein Misstrauen erregen und zum Scheitern der
Mission führen. Raymond wirkte zwar viel zu beschäftigt, um
argwöhnisch zu werden, aber man konnte nie wissen. Ich muss immer
auf Überraschungen gefasst sein, ganz gleich, wie berechenbar mein
Testobjekt auch scheinen mag, muss stets hochkonzentriert bleiben,
um nicht aufzufliegen.
Es ist eine Sache, wenn er einen Rückzieher macht.
Aber wenn er mir auf die Schliche kommt, bin ich geliefert.
Er ließ meine Hand nur los, um seine Schlüsselkarte
aus der hinteren Hosentasche zu fischen und ins elektronische
Schloss zu stecken. Ich kicherte verlegen. Der erste Versuch schlug
fehl – Karte verkehrt, Eintritt verwehrt. Ein rotes Licht blinkte
auf. Schade, dass Raymond der symbolhafte Charakter des Augenblicks
entging.
Zweiter Versuch. Jetzt blinkte ein grünes Licht.
Raymond drehte den Knauf und stieß mit der Hüfte die Tür auf, dann
schlang er mir den Arm um die Taille und zog mich mit sich
hinein.

»Eine Frage noch...«, hatte Mrs. Jacobs gesagt,
als ich meine Siebensachen aufsammelte.
Ich steckte das Foto ihres Mannes, das sie mir
gegeben hatte, in meine Mappe und verstaute die Mappe in meiner
Tasche. Dann hob ich den Kopf. »Ja?«
Ich wusste, wie die Frage lauten würde.
Sie kommt immer etwa an dieser Stelle.
Sie muss kommen, ansonsten verfolgt die
Auftraggeberin die ganze Woche, wenn nicht ihr ganzes Leben lang,
dasselbe verstörende Bild.
»Wie ist das mit dem... Sex?«, presste Mrs. Jacobs
hervor. »Haben Sie vor... äh... mit ihm zu...« Sie verstummte,
brachte es nicht über die Lippen. Konnte es vermutlich nicht einmal
denken.
»Nein«, sagte ich kategorisch. Das war ein
unumstößlicher Bestandteil der Mission, und genau so musste ich es
präsentieren.
Sie atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank.«
Ich lächelte warm. »Mrs. Jacobs, ich versichere
Ihnen, mein Test zielt ausschließlich darauf ab, Ihrem Mann die
Bereitschaft zum Seitensprung nachzuweisen.
Es kommt nicht zum Verkehr.«
Wieder rutschte sie unruhig auf ihrem Sessel hin
und her. »Die Bereitschaft zum Seitensprung«, wiederholte sie
halblaut.
»Ganz recht«, bestätigte ich und nickte
nachdrücklich.
»Und was bedeutet das genau?«

Wir stolperten unbeholfen durch die extravagante
Penthouse-Suite. Raymonds Lippen erkundeten meinen Mund, meinen
Hals, mein Gesicht, jeden Zentimeter nackter Haut.
Als wir auf das Bett fielen, achtete ich darauf,
dass ich oben zu liegen kam. Das vereinfacht den Abgang ganz
beträchtlich, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Sofort landeten seine Hände auf meinen Pobacken.
Ich quittierte es mit einem lustvollen Stöhnen.
Das gefiel ihm.
Das gefällt den meisten.
Er küsste mich weiter, während er mir die
Kostümjacke von den Schultern streifte. Dann nahm er sich die
Blusenknöpfe vor, einen nach dem anderen. Ich protestierte nicht,
als er mir die Bluse auszog. Beim Anblick meines Push-up-BHs aus
lavendelfarbener Spitze grunzte er beifällig. Tja, der macht auch
echt was her, und er verfehlt seine Wirkung nie. Allerdings lässt
mich diese Art der Anerkennung ziemlich kalt. Aber es geht in
diesen Situationen schließlich nicht um mich.
Als Nächstes zog er mir den Rock aus. Darunter kam
das zum BH passende Miederhöschen zum Vorschein. Ich reagierte mit
einem äußerst glaubwürdigen erregten Schaudern, als er mich an den
Hüften packte und die Finger in mein Fleisch vergrub.
Ich knöpfte sein Hemd auf, streichelte seine Brust.
Schob ihm verführerisch das Hemd von den Schultern.
Er zitterte förmlich vor Erregung. »Gott, bist du
heiß. Ich muss dich auf der Stelle haben.«
»Wirklich?«, fragte ich leise. Keusch und unsicher
wie eh und je.
»Oh, ja. Du bist unglaublich sexy.«
»Gut«, flüsterte ich.
Dann rollte ich mich von ihm herunter und glitt vom
Bett,
um wortlos meine Kleider aufzusammeln. Ich fand meinen Rock. Rasch
bückte ich mich danach.
»Was soll das?«, fragte Raymond hörbar
verärgert.
»Ich gehe«, erklärte ich schlicht, stieg in meinen
Rock und zog ihn hoch.
Er richtete sich schwankend auf, vermutlich wegen
des Alkohols. Oder wegen der gedrosselten Blutzufuhr in der oberen
Körperhälfte. Oder wegen beidem. Er griff sich an den Kopf,
versuchte, den sich drehenden Raum zum Stillstand zu bringen.
»Warum?« Sein Gesicht spiegelte tiefste Verwirrung.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was er dachte.
Diese Wendung kam in dem Drehbuch, das er in- und auswendig kannte,
einfach nicht vor. Junge trifft Mädchen. Junge kauft Mädchen einen
Drink. Junge lädt Mädchen auf sein Zimmer ein. Mädchen nimmt an.
Aber dass Mädchen es sich aus unerfindlichen Gründen plötzlich
anders überlegte und einfach ging, das war ihm noch nie
passiert.
Ich schlüpfte in meine Bluse und knöpfte sie zu.
»Weil ich genug gesehen habe.«
Mehr als genug.
Er schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.
Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«
Ich zuckte die Schultern. »Könnte man so
sagen.«
Das verstörte ihn noch mehr. Wie oft hatte ich
diesen Gesichtsausdruck schon gesehen. Es war die Miene eines
Mannes, der im Geiste seine Schritte zurückverfolgt, versucht, ein
Häufchen Puzzleteile zusammenzusetzen, die nie und nimmer
zueinander passen können.
Ich schloss den letzten Blusenknopf und bückte
mich, um meine Schuhe anzuziehen.
»Warte doch«, bat er leise, in der Hoffnung, mich
mit seiner Verzweiflung umstimmen zu können.
Doch das konnte er sich abschminken. Ich war nicht
mehr die Frau, die er unten in der Bar aufgegabelt hatte.
»Komm, setz dich. Wenn du möchtest, können wir uns
noch ein bisschen über Automotoren unterhalten.« Wie nett von
ihm.
Ich lächelte kühl. »Ich bin nicht die, für die Sie
mich halten, Raymond.«
»Hä?« Er runzelte die Stirn, verärgert,
konsterniert.
»Ich wurde von Mrs. Anne Jacobs beauftragt, Sie
einem Treuetest zu unterziehen, weil sie den Verdacht hegt, Sie
würden sie betrügen. Zu Recht, wie man sieht.«
Er riss die Augen auf. »Waaas?«
Jetzt kam das Bedauern.
Er raufte sich die Haare, ließ den Kopf zwischen
die Knie sinken und verschränkte die Finger im Nacken. Hob noch
einmal kurz den Blick und wiederholte: »Sie hat dich beauftragt?«
Ich sah ihm ruhig in die Augen. »Jawohl.« Ich
musste jetzt völlig leidenschaftslos auftreten. Kein Mitleid, kein
Erbarmen. Nichts.
Er schloss ächzend die Augen. Höchste Zeit für
meinen Abgang. Aber nicht vor meiner abschließenden Amtshandlung.
Ich nahm eine kleine schwarze Karte aus meiner Tasche und legte sie
auf die Kommode, dann schnappte ich mir meine Jacke und ging zur
Tür.
Ich hinterlasse jedes Mal eine solche Karte. Eine
Art Souvenir, könnte man sagen. Nicht unbedingt als Beweis dafür,
dass ich da gewesen war, sondern vielmehr als Warnung. Als Signal,
dass sich etwas ändern muss.
»Warte«, hörte ich Raymond sagen. Ich registrierte
aus dem Augenwinkel, wie er seine Hose aufhob, die im Eifer des
Gefechts mitten auf dem Fußboden liegen geblieben war. Er zückte
eine schwarze Lederbrieftasche und öffnete sie. »Was
zahlt sie dir? Einen Tausender? Fünfzehnhundert? Ich gebe dir das
Doppelte.«
Ich drehte mich um und sah, wie er seiner
Brieftasche ungerührt einen dicken Stapel Hundertdollarnoten
entnahm und sie abzuzählen begann. »Hier geht es nicht um Geld«,
erwiderte ich kategorisch und setzte meinen Weg zur Tür fort.
»Es geht immer um Geld«, widersprach er
verächtlich. »Wie viel willst du?«
Ich blieb stehen, überlegte einen Augenblick und
wandte mich ein letztes Mal zu ihm um.
Raymond grinste triumphierend.
»Tut mir aufrichtig leid«, sagte ich. »Aber meine
Loyalität kann man nicht kaufen.«
Jetzt grinste er herablassend. »Glaub mir,
Schätzchen, ich kann mir alles
kaufen.«
Genau in diesem Moment fiel mein Blick auf einen
kleinen, glänzenden Gegenstand auf dem Teppich. Sein Ehering. Er
musste ihm aus der Brusttasche gefallen sein, als wir uns vorhin so
hastig unserer Kleider entledigt hatten. Ich bückte mich, hob ihn
auf und legte ihn mit der Behutsamkeit eines Chirurgen bei einer
Operation am offenen Herzen auf die Kommode. »Irrtum«, entgegnete
ich.
Wie es danach weitergeht, entzieht sich
grundsätzlich meiner Kenntnis. Meine Arbeit ist getan. Was auch
immer danach geschieht, fällt nicht mehr in meinen
Zuständigkeitsbereich. Meine Aufgabe ist es, festzustellen, ob der
Kandidat die Absicht hat, Ehebruch zu begehen oder nicht.
Das hatte ich getan.
Jetzt war es Zeit für mich, zu gehen.
Also ging ich.