8
Das alte Lied
In dieser Nacht lag ich noch lange wach.
Immer wieder gingen mir Sophies Worte durch den
Kopf. Ich knipste die Nachttischlampe an und starrte auf das
Telefon. Sollte ich sie anrufen? Es war beileibe nicht der erste
Streit im Laufe unserer zwanzig Jahre währenden Freundschaft.
Trotzdem war diesmal alles anders. Zum ersten Mal zankten wir uns
nicht wegen eines geborgten Rocks oder eines vergessenen Rückrufs
oder weil eine die andere wegen eines Mannes versetzt hatte.
Sophie hatte ein äußerst heikles Thema
angeschnitten, und das rumorte noch immer in mir.
Ich sah auf mein Handy. Um diese Zeit konnte ich
sie ohnehin nicht anrufen. Und überhaupt, warum musste ich den
ersten Schritt tun? Sie verhielt sich doch genauso unvernünftig und
unsensibel, oder? Eigentlich sollte sie sich zuerst
entschuldigen.
Oder?
Ich bettete den Kopf wieder auf das Kissen und
starrte zur weißen Stuckdecke hoch. Und wie ich so dalag, in meiner
von Weiß und klaren Formen dominierten
Drei-Zimmer-Eigentumswohnung, bezahlt von meinem eigenen, hart
verdienten
Geld, entwirrte sich allmählich das Chaos in meinem Kopf, und ich
glitt unmerklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen, ich lag noch im Bett,
beschloss ich, meinen neuen Freund aus dem Sportstudio
zurückzurufen.
»Hallo, Clayton?«
»Ja?«
»Hi. Du hast mich gestern Abend angerufen. Wir
kennen uns aus dem Fitnessstudio. Ich heiße...«
»Ach, ja, hi! Wie geht’s?«
Ich lächelte. »Gut. Ziemlich viel zu tun, aber
ansonsten alles bestens.«
»Geht mir genauso. Was machst du noch gleich
beruflich?«
Ich räusperte mich und schob mir eine Haarsträhne
hinters Ohr. Das tat ich immer, wenn ich schwindelte, wie jemandem,
der sich die Mühe machte, meine Gestik etwas genauer zu studieren,
schnell auffallen würde. Mein Glück, dass bislang noch nie jemand
Anlass zu der Vermutung gehabt hatte, dass ich schwindelte.
»Investment Banking«, log ich.
»Ach, richtig.«
Ich rollte mich auf die Seite, den Ellbogen
aufgestützt. »Und wie läuft es so in der Welt der
Spielkonsolen?«
Er seufzte. »Stressig. Ich habe meinen Vorgesetzten
übrigens deinen Vorschlag von der Oregon-Trail-Neuauflage unterbreitet.«
Ich lachte. »Und? Haben sie angebissen?«
»Leider nicht. Brutal abgeschmettert.«
Ich schnipste mit den Fingern. »Schade. Na, ich
werd’s überleben.«
Jetzt lachte er. »Ein Glück. Sag mal, hast du
Mittwochabend schon was vor?«
Hatte ich nicht. Und irgendetwas sagte mir, dass es
mir gut tun würde, wenn ich mal vor die Tür kam.
Am Mittwoch herrschte zwischen Sophie und mir
nach wie vor Funkstille. Was meiner Ansicht nach rein ihre Schuld
war. Natürlich hätte auch ich zum Telefon greifen und sie anrufen
können, aber ich war noch nicht bereit, meine Niederlage
einzugestehen. Stattdessen überlegte ich, was ich zu meinem ersten
Date mit Clayton anziehen sollte.
Nachdem ich fast eine halbe Stunde in meinem
begehbaren Schrank zugebracht und den Innenarchitekten verflucht
hatte, der dieses Unding konstruiert hatte (wie zum Teufel sollte
man sich bei einer so großen Auswahl an Klamotten jemals für ein
Outfit entscheiden können?), stand meine Wahl fest: New Religion
Jeans (laut meiner Nichte Hannah zurzeit total in) und ein braunes
schulterfreies Top. Die Haare band ich mir zu einem losen, leicht
nach links versetzten Pferdeschwanz zusammen. Das würde laut
Cosmopolitan den Eindruck erwecken, ich hätte mir keine Gedanken über
meine Frisur gemacht. Hatte ich, ehrlich gesagt, auch kaum, nachdem
bei der Kleiderwahl so viel Zeit draufgegangen war.
»Ich muss zugeben«, sagte Clayton verlegen, als wir
uns kurz darauf in einem ruhigen italienischen Café in Santa Monica
gegenübersaßen, »dass mein letztes Date schon eine ganze Weile her
ist... ich war echt erleichtert, als du zugesagt hast.«
Ich nahm einen Schluck Chianti. »Tja, dann muss ich
zugeben, dass ich dir fast einen Korb gegeben hätte.«
Er grinste. »Ach, ja? Warum?«
Ich stellte mein Glas ab und zupfte an der
Serviette herum. »Also, ich habe nicht sonderlich viele
Verabredungen.«
»Ich auch nicht.« Er sah verlegen auf seinen
Schoß.
»Meine Freundinnen nerven mich deswegen schon
andauernd, also hab ich mir einen Ruck gegeben.«
Er hob sein Weinglas. »Tja, dann auf deine
Freundinnen.«
Wir prosteten einander zu. Er sah wirklich nicht
übel aus, und das lag zweifellos nicht nur am Kerzenschein.
Er trug dunkle Jeans und ein rotes Hemd, das seine
von der Sonne gebleichten blonden Haare gut zur Geltung brachte.
Bestimmt stammte er aus dem Mittleren Westen. In L.A. wimmelt es
vor Leuten aus dem Mittleren Westen, leicht erkennbar an ihren
jungenhaften Gesichtern und den gesunden, Getreidefutter-gestählten
Körpern. Leider sind die meisten von ihnen Schauspieler, die nur
darauf hoffen, der nächste Ashton Kutscher oder Chris Klein zu
werden.
Zoë nannte sie FVDKs (frisch von der
Kartoffelfarm), aber nicht einmal sie konnte sich ernsthaft über
dieses Phänomen beschweren. Das konnte niemand. Dafür waren sie zu
perfekt. Sie sahen nicht nur gut aus, sie legten obendrein ein
tadelloses, höchst liebenswürdiges Benehmen an den Tag. Jedenfalls
ehe sie sich mit der in Hollywood verbreiteten Oberflächlichkeit
und Egomanie infizierten.
Wie gut, dass Clayton nicht zu den aufstrebenden
Jungschauspielern gehörte, sondern sich der Kreation futuristischer
Welten und fiktiver Metropolen verschrieben hatte. Es bestand die
realistische Chance, dass ihm sowohl seine
charmante Persönlichkeit als auch sein
attraktives Aussehen erhalten bleiben würde.
Die Zeit verflog, während wir die zentralen Themen
eines ersten Dates abhandelten. Tee oder Kaffee, Quiznos oder
Subway, Diät-Cola oder normale Coke, Kindheitserinnerungen und
Horrorgeschichten aus der Highschool, Lieblingssendungen und
-filme.
Mit einiger Genugtuung stellte ich fest, dass ich
ihn korrekt
als FVDK eingeschätzt hatte – er war in Iowa aufgewachsen. Er
wiederum war erfreut, als er hörte, dass ich seine Begeisterung für
Karaoke teilte.
»Ich schätze, wir wissen beide, worauf dieses Date
hinauslaufen wird, oder?«
Ich grinste. »Gegenüber gibt es eine Bar, in der
man sich bis zwei Uhr morgens die Seele aus dem Leib singen
darf.«
»Die armen Nachbarn.«
Wir erhoben uns lachend. Clayton warf ein paar
Dollar-noten auf den Tisch und ergriff meine Hand, dann verließen
wir das Restaurant und rannten wie überdrehte Schulkinder auf die
andere Straßenseite, wo eine rote Leuchtschrift über einem Eingang
lockte.
Die Bar war eine richtige Spelunke. Ich war einmal
mit Sophie und Zoë hier gewesen, als wir eines Abends aus heiterem
Himmel das Bedürfnis verspürt hatten, vor wildfremden Menschen die
Hits von Britney Spears zum Besten zu geben. Ein Bedürfnis, das uns
seither – zum Glück für die wildfremden Menschen – nicht mehr
überkommen ist.
Als wir eintraten, krakeelte gerade jemand »I Love
Rock’n’ Roll«. Wir suchten uns einen Platz nahe der Bühne. Clayton
schlug unverzüglich das Buch mit den zur Auswahl stehenden Liedern
auf und überflog die Songtitel. Dann schob er mir das Buch hin.
»Weißt du was? Such du doch unser erstes Lied aus.«
»Ach, es wird also ein Duett?«
Clayton hob die Augenbrauen. »Es sei denn, du
willst dich allein auf die Bühne stellen.«
Rasch schlug ich das Buch auf. »Ich bin ein großer
Fan von Duetten.«
Er lachte. »Gut, dann entscheide dich.«
Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich mit
dem Finger die Liste entlangfuhr. »Okay, ich hab’s.« Ich deutete
auf einen Titel und dankte insgeheim den Göttern des Karaoke, dass
das Lied zur Auswahl stand.
»Was ist es denn?«
Ich drehte das Buch zu ihm herum.
»›Pour Some Sugar on Me‹?«
Ich legte die Stirn in Falten. »Magst du das
nicht?«
»Ist das dein Ernst?«
Ich nahm mir erneut das Buch vor. »Okay, okay, ich
suche ein anderes aus.«
Er riss es mir aus der Hand. »Nein! Ich liebe
diesen Song! Das ist mein Karaoke-Klassiker!«
Ich kicherte und erhob mich. »Bestens, dann lass
ich uns schon mal auf die Liste setzen.«
Zwei Stunden später konnte ich mit Fug und Recht
behaupten, das Geheimrezept für das erfolgreiche erste Date
entdeckt zu haben: Def Leppard. Nach dem dritten
Def-Leppard-Tribute (wobei die Bandmitglieder die Bezeichnung
»Tribute« vermutlich in Frage stellen würden) war sich das Publikum
einig, dass wir dringend unseren musikalischen Horizont erweitern
sollten, ehe wir wieder die Bühne betreten durften.
»Na, hast du für heute genug von Def Leppard?«,
fragte Clayton auf dem Rückweg zu unserem Tisch.
Ich schnappte mir das Songbuch. »Ja, jetzt kommt
Bon Jovi dran.«
Er lachte. »Ich weiß nicht recht. Ich bin
erledigt.«
Ich sah auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Ich zog
eine Schnute. »Jetzt schon? Es ist doch noch gar nicht spät.«
»Wir könnten ja zu mir nach Hause fahren und ein
bisschen fernsehen.« Er zuckte die Achseln, als wäre es völlig
irrelevant, wie meine Antwort lautete.
Von wegen.
Ich zuckte ebenfalls die Achseln. »Warum nicht. Du
hast nicht zufällig Family Guy?«
Er grinste selbstgefällig. »Alle fünf Staffeln auf
DVD. Du warst mir gleich sympathisch.«
Ich nickte anerkennend. Wenn ich gewollt hätte,
hätte ich vorhersagen können, dass er sämtliche Staffeln der
Comicserie auf DVD hatte – und den Film zur Serie obendrein. Aber
es verdirbt einem irgendwie den Spaß am ersten Date, wenn man in
der Lage ist, in seinem Gegenüber zu lesen wie in einem offenen
Buch. Zoë und Sophie würden in einer solchen Situation garantiert
alles geben für meine Menschenkenntnis. Mir dagegen hängt sie
mittlerweile ein bisschen zum Hals raus. Oft wäre ich gern ein
bisschen mehr wie meine Freundinnen. Ich wünsche mir, ich könnte
nicht schon beim Betreten eines Restaurants genau sagen, welche der
anwesenden Männer ihre Frauen betrügen – oder einem Seitensprung
jedenfalls nicht abgeneigt wären. Was gäbe ich darum, bei einem
Kellner bestellen zu können, ohne aus der Art und Weise, wie er
mich nach meinen Getränkewünschen fragt, gleich auf seine
Lebensgeschichte schließen zu können. Keine automatische Mannalyse,
keine Desillusionierung. Oft wäre ich gern einfach... normal.
Was natürlich ein relativer Begriff ist.
Tja, heute Abend würde ich eben so tun müssen als
ob.
Wir schafften gerade mal fünfzehn Minuten unserer
gemeinsamen Lieblings-Episode von Family
Guy, dann beugte er sich zu mir und küsste mich. Ich leistete
keinen Widerstand.
Immerhin ging er sehr behutsam vor. Eher
leidenschaftlich als ungeduldig. Kitzelte spielerisch mit der Zunge
meine Unterlippe. Nach wenigen Sekunden hatte ich mich auf seine
Art zu küssen eingestellt. Noch eine nützliche Fähigkeit, die ich
mir im Laufe der Zeit angeeignet habe.
Küssen ist ein Machtspiel. Wie Tanzen. Normalerweise führt der Mann, aber manche lassen
sich lieber führen. Ich weiß nach fünf bis zehn Sekunden küssen, ob
mein Gegenpart den Ton angeben will... und falls ja, zu wie viel
Prozent. Es ist nämlich keineswegs eine eindeutige Angelegenheit,
in der einer führt und der andere sich führen lässt. Meist ist das
Verhältnis achtzig zu zwanzig, sprich, der Mann diktiert die meiste
Zeit, was passiert, und die Frau darf zwischendurch mal an seiner
Lippe knabbern oder ihm die Zunge in den Mund stecken.
Genau deswegen ist der erste Kuss meist so ein
Gerangel, weil beide Parteien versuchen, das Verhältnis
festzulegen. Er will 80: 20, sie ist 60: 40 gewöhnt. Das sorgt
natürlich für Aufruhr. Nun bin ich zwar sehr für
Gleichberechtigung, Frauenbefreiung und so weiter, aber ich habe
mit der Zeit ein paar Dinge über den Mars und seine Bewohner
gelernt. Unter anderem, dass es beim Küssen wie beim Tango tanzen
ist: Die Frau muss sich führen lassen.
Aus diesem Grund war unser Kuss alles andere als
ein Gerangel. Er war annähernd perfekt. Schätzungsweise 55: 45. Ich
hatte gar keine Zeit, mir lange darüber Gedanken zu machen, so toll
fühlten sich seine Lippen an. Es war die Art von Kuss, bei der es
an allen möglichen Stellen zu kribbeln anfängt. Die Art von Kuss,
bei der man froh ist, wenn man sitzt, weil einem dabei die Knie
weich werden.
Ich stieß ein leises Stöhnen hervor, das keinen
Zweifel darüber aufkommen ließ, wie ich den Kuss fand. Es
signalisierte ihm, dass ich mehr wollte.
Er stöhnte ebenfalls und schob mir die Zunge etwas
tiefer in den Mund. Ich schlang ihm den Arm um den Nacken und zog
ihn näher, und als er die Hände über mein schulterfreies Top
gleiten ließ, zögernd am Bund verharrte, streckte ich aufmunternd
die Arme in die Höhe. Nun mach schon!
Schwupps,
zog er es mir aus, wobei er an meinem absichtlich schiefen
Pferdeschwanz hängen blieb, sodass dieser gleich noch ein gutes
Stück schiefer saß als geplant.
Mein Top, das damit hochoffiziell vom
schulterfreien zum oberkörperfreien Bekleidungsstück avanciert war,
landete auf dem Boden. Claytons Reaktion auf meinen trägerlosen
roten Push-up-BH entsprach exakt meinen Vorstellungen. Schließlich
hatte ich meine Garderobe ganz bewusst gewählt.
In meinem Leben gibt es keine Zufälle.
Ich tue nichts ohne Grund.
Damit ich jederzeit alles unter Kontrolle
habe.
Denn was ich vorhersehen kann, kann ich
beherrschen. Was ich berechnen kann, kann ich manipulieren.
Schließlich war Clayton nur ein Mann, wie jeder andere männliche
Erdenbewohner. Und Männer sind meine Spezialität, ganz gleich, wo
oder wann ich mein Wissen anwende.
Ich hatte bereits gewusst, dass wir in seinem
Wohnzimmer enden würden. Dass er mir das Top ausziehen würde. Und
dass er mir in den nächsten fünf Minuten die Jeans aufknöpfen und
den Reißverschluss aufziehen würde. Ich wusste auch, dass ich ihn
gewähren lassen würde.
Weil ich ein Mädchen war, das nicht besonders viele
Verabredungen hat.
Sprich, ich hatte schon lange keinen Sex mehr
gehabt.
Was wiederum bedeutete, dass ich nicht Nein sagen
würde.
Und dann hörte ich plötzlich, wie ein Schlüssel ins
Schloss gesteckt wurde. Ganz leise. Kaum wahrnehmbar. Clayton war
damit beschäftigt, meinen Bauch zu streicheln, und bemerkte es
nicht. Doch mir entging es nicht. Meiner Aufmerksamkeit entgeht
nichts. Noch eine Fähigkeit, die ich meinem Beruf verdanke.
Ich spähte zur Eingangstür, sah, wie vorsichtig der
Knauf gedreht wurde und die Tür einen Spalt aufschwang.
Clayton küsste sich gerade an meinem Bauch entlang
nach unten bis zum Hosenbund, streifte mit den Lippen über den
Jeansstoff, ohne sich der Anwesenheit einer dritten Person im Raum
bewusst zu sein. Bis sich die dritte Person, eine zierliche
Inderin, lautstark bemerkbar machte.
»Was zum Teufel machst du da?«, zeterte sie vom
Eingang her und knallte die Wohnungstür zu.
Clayton schoss hoch wie eine Rakete, die Augen vor
Schreck weit aufgerissen. »Rani? Ich... Ich dachte, du wärst mit
den Mädels in Cabo.«
»Ich wusste es! Ich wusste, dass du mir das antun
würdest, du verdammter Scheißkerl!«, schrie sie mit Tränen in den
Augen und schleuderte die Handtasche in Richtung Sofa. Ich duckte
mich, sodass sie Clayton ungebremst zwischen den Augen traf.
Das war mein nicht besonders subtiles Stichwort für
den Abgang. Ich richtete mich auf und versuchte, das Gekreische
auszublenden, während ich mein Top aufhob und es mir über den Kopf
zog.
Clayton sprang auf und streckte den Arm nach der
zerbrechlich wirkenden Gestalt aus, die nun bewegungs- und
handtaschenlos mitten im Wohnzimmer stand. »Rani, ich wollte
gerade...«
Sie wich zurück, schlug seine Hand weg. »Fass mich
nicht an! Fass mich bloß nicht an, du
Schwein!«
»Baby, es tut mir leid. Es tut mir so leid«, flehte
er.
»Ich werde dann mal...« Ich schnappte mir meine
Tasche und bewegte mich unauffällig in Richtung Tür, mit gesenktem
Kopf, um jeglichen Blickkontakt zu vermeiden.
Clayton ignorierte mich. Natürlich. Ich war jetzt
nicht mehr wichtig. Jetzt, da sie unerwartet aufgekreuzt war. Zum
Glück bin ich daran gewöhnt, binnen Sekunden in Ungnade zu fallen.
Eben noch die verführerischste Frau der Welt, und
gleich darauf... nun ja, der leibhaftige Teufel. Passiert mir im
Laufe einer normalen Arbeitswoche mindestens drei Mal. Ich habe
gelernt, es mir nicht zu Herzen zu nehmen.
Ich habe gelernt, mir vieles nicht zu Herzen zu
nehmen.
Die Auseinandersetzung verlagerte sich in die
Küche. Rani stürmte voraus, Clayton lief ihr, um Vergebung
winselnd, hinterher. Wie ein Welpe, der die Lieblingsschuhe seines
Frauchens angenagt hatte. Seine Stimme war leise und lamentierend,
die ihre laut und voller Zorn.
Ich hatte bereits die Hand auf dem Türknauf, als
ich Schritte vernahm. Jemand rannte aus der Küche zurück ins Wohnzimmer. Ich fuhr herum, sah der
jungen Inderin entgegen, die wutschnaubend auf mich zukam. Ihre
Augen funkelten gefährlich, rachsüchtig.
Ich wandte mich um, drehte den Knauf und öffnete
die Tür. Doch ehe ich mich in Sicherheit bringen konnte, landete
Ranis Hand auf der meinen. Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug
sie die Tür wieder zu. Ich erstarrte. Sah ihr ausdruckslos ins
Gesicht. Meine Gedanken rasten.
»Ashlyn«, murmelte sie, und ihre harte Miene wurde
einen Augenblick weich.
Ich lächelte unprätentiös. »Ja?«
Sie ließ die Hand sinken. Ich war frei. »Danke«,
sagte sie mit einem gequälten Seufzer.
Ich ließ den Türknauf los, der von meiner
schweißnassen Hand feucht glänzte, und drückte ihr sanft die
Schulter. »Keine Ursache.«
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und zog
die Nase hoch. »Ich hatte recht.« In ihrer Stimme schwangen
unzählige Fragen mit. Widersinnige, dringende Fragen. Fragen wie:
»Ginge es mir besser, wenn ich mich geirrt hätte?« Jeder Versuch,
sie zu beantworten, führte nur zu unnötigen Quälereien.
Ich holte tief Luft. »Wie das leider meistens der
Fall ist.«
Sie nickte und schluckte schwer. »Dann habe ich
also das Richtige getan?«
Ich reckte den Hals, um über ihren Kopf hinweg in
die Küche zu spähen, wo Clayton am Tisch saß, den Kopf zwischen den
Knien, und sich die Haare raufte. Ein Häufchen Elend.
Ich betrachtete Rani, deren dunkle Wimpern
tränennass schimmerten. In ihrem entzückenden Gesicht spiegelte
sich Verunsicherung. Sie sah aus wie eine Prinzessin aus einem
Märchen, das von weit entfernten Ländern, fremden Kulturen erzählt.
Ein Märchen ohne Happy End. Die Prinzessin war soeben mit der
unerfreulichen, schmerzhaften Realität konfrontiert worden.
Die Frage, die sie mir gestellt hatte, hörte ich
nicht zum ersten Mal. Und wie immer gab ich dieselbe Trost
spendende Antwort: »Ja, Rani. Es war richtig, mich zu
engagieren.«