1
Senderwechsel
Der Mann, den ich suchte, hatte es sich an einem der Tische am Rande der Hotelbar gemütlich gemacht. Dunkles Haar, dunkler Anzug, Krawatte gelockert, oberster Hemdknopf offen. Er hatte den linken Arm über die Rücklehne der Sitzbank drapiert, trommelte mit den Fingern im Takt der dezenten Loungemusik auf den roten Samt und nahm dann und wann einen Schluck von seinem Schlummertrunk.
Ich stand im Durchgang zur Hotellobby und beobachtete ihn unbemerkt.
Er langweilte sich. Wartete auf Unterhaltung, Zerstreuung. Zumindest für diesen Abend.
Er ließ sein geschultes Auge durch den Raum schweifen und taxierte das einzige weibliche Wesen in der Bar: Bundfaltenhose, biederer Rollkragenpulli. Resigniert wandte er den Blick ab und nippte erneut an seinem Drink.
Das war mein Zeichen.
Ich strich mir eine lose Haarsträhne aus der Stirn und betrat die Bar. Ganz gemächlich, damit er auch wirklich von mir Notiz nehmen konnte, was aufgrund der übersichtlichen Anzahl an Gästen und seiner bereits geschärften Wahrnehmung nicht weiter schwierig war.
Manchmal ist einem das Glück eben besonders hold.
Normalerweise sehen sie zuerst auf die Beine. Die meisten Männer haben eine Schwäche für nackte Beine. Tatsache. Vor zwei Jahren hätte ich noch behauptet, die Gesamtheit der heterosexuellen Männer würde zu gleichen Teilen auf Beine, Po oder Brüste sehen (die »Dreifaltigkeit der weiblichen Reize«, wie ich es nenne). Doch inzwischen weiß ich: Die Mehrheit guckt zuerst auf die Beine. Ich habe trotzdem immer drei Outfits im Gepäck, die je ein Element der Dreifaltigkeit besonders betonen. Nur für alle Fälle. Aber ich fange immer mit den Beinen an, und ich liege selten falsch damit.
Ich war auf Firmenflittchen getrimmt: knappes schwarzes Kostüm, schwarze Riemchensandalen von Manolo, keine Strumpfhose. Seriös, aber durchaus freizügig. Ein Ensemble, das signalisiert: Ich will ernst genommen werden – aber es gefällt mir auch, wenn ich von den Männern bemerkt werde.
In meinem Fall geht es nicht darum, ob es mir gefällt, bemerkt zu werden. Es gehört zu meinem Job, bemerkt zu werden. Ich erledige nur meine Arbeit, auch wenn manch einer diesen Aspekt kritisch sieht.
Im Grunde war es ziemlich einerlei, ob ich es mit einem Beinfetischisten zu tun hatte oder nicht, als sein Blick erst einmal von meinen Knöcheln über die Schenkel nach oben bis zum Saum meines Minirocks gewandert war. Natürlich hörte er dort nicht auf; das tun die wenigsten. Allerdings können sie sich ab hier nicht mehr auf die Augen verlassen. Vom Rocksaum aufwärts ist die Fantasie gefordert.
Ich stolzierte an seinem Tisch vorüber zum Tresen, als würde ich seine hungrigen Blicke nicht bemerken, und nahm auf einem der Barhocker Platz.
»Grey Goose Wodka Gimlet, bitte.«
Der Barkeeper nickte, erfreut darüber, dass es an diesem ereignislosen Mittwochabend endlich etwas zu tun gab (abgesehen vom Polieren der Martinigläser), und legte mir eine Cocktailserviette hin.
Mit einem ermatteten Seufzer stützte ich einen Ellbogen auf den Tresen und verfolgte, das Kinn in die Hand gestützt, wie mein Drink gemixt wurde. Meine Körpersprache signalisierte Überdruss. Langer Tag, lange Reise, lange, einsame Nacht in Aussicht.
Es wirkte.
Als mir der Barkeeper meinen Drink servierte und ich nach dem Portemonnaie griff, registrierte ich aus dem Augenwinkel, wie eine druckfrische Hundertdollarnote über den Tresen geschoben wurde. »Das geht auf mich.«
Ich wandte den Kopf und musterte meinen Gönner etwas verdutzt, als hätte ich überhaupt nicht mit seinem Erscheinen gerechnet. Wie sollte ich auch?
»Sehr liebenswürdig, danke«, sagte ich.
Er grinste schmierig. »Gern geschehen.«
002
Ich saß in dieser Bar, weil ich etwa eine Woche zuvor einen Anruf bekommen hatte. Von einer Frau, die meine Hilfe benötigte.
Das tut jeder, der diese spezielle Nummer wählt. Genau deshalb gibt es die Nummer ja auch.
Wir hatten ein Treffen für den darauffolgenden Tag vereinbart.
»Ich komme zu Ihnen«, hatte ich wie immer angeboten. Wer besagte Nummer wählt, will diese Unterredung normalerweise in vertrauter Umgebung hinter sich bringen.
Und so fand ich mich tags darauf in ihrem großen, elegant eingerichteten Wohnzimmer wieder und hörte mir ihre Geschichte an. Das Übliche. Ich hatte sie bestimmt schon mindestens zweihundert Mal gehört, mal mit leichten Abweichungen, mal beinahe Wort für Wort gleichlautend.
Aber das Motiv war stets dasselbe: Angst.
»Das hier hat unser Hausmädchen neulich beim Waschen in der Hosentasche meines Mannes gefunden.« Sie griff nach einem kleinen, zerknitterten Zettel auf dem Sofatisch, studierte ihn in Gedanken versunken, als hoffte sie, wenn sie ihn zum hundertundzweiten Mal las, würde dort plötzlich etwas anderes stehen, oder es würde sich eine neue, weniger unerfreuliche Erklärung dafür finden, damit sie mich nach Hause schicken konnte.
Vergeblich.
Mit einem bedrückten Seufzen reichte sie mir widerstrebend das Stück Papier und putzte sich mit einem gebrauchten Kleenex die Nase. »Entschuldigen Sie, ich bin völlig durch den Wind. Ich kann nicht fassen, was ich hier mache.«
Ich betrachtete die handgeschriebene Notiz und nickte verständnisvoll.
»Es war gut, dass Sie mich angerufen haben. Klarheit zu schaffen, ist auf alle Fälle besser als sich ständig mit Fragen zu quälen, nicht wahr?«
Sie starrte mich zweifelnd an. »Vermutlich, ja.«
»Es ist besser«, versicherte ich ihr, wie schon unzähligen Frauen vor ihr. »Vertrauen Sie mir.«
Manchmal ist es für die Betroffenen in einer solchen Situation nicht leicht, das zu erkennen. Genauer gesagt, wollen es manche Frauen einfach nicht wahrhaben. Herz und Verstand sind sich in derartigen Angelegenheiten nur allzu oft uneins.
»Was könnte das Ihrer Ansicht nach bedeuten?« Sie zeigte auf den zerknitterten Zettel in meiner Hand.
Ich fuhr mit der Daumenkuppe über die schwarze Tinte. »Schwer zu sagen«, erwiderte ich wahrheitsgetreu. »Solche Zettel sehe ich oft. Manche entpuppen sich als harmlos, andere wiederum« – ich legte eine Pause ein, damit sie sich seelisch darauf einstellen konnte – »sind nicht ganz so harmlos.«
Sie wandte sich mit Tränen in den Augen ab und seufzte brunnentief. »Die Freundin, die mir Ihre Dienste empfohlen hat, meinte, Sie würden eine Art Test durchführen.«
003
Ich sah meinem Gegenüber in die Augen, während wir einander zuprosteten und dann synchron die Gläser zum Mund führten.
»Was führt Sie denn nach Denver?«, fragte ich und biss mir auf die Unterlippe – ein hervorragender Kniff, um zu suggerieren, dass ich zwar gerade mal selbstbewusst genug war, diese Frage zu stellen, aber nicht so selbstbewusst, dass mich die Situation nicht nervös machen würde.
Auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, wusste ich nämlich eine ganze Menge über diesen Mann. Jedenfalls mehr als ihm lieb war. Und mit Sicherheit mehr als jede andere x-beliebige Frau in einer Hotelbar.
Ich wusste zum Beispiel, dass er selbstsichere Frauen mag. Aber nicht zu selbstsicher, sonst hat er nicht mehr das Gefühl, sie erobert zu haben. Wenn sie eine Spur schüchtern ist, ist die Herausforderung größer. Er mag es, wenn die Frau Interesse signalisiert, den ersten Schritt tut, aber danach möchte er das Kommando übernehmen.
Mit diesem Typ Mann habe ich häufig zu tun.
»Meine Firma kauft ein hier ansässiges Unternehmen«, erklärte er.
Ich nickte fasziniert, als würde mich das brennend interessieren. »Ach, ja? Wie heißt denn Ihre Firma?«
Der Mann hob einen Finger, als wollte er sagen »Zügeln Sie Ihre Neugier noch eine Sekunde«, griff in seine Jackentasche und legte eine Visitenkarte vor mir auf den Tresen. Wozu viele Worte machen, wenn eine Karte alles sagt?
Ich zog sie näher. »Kelen Industries«, las ich halblaut, mit schief gelegtem Kopf und gespielter Neugier, als wüsste ich noch nicht, was darauf stand.
Ich hob den Kopf.
»Moment mal«, murmelte ich, als käme mir der Name bekannt vor. »Diese Firma kenne ich.« Ich legte die Stirn in Falten, als würde ich angestrengt nachdenken.
Der Mann lachte leise, beinahe herablassend. »Das wage ich, zu bezweifeln. Wir produzieren...«
»Automotoren!«, unterbrach ich ihn mit der Begeisterung eines Groupies beim Anblick seines Lieblingsstars.
»Stimmt.« Er musterte mich erstaunt.
»Sie haben doch gerade den neuen Fünf-Komma-zwei-Liter-Zehnzylinder herausgebracht! Konkurrenz für den V8 aus Japan.«
Er blinzelte ungläubig und musterte mich dann derart sehnsüchtig, dass ich schon fürchtete, er würde gleich an Ort und Stelle über mich herfallen.
»Wie kommt es, dass sich eine junge Frau wie Sie« – er betrachtete mich noch einmal eingehend, um zu überprüfen, ob nicht doch eine mit Heftpflaster zusammengeflickte Nickelbrille aus meiner Brusttasche lugte oder ein grafischer Taschenrechner aus meiner Handtasche – »so gut mit Automotoren auskennt?«
»Ist bloß ein Hobby von mir«, sagte ich und schlug die Augen nieder, als hätte er gerade eine heimliche Schwäche von mir entdeckt. Ein peinliches Geheimnis, das ich vor einem Insider wie ihm allerdings nur schwer verhehlen konnte.
Er lächelte. »Ich sitze dort drüben«, sagte er ohne Umschweife. »Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?«
Es war eindeutig nicht das erste Mal, dass er eine solche Einladung aussprach, so rasch, wie sie gekommen war. Aber ich hatte bereits vorhergesehen, dass ich mich nicht sonderlich würde ins Zeug legen müssen. Der Mann war ein notorischer Aufreißer. Zum Glück bin ich nicht eifersüchtig.
Es ist mein Job, der Einladung zu folgen.
Aber ich muss darauf warten, bis sie ausgesprochen wird, ganz egal, wie lange es dauert. Die Einladung ist obligatorisch. Ich darf Einladungen annehmen, nicht aber selbst einladen. Das ist eine der Regeln. Und da ich die Regeln selbst aufgestellt habe, wäre es ziemlich dumm, sie zu brechen. Regeln sind in meinen Augen dazu da, um eingehalten zu werden. Sie existieren aus einem bestimmten Grund, und zwar meist aus einem triftigen.
»Also, ich...« Ich sah zögernd auf die Uhr.
»Nur ein paar Minuten«, drängte er und lächelte gewinnend.
Ich überlegte, gerade lange genug, um ihn den Nervenkitzel einer möglichen Zurückweisung spüren zu lassen – und den daraus resultierenden Adrenalinkick eines ersten kleinen Sieges. Männer wie er leben für diesen Nervenkitzel, den sie zu Hause schon lange nicht mehr erleben. Und in Anbetracht seines dicken Bankkontos vermutlich auch sonst nicht oft. Wer so reich ist wie er, bekommt selten einen Korb, und das wusste er auch.
»Also, gut«, gab ich nach.
Er lächelte, nahm zuvorkommend unsere Getränke und ging voran zu seinem Tisch, an den problemlos fünf Personen gepasst hätten. Sechs, wenn sie sich gut leiden konnten. Er wartete, bis ich saß, stellte die Gläser ab und nahm dann neben mir Platz.
»Woher kommen Sie?«, erkundigte er sich und nippte an seinem Drink.
»Aus L.A.«, gab ich zurück und liebkoste versonnen mein Glas. »Und Sie?«
Während er meine Frage überdachte (nicht, dass sie besonders kompliziert gewesen wäre, aber zu diesem Zeitpunkt ist die Blutzufuhr zum Gehirn erfahrungsgemäß bereits beeinträchtigt, sodass selbst die Beantwortung einfacher Fragen schwerfällt), griff ich nach unten, um eines meiner Fersenriemchen zurechtzurücken.
Dieses Manöver erfüllt gleich mehrere Zwecke. Es bietet mir die Möglichkeit, die Hand lasziv an meinem Bein entlang nach unten gleiten zu lassen, und für ihn ist es eine gute Gelegenheit, unbemerkt den Ehering abzunehmen, wenn er will.
Er wollte.
Als ich mich aufrichtete und unauffällig auf seine linke Hand schielte, war der Ring verschwunden.
»Newport, Orange County«, sagte er ungerührt. »Wie es aussieht, sind wir Nachbarn.« Nichts an seiner unbekümmerten Antwort deutete darauf hin, dass er das symbolträchtige Schmuckstück abgelegt hatte. Als wäre das keine große Affäre. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der andere Menschen abends vor dem Zubettgehen ihre Uhr ablegen, legte er, wenn er in einer Bar ein Mädchen kennenlernte, den Ehering ab.
Ich schenkte ihm ein breites Lächeln. »Oh, ich liebe diese Gegend! Wunderschöne Strände. Meine beste Freundin wohnt gleich nebenan in Huntington.«
»Sie sollten mich mal besuchen kommen«, regte er mit einem vielsagenden Grinsen an. »Ich habe einen tollen Pool mit Blick auf den Pazifik.«
Ich kicherte verlegen, um ihn glauben zu lassen, dass ich mich zwar nicht ganz wohl in meiner Haut fühlte, mich davon aber nicht weiter beirren ließ.
»Ja, vielleicht mache ich das mal«, murmelte ich, obwohl wir beide – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen – wussten, dass das eher unwahrscheinlich war, was auch immer in den kommenden Stunden noch passieren mochte. Es geht doch nichts über einen klaren Wissensvorsprung.
004
»Ich nenne es den Treuetest«, hatte ich der Frau erläutert, die mir mit Tränen in den Augen gegenüber saß. »Wir werden jetzt gemeinsam überlegen, wann und wo ich den Test durchführen werde. Am besten irgendwo auswärts, denn meiner Erfahrung nach passieren die meisten Seitensprünge unterwegs, etwa auf Geschäftsreisen. Dann werde ich eine ›zufällige‹ Begegnung inszenieren und mich Ihrem Mann als ›Gelegenheit‹ präsentieren.«
Sie lauschte meinen Worten konzentriert, nahm jedes schmerzliche Detail auf, nickte bedächtig.
»Ich werde nicht den ersten Schritt tun, also nicht initiieren, sondern ausschließlich reagieren.«
»Und was dann?«, fragte sie verzweifelt, in der Hoffnung, ich könnte ihr die Antworten auf dem Silbertablett servieren: ein Reparaturset für ihre Ehe, praktisch verpackt in einem platzsparenden kleinen Köfferchen. Doch da musste ich sie leider enttäuschen. Ein Seitensprung hinterlässt tiefe Risse, die sich nicht so einfach kitten lassen. Aber es gibt eine Lösung, und genau deshalb war ich hier.
»Mrs. Jacobs«, sagte ich sanft. »Ich liefere lediglich Informationen. Was Sie damit tun, bleibt Ihnen überlassen.«
Sie nickte und versuchte, zu lächeln.
Der Zettel war der erste Hinweis. Es gibt immer einen Hinweis. Es kommt nur darauf an, was man damit macht. Ignoriert man ihn und lebt einfach weiter mit der Ungewissheit, stets von Zweifeln geplagt? Oder unternimmt man etwas?
In diesem Fall bestand der Hinweis aus einem Namen und einer Telefonnummer. »Alexis«, stand da, in unverkennbar weiblicher Handschrift, und darunter eine Telefonnummer und der Zusatz »Badehose fakultativ«.
Ich wollte nicht gleich schwarzmalen, aber ich kenne genügend Frauen, die ständig solche Zettel verteilen – Name, Telefonnummer und irgendein lustiger Einzeiler, ein Insider-Witz als Erinnerung an das vorangegangene Gespräch. »Es gibt also niemanden im Bekanntenkreis Ihres Mannes, der so heißt?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Die Tochter unserer Nachbarn heißt Alexis, aber die ist erst zehn. Ich bezweifle, dass sie das geschrieben hat.«
»Ich auch.« Ich nickte zustimmend und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie rutschte unruhig auf ihrem Sessel hin und her. Starrte auf ihre Hände, auf die ineinander verkrampften Finger. Das war eindeutig nicht die Antwort, die sie gern gehört hätte.
Wir saßen einen Moment schweigend da, bis sie schließlich den Kopf hob und mir in die Augen sah. »Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?«, fragte sie leise.
Ich musterte sie mitfühlend, entschlossen, ihr zu helfen, so gut es ging. »Ich würde Gewissheit haben wollen«, sagte ich aufrichtig.
005
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte der Mann in der Bar.
»Ashlyn.« Ich streckte ihm die Hand hin.
Das ist natürlich mein Deckname. Ich verwende nie meinen richtigen Namen. »Ashlyn« existiert in Wirklichkeit gar nicht. Sie ist ein Hologramm. Die Protagonistin eines Theaterstücks, das ich schon Hunderte Male aufgeführt habe, in Hunderten von Hotelbars. Und die Handlung ist stets verblüffend ähnlich. Seit zwei Jahren immer dieselbe Show.
»Was für ein schöner Name«, bemerkte er und stützte entspannt die Arme auf die Rückenlehne.
Ich bedankte mich höflich. Das hörte ich nicht zum ersten Mal. Ja, es ist ein schöner Name – genau deshalb habe ich ihn gewählt. Wenn man für eine Sache kämpft, dann braucht man einen guten Codenamen.
»Sehr erfreut, Ashlyn. Ich heiße Raymond.«
Das wusste ich bereits. Der Name ist eines der Basics. Und ich wusste noch mehr über den Mann, der neben mir saß.
Mehr als auf seiner Visitenkarte stand.
Raymond Jacobs, Geschäftsführer des zweitgrößten Automotorenherstellers in ganz Nordamerika, knapp achtunddreißig Jahre alt, lebt mit seiner Frau Anne und drei Kindern in Newport Beach, Kalifornien. Hobbys: Segeln, Golf, Skifahren, Weinproben. Für derlei hat er neben der Arbeit allerdings wenig Zeit. Er mag Sushi, aber nur, wenn es teuer ist. Blauflossenthunfisch. Billiger roher Fisch ist ihm suspekt. Er schaut sich jedes Hockey- und Basketballspiel an, an dem eine Mannschaft aus Texas beteiligt ist, denn dort ist er aufgewachsen. Er hat an der University of Texas studiert (Maschinenbau) und ein Jahr nach dem Abschluss sein College-Sweetheart geheiratet. Aber auch seiner Studentenverbindung (Sigma Phi Epsilon) hat er lebenslange Treue geschworen.
Ich recherchiere immer sehr gründlich. Das erleichtert mir die Arbeit ganz beträchtlich.
»Ja, ich weiß«, sagte ich mit dem Anflug eines Lächelns, wobei ich die Lippen öffnete, damit er sah, wie ich mir mit der Zungenspitze über die Rückseite der Schneidezähne fuhr.
Sobald ich seinen Blick aufschnappte, klappte ich den Mund zu und presste die Lippen aufeinander, denn heute Abend, in der Gegenwart von Raymond Jacobs, dem Vorstand von Kelen Industries, war es Ashlyn unangenehm, unverhohlen sexy aufzutreten. Zumal sich noch andere Menschen im Raum befanden. Sie übt diesen Trick mindestens zweimal wöchentlich vor dem Spiegel... wenn sie allein ist. Aber wenn es darum geht, ihn anzuwenden, ist sie nicht mehr ganz so mutig.
»Raymond Jacobs«, sagte ich gewichtig.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er argwöhnisch, wohlwissend, dass er mir nicht seinen vollen Namen genannt hatte.
Ich wedelte mit seiner Visitenkarte.
»Ach, richtig.« Er lachte erleichtert über sich selbst. Einen ganz kurzen Moment lang hatte er schon befürchtet, ich könnte nicht die sein, für die ich mich ausgab.
Und das war ich ja tatsächlich nicht.
Doch der Mensch sieht nur, was er sehen will.
»Und warum sind Sie in Denver?«, erkundigte sich Raymond rasch, um die Unterhaltung wieder in die gewünschte Richtung zu lenken. »Geschäftlich oder zum Vergnügen?« Pfff. Reichlich plump. Ließ keine Gelegenheit aus, um eine Anspielung unterzubringen.
Ich lachte nervös angesichts dieser Andeutung. Ashlyn war vielleicht schüchtern, aber sie war nicht dumm. Er ließ mich nicht aus den Augen, wartete darauf, dass mein leichtes Unbehagen wieder der unbeschwerten Flirtlaune wich.
Tja, was soll ich sagen.
Ashlyn legte prompt den Hebel um.
»Geschäftlich«, sagte ich und stieß einen flüchtigen Seufzer hervor, um zu unterstreichen, dass ich mich fürchterlich langweilte und nach etwas Ablenkung sehnte.
»Was machen Sie denn beruflich?«
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich arbeite als Research Manager für eine Anwaltskanzlei.«
Ashlyn ist beruflich äußerst vielseitig. Heute Abend sollte ihr Job interessant und wichtig klingen. Nicht unbedingt weltbewegend, aber doch so anspruchsvoll, dass man ein bisschen Grips dafür braucht. Ashlyns Beruf spielt zuweilen eine wichtige Rolle. Doch Raymond Jacobs schien bereits von Ashlyns Beinen derart beeindruckt, dass es wohl ziemlich egal war, womit sie den Rest ihres Lebens verbrachte, solange sie sich heute Nacht ein wenig Zeit für ihn nahm.
»Wow. Klingt aufregend«, sagte er und gab sich Mühe, ein möglichst aufrichtig wirkendes Interesse zu heucheln.
Er wusste, was er wollte, und er wusste auch, was dafür vonnöten war: Aufmerksamkeit und Interesse, denn genau das musste man erfahrungsgemäß zeigen, um Mädchen wie Ashlyn herumzukriegen.
Ich lächelte wie jemand, der seine Arbeit liebt. »Ist es auch. Sehr abwechslungsreich. Man kommt viel rum, schließt ständig neue Bekanntschaften, und die Recherchen, die ich anstelle, sind oft richtig spannend, dabei hätte ich mich für die Sachgebiete, mit denen ich mich auseinandersetzen muss, aus freien Stücken wohl nie und nimmer interessiert.«
Ich musste innerlich schmunzeln, als mir aufging, dass all diese Kriterien auch auf meinen tatsächlichen Beruf zutrafen: Ich komme wirklich viel rum und lerne am laufenden Band neue Leute kennen – wenn auch nicht unbedingt die anständigsten. Aber immerhin. Und manchmal gewähren mir die erforderlichen Recherchen tatsächlich faszinierende Einblicke. So habe ich mir in den vergangenen zwei Jahren beispielsweise Grundkenntnisse in Französisch, Spanisch, Italienisch, Japanisch, Deutsch, Russisch und sogar etwas Arabisch angeeignet. Es stört mich nicht, dass die Unterhaltungen, die ich in diesen Sprachen führe, ausschließlich dazu dienen, herauszufinden, ob meine Gesprächspartner mich mit auf ihr Hotelzimmer nehmen würden.
Kein Grund zur Klage also.
Jeder muss zwischendurch ein bisschen schweißtreibende körperliche Arbeit erledigen, und bei mir ist der Ausdruck eben ziemlich wörtlich zu verstehen.
Je länger ich mit Raymond Jacobs plauderte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass er zu den »Umschaltern« gehörte. Er kannte kein schlechtes Gewissen. Das sind die Typen, wegen denen ich nachts wach liege. Die, die ihre Frau mit derselben Selbstverständlichkeit hintergehen, wie sie beim Fernsehen in der Werbepause umschalten, um mal eben zu gucken, was auf den anderen Kanälen läuft. Das ist übrigens ein guter Test: Steht ein Mann eine ganze Werbepause durch, ohne umzuschalten? Falls ja, dann hat er Potenzial. Falls nicht, setzt man ihn am besten umgehend vor die Tür. Leider schränken Erfindungen wie der Festplattenrekorder diese Testmöglichkeit zusehends ein.
Wie auch immer, eines würde Raymond Jacobs auf jeden Fall verspüren: Bedauern. Wenn auch vermutlich nicht deshalb, weil er seine Frau betrogen hatte, sondern eher, weil er sich dabei hatte erwischen lassen. Erfolgreiche Männer geben sich nur ungern eine Blöße – im wahrsten Sinne des Wortes.
Ob sie sich danach ändern oder nicht, das ist die große Frage.
Nach drei Drinks und zwei endlos scheinenden Stunden sinnloser Konversation sah ich auf meine Armbanduhr und machte »Oh!«, als wäre ich überrascht, dass ich derart das Zeitgefühl verloren hatte. »Schon fast Mitternacht. Ich sollte zusehen, dass ich ins Bett komme. Ich muss morgen ziemlich früh raus.«
Ich setzte mein Glas an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken und leerte es genüsslich, damit Raymond meine Worte verdauen konnte, während die letzten Tropfen meines Drinks meine Kehle hinunterrannen.
Ein kleiner Bluff, der seine Wirkung nie verfehlt.
Sobald die Beute zu entwischen droht, wird das Verlangen übermächtig.
Funktioniert garantiert bei jedem Mann, egal ob verheiratet, single oder geschieden, ob schwul, hetero oder bi. Auf den Jagdinstinkt ist Verlass.
Ich schlang mir den Riemen meiner kleinen schwarzen Handtasche über die Schulter, rutschte an den Rand der Bank und erhob mich. Dann wandte ich mich zu ihm um und hielt einen Moment inne, ehe ich etwas sagte. Das lieferte ihm die nötige Zeit, um den Blick von meinem Schritt, der sich jetzt auf seiner Augenhöhe befand, zu meinem Gesicht zu heben.
»War nett, Ihre Bekanntschaft zu machen, Raymond.«
Er räusperte sich. »Müssen Sie wirklich schon gehen?« Er ließ sich seine Enttäuschung anmerken. Spielte bewusst die »gebrochenes Herz«-Karte aus, weil das bei Mädchen wie Ashlyn ankommt.
Ich nickte. Schwankte leicht, als würde ich den Alkohol spüren. »Ja, ich sollte jetzt wirklich ins Bett. Vielen Dank für die Drinks.« Ich kicherte. »Alle drei.« Ich streckte ihm die Hand hin, damit er sie schütteln, spüren, auf sich wirken lassen konnte. Sich nach ihrer Berührung sehnen konnte. »Und viel Glück bei den Verhandlungen«, gurrte ich und wandte mich seelenruhig zum Gehen.
»Gleichfalls«, murmelte er verdattert. Ich sah förmlich, wie er sich das Hirn zermarterte, sich fieberhaft den nächsten Schachzug zurechtlegte. Noch hatte er die Königin nicht erobert, so viel stand fest. Aber ich wusste, so rasch würde er nicht die Flinte ins Korn werfen. Genau deshalb inszenierte ich so ungerührt meinen Abgang.
»Wissen Sie was?«, setzte er an, um Zeit zu schinden. Ließ quasi die Hand nachdenklich über dem Läufer schweben, um bei der Schachanalogie zu bleiben.
Ich wandte mich verwundert zu ihm um, als hätte ich keine Ahnung, was er gleich sagen würde. Als wäre ich ihm nicht schon fünf Züge voraus, wie sich das für einen guten Schachspieler gehört.
»Die Minibar in meinem Zimmer ist noch ganz unberührt. Wollen Sie auf einen Drink mit raufkommen?«
Schachmatt.
Ich tat, als würde ich zögern. Mir sein Angebot überlegen.
Das musste ich. Alles andere wäre verdächtig gewesen, und Ashlyn fällt grundsätzlich nicht aus der Rolle.
Ich musste geschmeichelt wirken und mir zugleich unschlüssig auf die Unterlippe beißen, während ich darüber nachdachte.
Also tat ich genau das.
Dieses Manöver soll einerseits suggerieren, dass ich Bedenken habe, mit einem Unbekannten auf sein Zimmer zu gehen. Es dient aber noch einem ganz anderen Zweck, der auf den ersten Blick kontraproduktiv erscheinen mag: Es liefert dem Mann die Chance, den Rückzug anzutreten. Ich muss sicher sein, dass er es wirklich will. Rein theoretisch besteht nämlich ein grundlegender Unterschied zwischen Test und Verführung, aber in der Praxis drohen die Grenzen zuweilen zu verschwimmen. Ich verführe nicht. Ich stelle keine Fallen in der Hoffnung, dass die Männer reihenweise hineintappen. Ich überlasse ihnen die Führung und beobachte, wie weit sie mit einer willigen Mitspielerin zu gehen bereit sind.
Tatsache ist: Heutzutage lauert an jeder Ecke die Verführung.
Ich bin nur die Kamera, die diese Tatsache dokumentiert.
Ich neigte kaum merklich den Kopf. »Gern.«
Er erhob sich mit vor Stolz geschwellter Brust. Genoss die Freude über seinen Erfolg, den Kick, nach dem er sich tagtäglich sehnte, die wachsende Erregung, während wir zwischen den Tischen hindurch aus der Bar und hinaus in die Lobby gingen.
Im Aufzug drückte er P für Penthouse, und kaum hatten sich die Türen geschlossen, stürzte er sich auf mich. Sein Kuss war weder sanft noch zärtlich. Er war entschlossen. Ich hatte seine Einladung angenommen und damit meine Einwilligung gegeben. Ein ungeschriebenes Gesetz. Eines, das Raymond offenbar nur allzu vertraut war.
Sobald ich seine Lippen auf den meinen spürte, breitete sich die gewohnte Leere in meinem Kopf aus. Ich stellte das Denken ein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die Kunst des Nicht-Denkens beherrschte. Ich hatte stets die Meinung vertreten, es sei praktisch unmöglich, nicht zu denken. Vor allem für eine Frau. Ständig rasen unsere Gedanken, ständig analysieren und planen wir. Doch nach mehreren Meditationskursen und der Lektüre zahlreicher Bücher über die Kunst des Zen – und nicht zuletzt dank stundenlangen Übens – war ich schließlich eine Meisterin des Nicht-Denkens geworden. In meinem Kopf herrschte auf Kommando Leere.
Das musste auch so sein in Momenten wie diesem.
Denn es gab weiß Gott genug, woran man in einem solchen Augenblick denken könnte: an seine Frau, seine Kinder, seine wunderschöne Villa in irgendeiner beeindruckenden Stadt, an seinen Ehering, das Symbol der Treue, versteckt in der Brusttasche seines Hemdes.
Der Schein trügt oft bei Männern wie Raymond Jacobs. Für das ungeschulte Auge mag es aussehen, als hätten sie eine Bilderbuchfamilie und eine Bilderbuchkarriere. Als führten sie ein Leben wie im Fernsehen. Ein Musterbeispiel des amerikanischen Traumes. Doch eine Expertin wie ich blickt hinter die Fassade.
Schon seltsam. Wenn ich als Kind Jede Menge Familie und Wunderbare Jahre guckte, hätte ich mir nie und nimmer träumen lassen, dass ich Ehemännern und Vätern wie denen aus diesen Serien später einmal unter solchen Umständen begegnen würde. Aber ich habe bald begriffen, dass eine Sitcom nie die Wirklichkeit darstellt. Sie ist eine idealistische Utopie, erschaffen von einem Produzenten, der es darauf abgesehen hat, unsere gefühlsbetonte Seite anzusprechen. Der Unterschied zwischen dieser Utopie und unserer realen Welt könnte größer nicht sein.
Bislang jedenfalls. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.
Pling! Die Aufzugtüren öffneten sich. Ich setzte ein neckisches Grinsen auf, als mich Raymond an der Hand packte und den Korridor entlang zu seinem Zimmer führte.
Jetzt bloß nicht unvorsichtig werden. Leichtsinn ist gefährlich, auch wenn das Spiel fast vorüber ist. Jeder noch so kleine Fehler, jede uncharakteristische Verhaltensweise oder Äußerung konnte sein Misstrauen erregen und zum Scheitern der Mission führen. Raymond wirkte zwar viel zu beschäftigt, um argwöhnisch zu werden, aber man konnte nie wissen. Ich muss immer auf Überraschungen gefasst sein, ganz gleich, wie berechenbar mein Testobjekt auch scheinen mag, muss stets hochkonzentriert bleiben, um nicht aufzufliegen.
Es ist eine Sache, wenn er einen Rückzieher macht. Aber wenn er mir auf die Schliche kommt, bin ich geliefert.
Er ließ meine Hand nur los, um seine Schlüsselkarte aus der hinteren Hosentasche zu fischen und ins elektronische Schloss zu stecken. Ich kicherte verlegen. Der erste Versuch schlug fehl – Karte verkehrt, Eintritt verwehrt. Ein rotes Licht blinkte auf. Schade, dass Raymond der symbolhafte Charakter des Augenblicks entging.
Zweiter Versuch. Jetzt blinkte ein grünes Licht. Raymond drehte den Knauf und stieß mit der Hüfte die Tür auf, dann schlang er mir den Arm um die Taille und zog mich mit sich hinein.
006
»Eine Frage noch...«, hatte Mrs. Jacobs gesagt, als ich meine Siebensachen aufsammelte.
Ich steckte das Foto ihres Mannes, das sie mir gegeben hatte, in meine Mappe und verstaute die Mappe in meiner Tasche. Dann hob ich den Kopf. »Ja?«
Ich wusste, wie die Frage lauten würde.
Sie kommt immer etwa an dieser Stelle.
Sie muss kommen, ansonsten verfolgt die Auftraggeberin die ganze Woche, wenn nicht ihr ganzes Leben lang, dasselbe verstörende Bild.
»Wie ist das mit dem... Sex?«, presste Mrs. Jacobs hervor. »Haben Sie vor... äh... mit ihm zu...« Sie verstummte, brachte es nicht über die Lippen. Konnte es vermutlich nicht einmal denken.
»Nein«, sagte ich kategorisch. Das war ein unumstößlicher Bestandteil der Mission, und genau so musste ich es präsentieren.
Sie atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank.«
Ich lächelte warm. »Mrs. Jacobs, ich versichere Ihnen, mein Test zielt ausschließlich darauf ab, Ihrem Mann die Bereitschaft zum Seitensprung nachzuweisen. Es kommt nicht zum Verkehr.«
Wieder rutschte sie unruhig auf ihrem Sessel hin und her. »Die Bereitschaft zum Seitensprung«, wiederholte sie halblaut.
»Ganz recht«, bestätigte ich und nickte nachdrücklich.
»Und was bedeutet das genau
007
Wir stolperten unbeholfen durch die extravagante Penthouse-Suite. Raymonds Lippen erkundeten meinen Mund, meinen Hals, mein Gesicht, jeden Zentimeter nackter Haut.
Als wir auf das Bett fielen, achtete ich darauf, dass ich oben zu liegen kam. Das vereinfacht den Abgang ganz beträchtlich, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Sofort landeten seine Hände auf meinen Pobacken. Ich quittierte es mit einem lustvollen Stöhnen.
Das gefiel ihm.
Das gefällt den meisten.
Er küsste mich weiter, während er mir die Kostümjacke von den Schultern streifte. Dann nahm er sich die Blusenknöpfe vor, einen nach dem anderen. Ich protestierte nicht, als er mir die Bluse auszog. Beim Anblick meines Push-up-BHs aus lavendelfarbener Spitze grunzte er beifällig. Tja, der macht auch echt was her, und er verfehlt seine Wirkung nie. Allerdings lässt mich diese Art der Anerkennung ziemlich kalt. Aber es geht in diesen Situationen schließlich nicht um mich.
Als Nächstes zog er mir den Rock aus. Darunter kam das zum BH passende Miederhöschen zum Vorschein. Ich reagierte mit einem äußerst glaubwürdigen erregten Schaudern, als er mich an den Hüften packte und die Finger in mein Fleisch vergrub.
Ich knöpfte sein Hemd auf, streichelte seine Brust. Schob ihm verführerisch das Hemd von den Schultern.
Er zitterte förmlich vor Erregung. »Gott, bist du heiß. Ich muss dich auf der Stelle haben.«
»Wirklich?«, fragte ich leise. Keusch und unsicher wie eh und je.
»Oh, ja. Du bist unglaublich sexy.«
»Gut«, flüsterte ich.
Dann rollte ich mich von ihm herunter und glitt vom Bett, um wortlos meine Kleider aufzusammeln. Ich fand meinen Rock. Rasch bückte ich mich danach.
»Was soll das?«, fragte Raymond hörbar verärgert.
»Ich gehe«, erklärte ich schlicht, stieg in meinen Rock und zog ihn hoch.
Er richtete sich schwankend auf, vermutlich wegen des Alkohols. Oder wegen der gedrosselten Blutzufuhr in der oberen Körperhälfte. Oder wegen beidem. Er griff sich an den Kopf, versuchte, den sich drehenden Raum zum Stillstand zu bringen. »Warum?« Sein Gesicht spiegelte tiefste Verwirrung.
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was er dachte. Diese Wendung kam in dem Drehbuch, das er in- und auswendig kannte, einfach nicht vor. Junge trifft Mädchen. Junge kauft Mädchen einen Drink. Junge lädt Mädchen auf sein Zimmer ein. Mädchen nimmt an. Aber dass Mädchen es sich aus unerfindlichen Gründen plötzlich anders überlegte und einfach ging, das war ihm noch nie passiert.
Ich schlüpfte in meine Bluse und knöpfte sie zu. »Weil ich genug gesehen habe.«
Mehr als genug.
Er schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«
Ich zuckte die Schultern. »Könnte man so sagen.«
Das verstörte ihn noch mehr. Wie oft hatte ich diesen Gesichtsausdruck schon gesehen. Es war die Miene eines Mannes, der im Geiste seine Schritte zurückverfolgt, versucht, ein Häufchen Puzzleteile zusammenzusetzen, die nie und nimmer zueinander passen können.
Ich schloss den letzten Blusenknopf und bückte mich, um meine Schuhe anzuziehen.
»Warte doch«, bat er leise, in der Hoffnung, mich mit seiner Verzweiflung umstimmen zu können.
Doch das konnte er sich abschminken. Ich war nicht mehr die Frau, die er unten in der Bar aufgegabelt hatte.
»Komm, setz dich. Wenn du möchtest, können wir uns noch ein bisschen über Automotoren unterhalten.« Wie nett von ihm.
Ich lächelte kühl. »Ich bin nicht die, für die Sie mich halten, Raymond.«
»Hä?« Er runzelte die Stirn, verärgert, konsterniert.
»Ich wurde von Mrs. Anne Jacobs beauftragt, Sie einem Treuetest zu unterziehen, weil sie den Verdacht hegt, Sie würden sie betrügen. Zu Recht, wie man sieht.«
Er riss die Augen auf. »Waaas?«
Jetzt kam das Bedauern.
Er raufte sich die Haare, ließ den Kopf zwischen die Knie sinken und verschränkte die Finger im Nacken. Hob noch einmal kurz den Blick und wiederholte: »Sie hat dich beauftragt
Ich sah ihm ruhig in die Augen. »Jawohl.« Ich musste jetzt völlig leidenschaftslos auftreten. Kein Mitleid, kein Erbarmen. Nichts.
Er schloss ächzend die Augen. Höchste Zeit für meinen Abgang. Aber nicht vor meiner abschließenden Amtshandlung. Ich nahm eine kleine schwarze Karte aus meiner Tasche und legte sie auf die Kommode, dann schnappte ich mir meine Jacke und ging zur Tür.
Ich hinterlasse jedes Mal eine solche Karte. Eine Art Souvenir, könnte man sagen. Nicht unbedingt als Beweis dafür, dass ich da gewesen war, sondern vielmehr als Warnung. Als Signal, dass sich etwas ändern muss.
»Warte«, hörte ich Raymond sagen. Ich registrierte aus dem Augenwinkel, wie er seine Hose aufhob, die im Eifer des Gefechts mitten auf dem Fußboden liegen geblieben war. Er zückte eine schwarze Lederbrieftasche und öffnete sie. »Was zahlt sie dir? Einen Tausender? Fünfzehnhundert? Ich gebe dir das Doppelte.«
Ich drehte mich um und sah, wie er seiner Brieftasche ungerührt einen dicken Stapel Hundertdollarnoten entnahm und sie abzuzählen begann. »Hier geht es nicht um Geld«, erwiderte ich kategorisch und setzte meinen Weg zur Tür fort.
»Es geht immer um Geld«, widersprach er verächtlich. »Wie viel willst du?«
Ich blieb stehen, überlegte einen Augenblick und wandte mich ein letztes Mal zu ihm um.
Raymond grinste triumphierend.
»Tut mir aufrichtig leid«, sagte ich. »Aber meine Loyalität kann man nicht kaufen.«
Jetzt grinste er herablassend. »Glaub mir, Schätzchen, ich kann mir alles kaufen.«
Genau in diesem Moment fiel mein Blick auf einen kleinen, glänzenden Gegenstand auf dem Teppich. Sein Ehering. Er musste ihm aus der Brusttasche gefallen sein, als wir uns vorhin so hastig unserer Kleider entledigt hatten. Ich bückte mich, hob ihn auf und legte ihn mit der Behutsamkeit eines Chirurgen bei einer Operation am offenen Herzen auf die Kommode. »Irrtum«, entgegnete ich.
Wie es danach weitergeht, entzieht sich grundsätzlich meiner Kenntnis. Meine Arbeit ist getan. Was auch immer danach geschieht, fällt nicht mehr in meinen Zuständigkeitsbereich. Meine Aufgabe ist es, festzustellen, ob der Kandidat die Absicht hat, Ehebruch zu begehen oder nicht.
Das hatte ich getan.
Jetzt war es Zeit für mich, zu gehen.
Also ging ich.
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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