23
Auf zu neuen Ufern
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Sophie?«, fragte ich. Waren wir etwa unterbrochen worden? Ich wollte die Lüge unter keinen Umständen wiederholen müssen.
Dann vernahm ich ein leises, zittriges »Er hat bestanden?«.
Ich nickte, obwohl sie mich nicht sehen konnte, in der Hoffnung, das Telefon könnte meine Gedanken übermitteln, damit ich mir weitere Lügen sparen konnte.
»Ja«, würgte ich schließlich hervor.
»Gott sei Dank!«, stieß sie mit einem Stoßseufzer der Erleichterung hervor. »Gott sei Dank.«
»Ja«, wiederholte ich, weil mir partout nichts anderes einfallen wollte.
»Wie war es? Was ist passiert? Was hast du gemacht? Was hat er gesagt?«
Ich krümmte mich. Keine Details! Ich kann unmöglich Details liefern. Es ist zu mühsam.
»Also«, setzte ich an. »Er … äh …« Ich brach ab. »Ach, weißt du, eigentlich ist es nicht weiter wichtig, was passiert ist. Wozu noch lange darüber reden? Er hat bestanden und damit basta. Vergiss die ganze Sache. Lass sie hinter dir.« Ich zwang mich zu einem matten Lachen.
Doch damit kam ich bei ihr nicht durch. »Also, hör mal, Jen, ich bin hier fast gestorben vor Angst! Ein bisschen genauer würde ich es schon gern wissen. Hat er dir gleich einen Korb gegeben oder habt ihr erst eine Weile geredet?«
Ich schnitt eine Grimasse. So schnell würde sie nicht lockerlassen. Ich beschloss, ihr eine möglichst einfache, wirkungsvolle Story aufzutischen, die jeglichen Zweifel ausräumen würde. Wenn ich mir schon etwas aus den Fingern saugen musste, dann brauchte ich mir das Leben ja nicht unnötig schwer zu machen. »Nö«, sagte ich. »Er hat mich sofort abblitzen lassen. Wollte nicht das Geringste mit mir zu tun haben.«
»Echt?«, quietschte sie begeistert. »Was hat er gesagt?«
»Also, ich hab ihn an der Bar stehen sehen – du hattest mir ja ein Foto von ihm gegeben – und bin auf ihn zugegangen, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber er meinte bloß: ›Entschuldige, aber meine Kumpels warten da drüben auf mich, und außerdem bin ich verlobt.‹«
Erneutes Schweigen am anderen Ende. »Das ist aber seltsam«, murmelte Sophie misstrauisch.
Ich ging sofort in die Defensive. »Wieso denn?«
»Na, ja, warum sollte er dir gleich auf die Nase binden, dass er verlobt ist? Er wusste doch gar nicht, warum du ihn angesprochen hast. Kommt dir das nicht komisch vor?«
Shit.
»Nein, überhaupt nicht!«, winkte ich verzweifelt ab. »Das war jetzt natürlich die verkürzte Darstellung. Klar haben wir ein, zwei Sätze gewechselt, ehe er dich erwähnt hat.«
»Oh«, sagte sie und schwieg wieder.
»Vertrau mir«, sagte ich, um die Pause zu füllen. »Ich habe weiß Gott eine Menge seltsamer Situationen erlebt, und das war definitiv keine. Klassischer Fall von total verrückt nach der Frau, mit der er zusammen ist. Er zeigte nicht das geringste Interesse daran, mit einer anderen zu reden, zu flirten, zu knutschen, heimzugehen oder sonst was. Nichts dergleichen.«
Sie seufzte. Damit hatte ich sie offenbar überzeugt.
Doch dann meinte sie: »Jetzt müssen wir nur noch überlegen, was ich Eric sagen soll.« Als wäre das der absolut logische nächste Schritt.
»Am besten gar nichts!«, stieß ich eine Spur zu schnell hervor. Das war eines der winzigen Details, über die ich mir noch keine Gedanken gemacht hatte. Tja, das perfekte Verbrechen gibt es eben nicht. Es heißt ja, dass jeder Mörder mindestens drei Fehler macht, im Eifer des Gefechts drei kleine Details übersieht.
Das wäre dann wohl eines dieser drei.
Ich hatte im Eifer des Gefechts (sprich, als ich die Entscheidung traf, mein Versprechen nicht einzulösen und meine beste Freundin anzulügen) nicht bedacht, dass sie auf die Idee kommen könnte, ihrem Verlobten von der bestandenen Prüfung zu erzählen.
»Warum denn nicht?«, wollte sie wissen. »Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich will, dass wir ehrlich zueinander sind. Und außerdem finde ich, er hat eine Belohnung verdient. Positive Verstärkung, wie es in der Verhaltensforschung so schön heißt.«
»Eric ist doch kein Hund, Sophie.« Ich wollte lachen, doch es klang eher wie ein Grunzen.
»Ich weiß, aber ich finde …«
»Es gibt überhaupt keinen Grund, ihn einzuweihen«, unterbrach ich sie.
»Warum nicht?«
Meine Gedanken rasten. »Na, denk doch mal darüber nach, Sophie. Willst du deinem Verlobten – dem Mann, der dir einen Heiratsantrag gemacht hat und der den Rest seines Lebens mit dir verbringen will – wirklich gestehen, dass du ihm nicht vertraut und deswegen eine Treuetesterin engagiert hast? Und zwar nicht irgendeine, sondern ausgerechnet deine beste Freundin! Er wird denken, du wärst nicht ganz dicht.«
Sie überlegte. »Da könntest du recht haben«, räumte sie zögernd ein.
»Natürlich habe ich recht! Im Moment bin ich nur irgendeine uninteressante Tussi, die ihn in einer Bar angesprochen hat. Und dabei sollte es auch bleiben.«
»Ja, aber was ist, wenn ich euch einander vorstelle?«
Schluck.
Gute Frage.
Das war dann wohl das übersehene Detail Nummer zwei.
»Nun …« Wieder schüttelte ich blitzschnell eine Erklärung aus dem Ärmel. »Ich bezweifle, dass er mich überhaupt wiedererkennt. Wir haben uns nur ganz kurz unterhalten, und er hatte schon einige Drinks intus.«
Bitte, Sophie, kauf es mir ab. BITTE KAUF ES MIR AB.
»Meinst du wirklich?«
Sie kaufte es mir nicht ab.
Aber so schnell gab ich nicht auf. »Jetzt mal im Ernst, Sophie«, stieß ich hervor, in einem Tonfall, der implizierte, dass ihre Bedenken lächerlich waren. Es gibt doch nichts Fieseres, als jemanden anzulügen und ihm obendrein das Gefühl zu geben, er wäre dämlich, weil er die Ausrede anzweifelt. »Wie sollte er? Es war schummrig, er war nicht mehr nüchtern, ich war bei Weitem nicht die einzige Frau in der Bar.«
Ich hielt die Luft an und wartete auf ihre Antwort.
»Stimmt«, räumte sie nachdenklich ein.
Puh.
»Aber stell dir vor, er erkennt dich trotzdem wieder? Ich will nicht, dass er von selbst dahinterkommt und sauer ist, weil ich es ihm nicht gesagt habe. Vielleicht sollte ich ihn doch einweihen. Ehrlich währt am längsten.«
»Nein!«, stieß ich hervor.
Sehr professionell.
»Nein? Du benimmst dich höchst eigenartig, Jen. Gerade du solltest doch für Ehrlichkeit in der Beziehung eintreten.«
»Ich weiß, ich weiß, aber es gibt eben Dinge, die man besser verschweigt. Vor allem vor einem Menschen, den man liebt. Ich finde, er braucht es nicht zu erfahren. Damit würdest du dir weit mehr Probleme einhandeln als deine Ehrlichkeit wert ist.«
Wieder überlegte sie. »Vielleicht hast du ja recht.«
»Und ob. Und glaub mir: Er wird mich nicht erkennen.«
Diesbezüglich war ich mir hundertprozentig sicher, selbst ohne meine mannalytischen Fähigkeiten.
 
Nachdem ich aufgelegt hatte, war ich schier überwältigt von der Stille in meinem Schlafzimmer. Ich lag in der Dunkelheit und dachte darüber nach, was ich gerade getan hatte. Was es bedeuten würde, wenn ich morgen aufwachte. Und übermorgen.
Würde ich Sophie je wieder in die Augen sehen können?
Zugegeben, es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich sie angelogen hatte. Im Grunde waren die vergangenen zwei Jahre ein einziger großer Schwindel gewesen. Aber harmlos im Vergleich zu dem hier, weil sie bislang nicht persönlich betroffen gewesen war. Diese Lüge war etwas anderes. Ich hatte versprochen, ihr Gewissheit zu verschaffen, und ich hatte versagt.
Ich hatte ihr eine möglicherweise falsche Information geliefert, und auf dieser Basis würde sie eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben beeinflussen konnte!
Mir wurde flau.
Ich zog in Erwägung, sie anzurufen und ihr die Wahrheit zu gestehen. Doch dann würde sie bestimmt sagen: »Kein Problem, dann machst du es eben morgen Abend, da geht er wieder mit seinen Kumpels aus.«
Wenn ich es allerdings vor ein paar Stunden nicht geschafft hatte, würde sich das auch über Nacht nicht ändern.
So viel also dazu.
Da lag ich nun in der Dunkelheit und versuchte, der Übelkeit Herr zu werden, die allmählich in mir aufstieg.
Genau in diesem Moment piepste etwas auf meinem Nachttisch.
Ich drehte den Kopf zur Seite, ohne den Oberkörper zu bewegen. Auf dem erleuchteten Display meines Mobiltelefons blinkte Neue E-Mail erhalten.
Nach etwa einer halben Minute kapitulierte ich und griff danach.
Ich rief das E-Mailprogramm auf und erbleichte.
In meinem Eingangsordner war eine E-Mail von Jamie.
Und in der Betreffzeile stand lediglich: Fwd.
Sofort saß ich kerzengerade im Bett. Das ist sie, dachte ich. Das ist die E-Mail, vor der ich mich seit unserem ersten Date fürchte. Seit er mich damals nach meiner E-Mailadresse gefragt hatte, um mir schreiben zu können, während er auf Geschäftsreise war. Jetzt hatte er den Link zu dieser abscheulichen Webseite erhalten, auf der ich als skrupellose Verführerin »entlarvt« wurde.
Das Herz zog sich in meiner Brust zusammen. Ich atmete tief durch und öffnete die Nachricht, auf das Schlimmste gefasst. Gleich würde ich die wohlbekannte Textzeile erblicken, gefolgt von dem unvermeidlichen »Bist Du das etwa?«, wobei die Formulierung der Frage immer etwas variierte, je nachdem, wie eng ich mit dem Absender befreundet war und für wie unwahrscheinlich er es hielt, dass die Jennifer Hunter, die er kannte, tatsächlich etwas mit dieser Farce zu tun hatte.
Das Treo war heute Abend enervierend langsam. »Nun mach schon!«, rief ich, doch auf dem Zwei-Zoll-Bildschirm rührte sich nichts. Ich schüttelte das Gerät heftig, als würde das irgendetwas nützen. Prompt färbte sich das Display schwarz.
Na, toll. Super Zeitpunkt, um abzuschmieren. Mit einem frustrierten Stöhnen warf ich das Treo auf mein Bett, sprang auf und düste zu meinem Laptop ins Arbeitszimmer.
Als ich ihn aufklappte, wartete Jamies E-Mail bereits auf mich. Ich klickte sie an. Insgeheim hoffte ich, der Computer würde abstürzen oder die Internetverbindung wäre gestört, dann müsste ich mich nicht damit auseinandersetzen.
Doch die Nachricht öffnete sich, und sogleich sprang mir die blau unterstrichene Zeile ins Auge, die weltweit als Einladung zum Anklicken und Weiterlesen gilt: der Link. Der Wegweiser auf die Webseite, die mein Ruin war.
Plötzlich begann vor meinen Augen alles zu flimmern. Ich konnte den Link nur noch undeutlich erkennen. Aber das änderte nichts; ich wusste, was mich erwartete, wusste, welche Bilder mir meine Augen geliefert hätten, wenn ich klar hätte sehen können.
Ich schaffte es irgendwie, den Cursor auf die verschwommene blaue Zeile zu dirigieren und sie anzuklicken. Mein Hirn lief bereits auf Hochtouren, dachte sich Ausreden aus, glaubwürdige Erklärungen. Eine böse Zwillingsschwester. Ein verrückter Wissenschaftler, der in der ganzen Stadt Leute geklont hatte, unter anderem mich.
Ich konnte natürlich auch behaupten, das Ganze sei ein Scherz. Jemand hat diese Domain eingerichtet, um mir einen Streich zu spielen. Kommt doch ständig vor. April, April … im Oktober.
Genau. Ich würde ganz einfach behaupten, dass …
»Pandacam?«, las ich. Das Flimmern vor meinen Augen hatte endlich nachgelassen. »Was zum Geier ist Pandacam?«
Ich blinzelte. Auf meinem Bildschirm war ein kleiner Pandabär zu sehen, der in seinem Käfig herumtapste. Ein Live-stream-Video aus dem Zoo von San Diego. Wie in Trance wechselte ich zur ursprünglichen Nachricht zurück.
Unter dem Link stand:
Ich dachte, das findest Du bestimmt süß.
Ich kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen.
Jamie.
Ich sank mit einem theatralischen Stöhnen auf meinen Schreibtischstuhl. Als wäre ich eine Geheimagentin und hätte soeben eine Atombombe entschärft, mit der Terroristen beinahe ganz L.A. ausgelöscht hätten. Es war bloß ein Link zu einem Video, das ein dämliches Pandabärenbaby im Zoo von San Diego zeigte, weiter nichts!
Unendlich erleichtert, schleppte ich mich zurück ins Schlafzimmer. Dort tappte ich im Bett nach Snuffles, drückte ihn an mich und schlummerte nach einem skeptischen letzten Blick auf mein noch immer scheintotes Handy ein.
 
Als ich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich, was zu tun war.
Ich musste mein drittes Date mit Jamie absagen.
Ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte nicht bis zum Ende meiner Tage zum Computer hetzen und nachsehen, ob mein Leben ruiniert war, wann immer mir mein Handy meldete, ich hätte eine E-Mail erhalten.
Sonst erlitt ich demnächst eine Herzattacke wegen des Links zu einem Video, das die Paarungsrituale von Koalabären zeigt. Mein Leben war offensichtlich viel zu kompliziert für eine Beziehung. Ich hatte gerade meine beste Freundin angelogen, in einer Sache, die ihr Leben nachhaltig beeinflussen würde. Ein Freund? In meiner derzeitigen Lage? Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Ich kramte in meiner Nachttischschublade nach Jamies Visitenkarte und starrte auf seine Mobiltelefonnummer, während ich mein rosa Privathandy von der Ladestation nahm. Ohne die Augen von der Nummer zu nehmen, begann ich zu wählen.
»Miss Hunter«, dröhnte es durch mein Schlafzimmer. Huch! Vor Schreck ließ ich das Telefon fallen; es landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Teppichboden. Ich hob den Kopf und erblickte Martas füllige Gestalt in der Tür.
»Marta! Sie haben mich vielleicht erschreckt«, ächzte ich und bückte mich nach meinem Razr. Die bereits eingetippten Zahlen waren wieder weg.
»Entschuldigung, Miss Hunter. Ich bin gekommen, während Sie schlafen. Ich wasche Wäsche.«
»Hervorragend«, sagte ich und griff erneut zu Jamies Karte, um die Nummer zum zweiten Mal zu wählen.
»Ist nur ein Problem«, verkündete Marta. »Keine Waschmittel mehr.«
»Tatsächlich?« Ich legte verwundert Telefon und Visitenkarte auf die Kommode. »Ich hab doch erst vorige Woche welches gekauft.«
Marta folgte mir in die Wäschekammer. In der Tat. Kein Waschmittel weit und breit. »Seltsam«, murmelte ich und sah mich suchend um. »Ich muss es vergessen haben. Dabei stand es auf meiner Einkaufsliste. Tut mir leid, ich habe im Augenblick einfach furchtbar viel um die Ohren.«
Marta nickte verständnisvoll. »Sie gehen jetzt einkaufen?«
Ich sah an mir herunter. Ich trug noch meinen Schlafanzug und verspürte wenig Lust, vor die Tür zu gehen. In ein paar Stunden musste ich mich ohnehin anziehen und mit John zum Hafen fahren, um Daniel Miller ein zweites Mal zu testen. »Nö«, winkte ich ab. »Ich gehe auf dem Nachhauseweg beim Supermarkt vorbei.«
Marta zuckte die Achseln. »Gut. Dann ich wasche nächste Woche, wenn ich wiederkomme.«
Ich folgte ihrem Blick zu dem Haufen Schmutzwäsche auf dem Boden. Da war die Bluse, die ich zu meinem Treffen mit Raymond Jacobs getragen hatte, als er versucht hatte, mich zum Sex zu überreden. Und darunter das Kostüm, in dem ich neulich bei Sarah Miller gewesen und das zweite fette Bündel Bargeld von ihr entgegengenommen hatte. Und ganz obenauf das Outfit, das ich gestern Abend angezogen hatte, um Eric zu testen.
Okay, letzteres war dann zwar nicht zum Einsatz gekommen, aber je länger ich auf den Haufen starrte, umso mehr widerte er mich an. Ich bildete mir ein, ich könnte förmlich sehen, wie sich die ekligen Bazillen selbstständig machten und über den Linoleumboden auf mich zu krochen.
Ich wich einen Schritt zurück.
»Nächste Woche erst?«, wiederholte ich wenig begeistert.
»Ja«, erwiderte sie. »Am Dienstag ich komme wieder.«
Es mag etwas albern klingen, aber dass ich jeden Morgen auf den Reset-Knopf drücken und wieder von vorn anfangen kann, verdanke ich Marta und ihren Waschkünsten. Es ist, als würde sie über Zauberkräfte verfügen, mit denen sie meine Kleider dekontaminiert, sodass ich sie zum Dinner mit meinen Freundinnen tragen kann, obwohl sie mir nur wenige Tage zuvor ein treuloser Ehemann fast vom Leib gerissen hat. Marta macht all dem Schmutz den Garaus, der im Laufe eines Arbeitstages an mir haften bleibt. Sie säubert mein Dasein von allem, das mit Betrug und anderen bösen Mächten in Verbindung steht.
Ihre Zauberkraft war mein Überlebenselixier. Ich war davon abhängig.
Und die Vorstellung, dass dieser Wäschehaufen hier noch drei weitere Tage auf dem Boden lag, würde mir nachts garantiert den Schlaf rauben.
»Also gut«, sagte ich rasch. »Dann gehe ich gleich mal zum Supermarkt und besorge neues Waschmittel.«
Marta schenkte mir ein zufriedenes Lächeln und begab sich in die Küche, um den Abwasch zu erledigen.
Ich schlüpfte in eine Jogginghose und ein Sweatshirt und machte mich auf den Weg. Nachdem ich eine neue Packung Waschpulver erstanden hatte, kehrte ich beim Coral Tree Café ein und holte mir Frühstück und einen Kaffee. Anschließend ging ich zur Bank und ließ mir den Rest von Sarah Millers Honorar auf meinem Konto gutschreiben. In den vergangenen fünf Tagen hatte ich jeweils einen Teil des Geldes eingezahlt, in unterschiedlich hohen Beträgen, um bei der Bank keine Aufmerksamkeit zu erregen. Zu guter Letzt begab ich mich noch zum Apple-Laden, weil ich ein neues Ladegerät für meinen iPod benötigte.
Bis ich wieder zu Hause eintrudelte, war es an der Zeit, mich für meinen heutigen Auftrag fertig zu machen. Den geplanten Anruf bei Jamie hatte ich nicht vergessen, sondern nur erfolgreich verdrängt.
Wie hätte ich ihn auch anrufen sollen, wenn es so viel zu tun gab, wenn Ladegeräte und Waschmittel gekauft und Unsummen Bargeld auf die Bank getragen werden mussten? Ich war nicht gewillt, mir von einem Mann meinen Tagesablauf durcheinanderbringen zu lassen. Und ich musste mich sputen – ich war in einer Stunde mit John am Hafen verabredet.
 
Als ich am vereinbarten Treffpunkt eintrudelte, war John bereits da und lief mit einem Coffee-Bean-Becher in der Hand aufgeregt vor einer großen Jacht auf und ab. Er trug eine weiße Hose, ein weißes Hemd und ein keckes blaues Halstuch.
Ich unterdrückte ein Kichern und musterte ihn ungläubig von oben bis unten. »Wie siehst du denn aus?«
Er legte den Kopf in den Nacken und trank genüsslich die letzten Tropfen seines Kaffees. Dann sah er an sich hinunter, entfernte mit spitzen Fingern einen roten Fussel von seiner Hose und schnipste ihn in die warme Meeresluft. »Hallo-ho! Das nennt sich Matrosenlook«, informierte er mich herablassend, als müsste er einem ungebildeten Teenager ein Gemälde von Renoir erklären.
Ich grinste. »Ah …«
»Na, wie sieht dein Plan aus? Wo steckt der Kerl? Was soll ich tun?«, fragte er gespannt.
Ich sah mich um. Sarah Miller hatte mir ein Foto von der Jacht ihres Mannes gegeben, aber es würde nicht einfach werden, das Boot ausfindig zu machen. Die Dinger sahen alle gleich aus. Zu dumm, dass sie mir keine Parkplatznummer oder dergleichen genannt hatte. Sagte man das überhaupt, Parkplatz? Andockzone? Anlegestelle? Ashlyn hatte bei der Begegnung mit Daniel Miller zwar behauptet, sich mit Booten auszukennen, aber mein Wissen über Häfen beschränkte sich im Großen und Ganzen auf den Song »Sitting on the dock of the bay«, und da wurde bekanntlich bloß herumgesessen und Zeit vertrödelt.
»Also, ich …«
»Ich habe mir nämlich schon was überlegt«, unterbrach mich John sogleich und pfefferte seinen leeren Becher in einen Abfalleimer.
Ich lachte. »Schieß los.«
»Okay. Also, wir zwei spazieren jetzt hier ganz lässig entlang. Ashlyn und ihr guter Freund Wallace. Und plötzlich – ›Sieh mal an, wen haben wir denn da?‹ – treffen wir Ashlyns Freund Daniel. Du sagst: ›Hey, wir kennen uns doch aus dieser Bar neulich!‹, und stellst uns vor, und dann sage ich: ›Ziemlich frisch heute. Ich hole mir mal eben einen Pulli von meinem Boot.‹ Und dann bist du dran und machst dein Ding. Wirfst den Köder aus oder was auch immer.«
Er verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.
Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht loszulachen. »Also, erstens: Wieso Wallace?«, fragte ich.
»Ich brauche doch einen Decknamen. Und Wallace klingt sehr nach Samstagnachmittag am Hafen, findest du nicht?«
»Okay, meinetwegen.« Ich ging wohlweislich nicht weiter darauf ein. »Zweitens: Die Sache mit dem Pulli ist brillant, aber ich fürchte, bei knapp dreißig Grad nicht sehr glaubwürdig.«
John winkte ab. »Dann hole ich mir eben einen Kaffee oder so. Das ist doch gehupft wie gesprungen.«
»Du meinst Jacke wie Hose?«
John runzelte die Stirn. »Wir verschwenden hier wertvolle Zeit, Jen!«
»Also gut, dann los.« Ich rechnete ernsthaft mit einem Desaster, aber inzwischen war mir das einerlei. Sarah Miller machte sich etwas vor. Auch wenn es in diesem Fall andersrum lief als sonst. Ihr Mann hatte den Test bereits bestanden, und meiner Meinung nach gehörte er nicht zu den Typen, die ihre Frauen betrügen. Aber wenn sie mir unbedingt zusätzlich zu meinem dreifachen Honorar erneut eine exorbitante Summe aufdrängen wollte, nur damit ich hierher kam und noch einmal überprüfte, was ich bereits genau wusste, dann sollte es mir nur recht sein.
John streckte mir wichtigtuerisch den Ellbogen hin und stupste mich damit in die Seite, bis ich mich bei ihm unterhakte. So schlenderten wir Arm in Arm den Holzsteg entlang und hielten Ausschau nach dem Boot auf dem Foto.
»Du siehst lächerlich aus«, zischte ich aus dem Mundwinkel.
»Ich sehe aus, als würde ich hierher gehören, zu den Reichen und Berühmten«, widersprach er. »Du dagegen siehst aus wie jemand aus dem Valley, der Diätcola aus der Dose trinkt.«
»John, wir sind hier am Hafen von Marina Del Rey und nicht auf dem Governor’s Ball. Da hinten liegt ein Obdachloser mit einem Pu-der-Bär-Plüschteddy unter dem Arm.«
John räusperte sich laut. »Wallace, meinst du wohl.«
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Er tat, als würde er es nicht bemerken. »Und ja, ganz recht, Ashlyn. Es muss dringend etwas unternommen werden gegen das Obdachlosenproblem hier. Wo sind wir denn hier, in Venice Beach?«, schnaubte er verächtlich, als fände er es schon unappetitlich, den Ortsnamen auch nur auszusprechen.
Ich kicherte in mich hinein. Dann verlangsamte ich meine Schritte. »Das ist er«, flüsterte ich John – Verzeihung, Wallace – zu und deutete auf einen Mann, der sich unweit von uns gerade über eine Reling beugte und mit einem weißen Lappen hingebungsvoll seine Jacht polierte.
John blieb wie angewurzelt stehen, als wären wir hinter einem scheuen Reh her, das beim leisesten Geräusch aufgeschreckt werden könnte. Er wirkte ganz aufgeregt.
Ich musste wieder Willen lächeln. »Entspann dich«, flüsterte ich. »Das wird ein Kinderspiel.«
John holte tief Luft, dann traten wir an das Boot heran.
»Daniel?«, tönte ich überrascht und schirmte meine Augen gegen die Sonne ab.
»Ja?« Der Mann auf dem Boot sah zu uns herunter und lächelte verlegen, als würde er sich vage an mich erinnern, wüsste aber nicht genau, wen er vor sich hatte. Ein weiteres Indiz dafür, dass ich mich auf meinen Instinkt verlassen konnte.
»Ich bin’s, Ashlyn. Wir haben uns neulich in der Bar des W Hotel kennengelernt.«
Er dachte einen Moment angestrengt nach, dann leuchteten seine Augen auf. Ding, ding, ding, Jackpot.
»Ach, ja. Die Segelbootliebhaberin«, sagte er vorsichtig, wohl in der Hoffnung, nichts durcheinandergebracht zu haben.
»Sie erinnern sich!«, rief ich theatralisch, als würde mir das unheimlich viel bedeuten.
»Natürlich.« Er kletterte zu uns auf den Steg und reichte mir die Hand.
Ich ergriff sie, dann wandte ich mich zu John um. »Daniel, das ist mein Freund …« Jetzt bloß nicht lachen, Jen. »Wallace. Wallace, Daniel.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« John schüttelte ihm eifrig die Hand.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte Daniel.
Kam es mir nur so vor, oder dauerte dieser Handschlag ungewöhnlich lange? Doch da hatte sich Daniel bereits wieder mir zugewandt.
»Na, was führt Sie denn hierher?«
»Ashlyn und ich gehen bei schönem Wetter oft hier am Hafen spazieren«, flötete John, ehe ich noch den Mund aufmachen konnte. »Sie sieht sich gern die Boote an … und ich die Leute auf den Booten.«
Ich boxte ihn in die Rippen und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Ja«, fügte ich hinzu, um seine zweideutige Bemerkung zu überspielen. »Es ist so herrlich heute, da konnten wir einfach nicht widerstehen.«
Daniel ließ den Blick über die Boote schweifen, die in der Nachmittagssonne glänzten, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder uns zu. Genauer gesagt, John, obwohl ich mir wegen seiner dunklen Sonnenbrille nicht ganz sicher war.
John ließ ihn ebenfalls nicht aus den Augen, als erhoffte er sich von der Begegnung einen lebenslangen Vorrat an Stoff für Tratsch und Klatsch. Allmählich wurde das Schweigen unangenehm, also musste ich einschreiten.
»Wallace, wolltest du uns nicht einen Kaffee holen? Ich hätte gern einen Latte macchiato, falls du gehst.«
John warf mir einen flehentlichen Blick zu. Bitte, Mami, lass mich noch ein bisschen zugucken!
»Ach, richtig«, brummelte er und gab sich keine Mühe, seine enttäuschte Miene zu verbergen, als ich kaum merklich den Kopf schüttelte. »Für Sie auch etwas, Daniel?«
Dieser lächelte freundlich. »Gern. Einen Eiskaffee bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Kommt sofort.« John kehrte ihm den Rücken zu und machte sich unverzüglich auf den Weg, nicht ohne mir im Vorbeigehen unauffällig die Zunge herauszustrecken. Ich lächelte betont höflich, dann wandte ich mich wieder Daniel zu. Höchste Zeit, zum geschäftlichen Teil überzugehen und den Test hinter mich zu bringen.
Zu meiner großen Verblüffung jedoch würdigte mich Daniel keines Blickes, sondern starrte John (alias Wallace) hinterher, der munter über die Holzplanken zum Bootshaus am Ende des Steges trabte, sodass sein blaues Halstuch im Wind flatterte.
Und da wurde es mir schlagartig klar. Endlich ergab alles einen Sinn. Dass Daniel nicht das geringste Interesse an mir zeigte. Dass seine Frau trotzdem einen zweiten Test angeordnet hatte. Weil es ihr lieber war, wenn ihr Mann sie mit einer anderen Frau betrog als … das, was sie schon lange vermutete.
Sogleich kam mir eine zündende Idee.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick«, sagte ich hastig zu Daniel. »Ich habe ganz vergessen, Wallace zu sagen, dass ich Sojamilch in meinen Kaffee haben möchte.« Damit machte ich auf dem Absatz kehrt und galoppierte hinter John her.
»Warte!«, rief ich ihm nach.
Er fuhr herum. »Was ist?«, fragte er verwirrt. »Sag bloß, er hat dir bereits einen Korb gegeben?«
Ich schüttelte atemlos den Kopf, dann tätschelte ich lächelnd seine Schulter. »Wie es aussieht, war es doch ganz gut, dass du mitgekommen bist.«
Er legte die Stirn in Falten. »Wieso?«
»Weil mir gerade etwas viel Besseres eingefallen ist.« Ich grinste ihn an, wohlwissend, dass er mir meine Bitte nicht abschlagen würde. Im Gegenteil. Das würde für ihn zweifellos das Highlight des Tages, wenn nicht gar das Highlight des Jahres werden.
 
Ich nippte an meinem Kaffee und sah zum dritten Mal auf die Uhr. Eine Dreiviertelstunde hockte ich nun schon auf dieser unbequemen Parkbank, und dass ich ganz auf der Kante sitzen musste, um vor fiesen Holzsplittern gefeit zu sein, machte das Warten auch nicht gerade angenehmer. Ich hatte einen weißen Minirock im Matrosenstil angezogen – ein letzter Versuch, Daniel Millers Aufmerksamkeit zu erregen. Tja, ich hätte genauso gut nackt aufkreuzen können.
Seine Frau konnte einem leidtun. Saß da in ihrem leeren Stepford-Haus im Topanga Canyon und klammerte sich an den Gedanken, dass es bloß der eheliche Sex war, dessen er überdrüssig geworden war, und nicht der Sex mit Frauen im Allgemeinen. Gewiss würde sie die Schuld bei sich suchen, würde denken, es läge an ihr, dass er keinen Gefallen mehr an Frauen fand. Was für ein schreckliches Gefühl das sein musste. Warum, würde sie sich fragen, war ihr das nicht schon eher aufgefallen? Damals, vor fünfzehn Jahren, beim ersten Date? Oder vor zehn Jahren, als sie vor dem Traualtar gestanden hatten? Wie konnte ein Mensch ein solches Geheimnis so lange für sich behalten?
Ich wollte mir gerade ein wenig die Beine vertreten, da sah ich John auf mich zukommen.
Als ich ihm entgegeneilte, fiel mir sofort auf, dass sein blaues Halstuch auf der anderen Seite geknotet war, und seine Frisur wirkte einen Tick zerzaust – sofern man bei John überhaupt jemals von zerzaust reden konnte.
»Und?«, fragte ich neugierig.
Er warf mir einen warnenden Blick zu, als wollte er sagen: Das ist weder der passende Ort noch der passende Zeitpunkt.
»Warte, bis wir ungestört sind«, knurrte er, wie ein Kommissar in einem Krimi aus den Vierzigerjahren, und packte mich am Ellbogen, um mich in Richtung Parkplatz zu dirigieren.
»Ach, komm schon, erzähl! Was ist passiert?«
Doch John deutete nur stumm mit dem Kopf zum Hafeneingang, also beschloss ich, ihn seinen Ruhm noch einen Moment auskosten zu lassen und mitzuspielen.
Er führte mich die Treppe hinauf und über den Parkplatz, auf dem jedes einzelne Auto fünfzigtausend Dollar und mehr wert war, und bugsierte mich zu einer großen Eiche an der Ecke, die offenbar für ein wenig natürliches Ambiente sorgen sollte.
Erst jetzt wandte er sich zu mir um und schloss die Augen, als müsste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um mir die schlimme Neuigkeit beizubringen. Ich schnaubte ungeduldig.
Er holte tief Luft. »Äh, ja … er ist schwul«, stellte er fest.
Ich lachte. »Und darum machst du so ein Theater?«
»Hey, ich arbeite eben sehr professionell. Wenn uns da unten jemand gehört hätte, wäre Daniels Ruf womöglich ruiniert. Er hat sich offenbar noch nicht geoutet … obwohl es höchste Zeit ist. Wer so küsst, der braucht sich nicht zu verstecken!«
Ich kicherte. »Du hast ihn geküsst?«
»Er hat mich geküsst«, verbesserte mich John. »Ich habe nur mitgespielt, genau wie du es mir gesagt hast. Die Initiative ging von ihm aus.«
»Im Ernst?« Ich muss zugeben, dass ich dieses filmreife Drama doch ein wenig genoss.
Er nickte stolz. »Ja. Ich habe ihm gesagt, du würdest den Kaffee holen, weil du überzeugt warst, ich würde die Bestellungen durcheinanderbringen. Also hat er mich auf sein Boot eingeladen, wir haben uns unterhalten, ein bisschen geflirtet und so weiter, und auf einmal hat er mich geküsst!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich fasse es nicht!«
»Ich auch nicht.« John legte den Kopf schief. »Ich meine, woher wusste er überhaupt, dass ich schwul bin?«
Ich starrte ihn ungläubig an. »Ist das dein Ernst?«
Er sah noch einmal an sich hinunter. »Ist es wirklich so offensichtlich?«
Ich beschloss, die Frage einfach zu ignorieren. Ich hatte weiß Gott größere Probleme.
»Wie zum Teufel soll ich das seiner Frau beibringen?«
John zuckte die Schultern und grinste mitfühlend. »Tja, meine Liebe, da bist du jetzt leider auf dich gestellt.«
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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